Ende der Solidarität

Der militärische Amoklauf der islamistischen Fatah al-Islam stärkt die Stellung derArmee und schwächt die Palästinenser. Eindrücke aus Tripoli von markus bickel

Verzweifelt schlägt die Frau mit dem schwarzen Kopftuch die Arme über dem Kopf zusammen. »Wir müssen hier durch, wir wohnen doch hier«, ruft sie dem libanesischen Soldaten vom Beifahrersitz zu. Doch der junge Rekrut an dem provisorisch hergerichteten Checkpoint bleibt stur und fordert den Fahrer des alten orangefarbenen Peugeot zur Umkehr auf. Auf der Rückbank drängeln sich unruhig drei kleine Kinder.

Nordlibanon am Dienstag der vergangenen Woche, knapp zwei Kilometer südlich des Eingangs zur Palästinensersiedlung Nahr al-Barid: Am dritten Tag der Kämpfe zwischen libanesischen Truppen und Einheiten der militanten sunnitischen Gruppierung Fatah al-Islam ist hier kein Durchkommen mehr. In der Mitte der Autobahn versperren zwei Soldaten den Weg, rechts neben der vierspurigen Straße Richtung Syrien tummeln sich Taxifahrer und Schau­lustige um die »Green Lebanon Bakery & Pattiserie« und essen Teigtaschen. Aufgeregt laufen weitere Armeeangehörige zwischen am Straßenrand stehenden, gepanzerten Fahrzeugen umher.

Vom Dach eines unverputzten grauen Gebäudes auf der linken Straßenseite sind die hektischen Bewegungen der meist jungen Soldaten gut zu beobachten. Schon am Sonntag schlugen libanesische und ausländische Fernsehteams hier ihr Quartier auf: Die Rauchsäulen über der 30 000-Einwohner-Siedlung Nahr al-Barid sind im Hintergrund zu sehen, akustisch untermalt vom lauten Dröhnen der Artilleriegeschosse. Auch vom Meer schießt die libanesische Marine den ganzen Vormittag über auf das am Ufer gelegene Lager.

Nur selten zwischen den dumpfen Einschlägen hört man das Stakkato der Gewehre der Kämpfer von Fatah al-Islam. Das war am Sonntag und Montag noch anders. Da schaffte es die erst im vergangenen November gegründete Islamistentruppe, der Armee die heftigsten Verluste seit den Jahren des Bürgerkriegs zuzufügen. Selbst die Kämpfe zwischen sunnitischen Jihadisten und Regierungseinheiten östlich von Tripoli zum Jahreswechsel 1999/2000 wurden durch das plötzliche Aufflammen der Gewalt am Wochenende in den Schatten gestellt.

Auch wenn ein zwischen der Fatah al-Islam und der Armeeführung geschlossener Waffenstillstand eine Zeit lang anhielt und rund 14 000 Bewohnern Nahr al-Barids die Flucht ins am Nordrand von Tripoli gelegene Palästinenserlager Badawi ermöglichte, ist schon an diesem Dienstag klar, dass die Armee mit aller Macht auf einen militärischen Sieg drängt. Immer neue Militärlaster kommen die rund 15 Kilometer lange Küstenstraße zwischen Tripoli und Nahr al-Barid entlang gefahren. Ab und an sind auch weiße VW-Busse des Roten Kreuzes oder des Safad-Krankenhauses in Badawi zwischen den Lastwagen zu sehen, auf deren offenen Ladeflächen die Soldaten sitzen.

Die während des Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990 in den Kämpfen zwischen muslimischen und christlichen Milizen aufgeriebene Armee ist fest entschlossen, sich nicht erneut von nicht staatlichen Kräften spalten zu lassen. An der nördlichen Einfahrt nach Tripoli hat sie mehrere Checkpoints aufgebaut, penibel untersuchen die Soldaten die Fahrzeuge auf Waffen. Am Vorabend hat Informationsminister Ghazi Aridi angekündigt, die Fatah al-Islam zu zerschlagen und jenes »terroristische Phänomen zu beseitigen, das allen Werten und der Natur des palästinensischen Volkes widerspricht«.

Nach den am dritten Sonntag im Mai mitten in Tripoli ausgetragenen Gefechten zwischen Armeeeinheiten und mutmaßlichen Mitgliedern der Fatah-al-Islam hat sich die Stimmung in der historischen Hafenstadt am Dienstag schon merklich gegen die oft als Opfer israelischer Militärmaßnahmen in Schutz genommenen Palästinenser gewendet. Über 400 000 wohnen im Libanon, mehr als die Hälfte von ihnen in zwölf im ganzen Land verstreuten, als Lager bezeichneten Kleinstädten. Die meisten von ihnen sind Kinder und Enkel ihrer 1948 nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg in den Norden geflüchteten Eltern und Großeltern.

Für Hassan al-Khalil, der im am heftigsten von den Kämpfen betroffenen Stadtteil Zahiriyya einen Lebensmittelladen betreibt, hat die Solidarität ein Ende. »Alle Palästinenser sind Verbrecher«, sagt der kräftig gebaute Mann, der schon während des Bürgerkriegs miterlebte, wie sich die Einheiten von Jassir Arafats Fatah-Bewegung in Tripoli wie »Herren im fremden Haus« aufspielten, wie er es nennt. »Was die Armee jetzt macht, hätte sie schon vor Jahrzehnten tun sollen – die bewaffneten Palästinensergruppen zerschlagen.«

Das Abkommen von Kairo 1969 sicherte den Palästinensern völlige Bewegungsfreiheit in ihren zwölf Lagern zu, die Armee darf diese Gebiete bis heute nicht betreten. Im Frühjahr 2006 hatten die wichtigsten libanesischen Politiker die Entwaffnung der im Libanon angesiedelten palästinensischen Milizen beschlossen. Doch aus dem Plan, der von der schiitischen Hizbollah von Generalsekretär Hassan Nasrallah ebenso unterstützt wurde wie von der vom Westen unterstützten Regierung von Premierminister Fuad Siniora, wurde nichts: Der Krieg zwischen der Hizbollah und der israelischen Armee im vergangenen Sommer rückte das Thema von der politischen Tagesordnung.

Vor al-Khalils Laden steht ein Mercedes mit zersplitterter Windschutzscheibe – Spuren der Gefechte, die die bewaffneten Islamisten in ihrem letzten Rückzugsort, der Maderis-Straße von Tripoli, hinterließen. In einfachen Wohn­häusern verschanzten sie sich hier nach einem gescheiterten Banküberfall in der Nacht auf Sonntag und machten wie in Nahr al-Barid die Zivilbevölkerung zu Geiseln.

Rana Ainbi kann es noch immer nicht fassen. »Diese Männer behaupten von sich, Muslime zu sein«, schimpft die 53jährige, »dabei sind sie in Wirklichkeit nichts als Verbrecher.« Gemeinsam mit ihrem Mann Ibrahim steht sie auf dem Balkon ihrer Wohnung im Stadtviertel Zahiriyya. Die Decke ist voller Einschusslöcher, schlaff hängt die libanesische Fahne mit der grünen Zeder von der Häuserwand im vierten Stock des schlichten Wohnhauses.

Seit über 30 Jahren schon wohnt das Ehepaar hier, doch was am Wochenende passierte, haben sie nach eigenem Bekunden selbst während des Bürgerkriegs nicht erlebt: Nur zwei Etagen tiefer hielten sich mehr als 24 Stunden lang drei militante Islamisten verschanzt, von den libanesischen Behörden als Kämpfer von Fatah al-Islam bezeichnet. Erst nach stundenlangen Gefechten mit der libanesischen Armee gaben sich die selbst ernannten Gotteskrieger geschlagen. Einer der Kämpfer sprengte sich im Hausflur mit einem Bombengürtel in den Tod, die beiden anderen Kämpfer starben im Kugelhagel der Soldaten.

Zwei Tage später sind die Spuren in der Maderis-Straße noch immer nicht beseitigt. Die Wucht der Explosion des Sprengstoffs ließ im Erdgeschoss des Wohnhauses einen Treppenabsatz zerbersten, bis in die zweite Etage ist das gelb gestrichene Treppenhaus von Einschusslöchern übersät, Kabel ragen aus der Wand. Wutentbrannt kommt eine mit einem Kopftuch bekleidete Frau durch die Eingangstür gelaufen, ihren kleinen Sohn an der Hand. »Machen Muslime so etwas?« ruft sie voller Empörung. »Binden sich gläubige Menschen Sprengstoff um den Bauch?« Ihre drei älteren Söhne dienten in der libanesischen Armee, das sei der geeignete Ort für anständige Libanesen, sagt sie – »für Christen wie für Muslime«.

In drei Häusern in der von Autowerkstätten und kleinen Handwerksbetrieben gesäumten Maderis-Straße suchten die Islamisten am Wochenende Unterschlupf. Schräg gegenüber vom Wohnhaus der Ainbis fließt Wasser aus dem Eingang eines der Verstecke. Plakate mit den Fotos des vor etwas mehr als zwei Jahren ermordeten ehemaligen Premierministers Rafik Hariri und seines Sohns Saad, des sunnitischen Mehrheitsführers im Parlament, hängen neben der geöffneten Tür. Auch hier ist der Hausflur von Einschusslöchern durchsiebt. Ein Polizist befragt die Nachbarn nach den Ereignissen.

Überall auf der nur 100 Meter langen Maderis-Straße stehen an diesem Dienstag Anwohner und Arbeiter in kleinen Gruppen zusammen und reden über das, was am Wochenende passiert ist. In einem scheint man sich einig zu sein: Mit den islamistischen Kämpfern will keiner etwas zu tun haben. »Wir sind hier alle Nachbarn«, sagt Jahija Kamar ad-Diin, der gegenüber dem Wohnhaus der Ainbis eine Autowerkstatt unterhält. »Und wir unterstützen die Armee, unabhängig davon, ob wir politisch hinter der Regierung oder der Opposition stehen.«

Ad-Diins Haltung speist sich aus eigener Erfahrung: Den ganzen Bürgerkrieg über war der 1954 geborene Automechaniker selbst Soldat in seiner Heimatstadt Tripoli. Für ihn stellt die Armee das wichtigste Symbol nationaler Einheit dar, das die Republik hat. »Immer haben Kräfte von außen versucht, den Libanon zu unterwerfen – seien es die Syrer, seien es die Palästinenser«, sagt der Vater von vier Töchtern. »Damit muss endlich Schluss sein.« Auch das harsche Vorgehen der Armee im knapp 15 Kilometer nördlich von Tripoli gelegenen Palästinenserlager, wo sich rund 200 Fatah-al-Islam-Kämpfer verschanzt haben, unterstützt er rückhaltlos. »Es kann nicht sein, dass andere ihre Kriege auf unserem Boden führen.«

Die nördliche Ausfahrtsstraße aus Tripoli Richtung syrischer Grenze wird an diesem Dienstag von Checkpoints der Armee verstellt, die die durchfahrenden Autos streng kontrollieren. Den ganzen Vormittag über schallt das dumpfe Donnern der Armeeartillerie über die hügelige Landschaft. Als Ziel der Operation gaben neben Informationsminister Ghazi Aridi auch Ministerpräsident Siniora ebenso wie Verteidigungsminister Elias Murr während der Woche die Zerschlagung der al-Qaida nahe stehenden Organisation an.

An deren Spitze steht Shakir al-Absi, ein von den jordanischen Behörden wegen Mordes an dem US-Diplomaten Laurence Foley im Jahr 2002 gesuchter Palästinenser. Libanesische Sicherheitskräfte machen die Fatah al-Islam für die tödlichen Anschläge auf zwei Busse nördlich von Beirut im Februar verantwortlich. In Interviews, die al-Absi in den Wochen danach gab, stritt er die Verantwortung für die Busattentate ebenso ab wie Verbindungen seiner Organisation zu al-Qaida. Die mit der Aufklärung des Mordes an Rafik Hariri und einer Serie weiterer politischer Attentate in den vergangenen zweieinhalb Jahren betraute Sonderkommission der Vereinten Nationen (Uniiic) ermittelt auch zu diesen Anschlägen.

Befürchtungen, die verarmte, nahe der syrischen Grenze gelegene Gegend um Tripoli könne sich zum Zentrum von gewalttätigen sunnitischen Gruppen entwickeln, gibt es spätestens seit dem Abzug der syrischen Truppen im April 2005. 1986, noch während des Bürgerkriegs, schlugen die langjährigen Besatzungstruppen einen Aufstand militanter Sunniten nieder – die Gefechte vom Wochenende sind die schlimmsten seit damals. Auf etwa 600 Mitglieder wird die Zahl der streng gläubigen sunnitischen Salafiten in Tripoli geschätzt, die vor allem frommes individuelles Verhalten in den Vordergrund stellen und nicht unbedingt den bewaffneten Kampf gegen Ungläubige. Gerade aus ihren Kreisen haben sich nichtsdestotrotz in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Gruppen zum Jihad gegen die US-Armee und ihre Verbündeten in den Irak aufgemacht.

Auch die beiden so genannten Kofferbomber, die im Juli 2006 gescheiterte Anschläge auf zwei Reisezüge in Deutschland unternahmen, stammen aus Tripoli. Der Prozess gegen den im Libanon inhaftierten Jihad Hamad soll im Juni in Beirut wieder aufgenommen werden, der Prozess gegen den in Berlin einsitzenden Youssef al-Hajdib, ein Kader der Fatah al-Islam, ist ebenfalls geplant. Sein Bruder Saddam starb am Sonntag bei den Gefechten zwischen den Islamisten und libanesischen Einheiten.

Nach den schweren Kämpfen am Wochenende herrschte noch am Montag­abend Hoffnung, die Kämpfer von Fatah al-Islam würden sich politisch beugen. Doch keine zwölf Stunden später hat sich die Situation nicht nur in Nahr al-Barid dramatisch verschlechtert: Auch in Tripoli, wo am Montag die Waffen schwiegen, brechen am Dienstagvormittag erneut Kämpfe aus. Mutmaßliche Fatah-al-Islam-Mitglieder beschießen Regierungs­einheiten auf der großen Ausgehmeile Miyeten, die bereits am Sonntag Schauplatz von Gefechten war. Die von Cafés und Boutiquen gesäumte vierspurige Straße liegt nur zwei Kreuzungen von der Maderis-Straße entfernt. »Fahren Sie nicht dorthin, auf den Dächern lauern Snipers«, warnt ad-Diin.

Die Ankündigung der Regierung von Premierminister Siniora, die Fatah al-Islam zu zerschlagen, hält der Automechaniker für eine reine Absichtserklärung. »Diese Angelegenheit ist noch lange nicht erledigt«, sagt er beunruhigt, während er sich vor seinem Laden eine Zigarette anzündet. Zumal die militanten Islamisten weiter Unterstützung aus Syrien erhielten, wie er glaubt: »Die syrische Armee mag 2005 den Libanon verlassen haben, aber ihr Geheimdienst Mukhabarat ist immer noch unter uns.« Und unterstütze die in Tripoli seit Jahren stark vertretenen, mit saudi-arabischem Geld geförderten, streng religiösen salafitischen Gemeinschaften.

»Wir brauchen Assad hier genauso wenig wie die vermeintlichen muslimischen Kämpfer«, sagt auch Rana Ainbi, die inzwischen vor ihr Haus getreten ist und sich mit ein paar Nachbarn unterhält. Und trotzig wiederholt sie den Satz, der ihr wichtig ist: »Die wahren Muslime sind wir!«