Ins Land der Milchseen

Emanuele Crialese schildert in »Golden Door« die Prozedur, der sich Migranten am Ende des 19.Jahrhundert unterziehen mussten, um ins Traumland Amerika zu gelangen. von esther buss

Sizilien sieht in »Golden Door« rauer und karger aus als in jedem Film des italienischen Neorealismus. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Bauern hier überhaupt irgendetwas anbauen konnten. Es gibt nicht viel mehr als Steinhaufen, ein bisschen ausgedörrte Erde und dürres Gestrüpp. Umso überladener sind die Amerika-Phantasien des Bauern Salvatore Mancusos, der hier gegen Ende des 19.Jahrhunderts ein Leben in Armut fristet. Er träumt von meterlangen Karotten, manns­hohen Kartoffeln, mil­chigen Gewässern, von Bäumen voller Geld, das wie ein Platzregen auf ihn herunterprasselt.

Allerdings sind die Traumbilder des Schlaraf­fenlands, die Salvatore dann auch dazu bringen, das wenige Hab und Gut zu verkaufen und gemeinsam mit seiner Mutter und den beiden Söhnen nach Amerika zu gehen, kein bloßes Hirngespinst eines abergläubigen Bauerntölpels. Fotomontagen von kleinen Männern mit riesigem Gemüse waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich in Umlauf – als Teil der amerikanischen »Immigrations-Propaganda«.

Hintergrund für die italienische Auswan­derungswelle an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert war nicht nur die große Armut im eigenen Land, sondern auch der zuneh­mende Bedarf an Arbeitskräften in Amerika nach dem Ende der Sklaverei. Zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg wanderten fünf Mil­lionen Süditaliener – meist Bauern und Landbevölkerung – nach Amerika aus und dezimier­ten damit die Bevölkerung in ihrer Heimat um mehr als ein Drittel.

»Golden Door«, das ist die Tür von der Alten in die Neue Welt und der Übergang von einer archaischen, nach der Natur ausgerichteten Lebensweise zum modernen urbanen Zeitalter der »Kultur«. Der Film hört da auf, wo die meisten Auswandererfilme erst richtig anfangen, die doch immer wieder an der Idee des »Ameri­can Dream« festhalten und die mühseligen Kämpfe des kleinen Mannes in der Fremde zeigen, seine Erfolge, natürlich auch seine Rückschläge, dann endlich die Ankunft im neuen Zuhause. Der in Rom lebende Regisseur Emanuele Crialese, der mit dem Insel-Drama »Lampedusa« bekannt wurde, beschränkt sich in seinem neuen Werk auf die Vorbereitungen zum Aufbruch, die vierwöchige, strapaziöse Überfahrt auf dem Ozean sowie auf das Aufnahmeverfahren auf Ellis Island.

Die Abfahrt des Schiffs von der italienischen Hafenstadt wird als großer Einschnitt bildhaft in Szene gesetzt. Aus der Vogelperspektive blickt man auf eine Menschenmasse, die das gesamte Bild ausfüllt. Ganz langsam teilt sich die Masse, zwei Gruppen entstehen: Die einen stehen auf dem Schiffs­deck, die anderen bleiben an Land. Da­zwischen zieht sich das Meer als blasse Fläche ins Bild und lässt die beiden Seiten immer mehr voneinander wegtreiben.

Der Film zeigt den Prozess des Abstreifen der Vergangenheit und die Entwicklung einer neuen Identität nicht als psychologischen Entwicklungsvorgang, sondern vor allem als eine tiefgreifende körperliche Erfahrung. Bevor man endlich einen Blick auf das Meer werfen kann, wird der Zuschauer mit den Reisenden der unteren Klasse erst mal un­ter Deck geschickt. Die Atmosphäre ist extrem klaustrophobisch und das Schiff erscheint wie ein Ungeheuer, das man nie zu Gesicht bekommt, das durch ein einprägsames dumpfes, sehr tiefes Raunen aber ständig präsent ist. Es gibt in »Golden Door« keine einzige Totale, die das Schiff auf dem offenen Meer zeigt. Stattdessen bekommt man immer nur Ausschnitte zu sehen, abstrakte Ansichten von Rohren und Schornsteinen und immer wieder das Bild der Masse, in die das Individuum abtaucht.

Einmal gibt es einen heftigen Sturm. Man sieht eine Ansammlung durcheinander wirbelnder und sich gegenseitig zerquetschender Leiber – ein Mosaik aus Gesichtern, Armen, Beinen und Kleidung. Am nächsten Morgen kriechen die Schiffsreisenden angeschlagen ans Tageslicht wie aus einem Luftschutzbunker.

Mit der Konzentration auf sorgfältig gewählte Bildausschnitte, auf die Choreografie der Bewegungen, die immer wieder auftauchenden surrealen Phantasieszenen wirkt »Golden Door« extrem stilisiert. Durch dieses eigenwillige ästhetische Konzept, das von der großartigen Kamerafrau Agnès Godard in die Tat umgesetzt wurde – sie arbeitet u.a. auch mit Claire Denis zusammen –, entsteht eine eigentümlich verschobene Monumentalität. »Green Door« ist dennoch nicht das große Erzählepos mit klassischer Erzählstruktur und dramaturgischen Wendungen. Stattdessen bedient sich Crialese eines anti-naturalistischen Dokumentarismus, insbesondere wenn er die Geschichte der Auswanderung als das mühevolle Durchlaufen eines vorgegebenen Programms darstellt und nicht auf das spezifische Einzelschicksal seiner Protagonisten setzt. Die Figuren bleiben modellhaft, insbesondere die geheimnisvolle Engländerin Lucy (Charlotte Gainsbourg), in die sich Salvatore verliebt. Auf dem Schiff sucht sie nach einem Mann, der bereit ist, sie gleich nach der Ankunft zu heiraten, denn nur mit einem Eheversprechen im Gepäck durfte man als ledige Frau überhaupt nach Amerika einreisen.

Der Blick auf das Festland bleibt an einer Nebelwand hängen, der Übergang vom Schiff auf amerikanischen Boden ist nahtlos. Der letzte Teil von »Golden Door« beschreibt detailliert das bürokratische Aufnahmeverfahren auf Ellis Island und zeigt es als beispielhaftes biopolitisches Szenario. Auf die Registrierung folgen medizinische und psychologische Tests. Wie am Fließband werden die Immigranten auf ihre intellektuellen Fähigkeiten und ihre körperliche Konstitution geprüft (»If you are fit enough for the new world«). Haare werden durchwühlt, Zungen inspiziert, Unterleiber studiert. Auch die Intelligenz- und Geschicklichkeitstests folgen ganz den Re­geln der Eugenik, die durch die Selek­tion physischer und mentaler Charakteristika auf die Perfektionierung des Sozialkörpers abzielt. Auf Lucys Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Tests, lautet die Antwort dann auch, dass Intelligenz und Minderbegabung vererbbar seien und damit den Status einer an­steckenden Krankheit hätten.

Die Intelligenztests sind ganz auf die Landbevölkerung zugeschnitten. So geht es in einer Rechenaufgabe darum, die Beine einer Ziege, eines Hahns und eines Schweins zusammenzuzählen. Sal­vatore wird gefragt, welchen Sack er über Bord werfen würde, wenn er mit einem Boot allein auf See wäre – einen Sack Brot oder einen Sack Gold? Mit den Konventionen dieser Art von Fragen nicht vertraut, antwortet er, er würde gar keinen der beiden Säcke ins Meer werfen, er könne doch beide gut gebrauchen.

Für ledige Frauen findet das Aufnahmeverfahren in der streng ritualisierten Heiratsvermittlung seinen grotesken Ab­schluss – ein Heiratsmarkt, auf dem sie sich von wildfremden Männern aussuchen lassen, wollen sie nicht wieder abgeschoben werden. Lucy hat Glück. Salvatore erklärt sich gerne zu der Aufgabe bereit. Seine starrköpfige Mutter, die als schwachsinnig eingestuft wird, und sein stummer Sohn dürfen die »Goldene Tür« allerdings nicht passieren. Vor dem Hintergrund dieses biologistischen Selektionsverfahrens kam die Quarantäneinsel auch zu ihrem fast romantisch anmutenden Namen: die Einwanderer nannten Ellis Island »Träneninsel«.

Golden Door (Italien/Frankreich/Deutschland 2006). Regie: Emanuele Crialese. Darsteller: Vincenzo Amato, Charlotte Gainsbourg, Aurora Quattrochi. Kinostart: 31. Mai