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Amartya Sen wendet sich in seinem neuen Buch »Die Identitätsfalle« gegen die These vom »Kampf der Kulturen«. von andreas fanizadeh

Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat Amartya Sen eine Reihe von Vorträgen an der Universität von Boston gehalten. Unter dem Eindruck einer global eskalierenden Auseinandersetzung zwischen »dem« Wes­ten und »der« islamischen Welt wand­te sich der Nobelpreisträger gegen die weit verbreitete These vom »Krieg der Kulturen«. Wer Menschen nach einigen wenigen kulturellen, religiösen und na­tio­na­listischen Herkunftsmustern deute, so der Wirtschaftswissenschaftler, schüre globale Konflikte.

Mit einer solchen »solitaristischen Deutung« der menschlichen Identität würde man nämlich »mit ziemlicher Sicherheit« fast jeden Menschen auf der Welt missverstehen: »Im normalen Leben begreifen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen. Eine Person kann gänzlich wider­spruchs­frei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazz­musikerin und der tiefen Über­zeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verstän­digen muss (vorzugsweise auf Englisch).« Klingt einleuchtend. Dennoch scheint die Herkunft nach tradierter Nationalkultur und Religion derzeit alle anderen Zuordnungsmuster zu dominieren.

Sens 2001/02 in Boston gehaltene Reden sind soeben in einem Band mit dem Titel »Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt« erschienen. Er hat seine Vorträge vor den künftigen Eliten der USA gehalten. Sie können als ein Grundkurs für professionelle Meinungsmacher gelten. Auch wer bislang Dekons­truktions- und Postkolonialtheo­rien, Antonio Negri, Étienne Balibar oder Stuart Hall verpasst hat, kann ­bequem zusteigen. Sen geht es um die politischen ­Implikationen verschiedener Welt­anschau­ungen, weniger um eine systematische theoretisch-akademische Abhandlung. Seine Polemik ist gegen eine kulturalistisch-religiös-nationalistische Weltsicht gerichtet, die er – quer durch alle politischen Lager – für eine ernsthafte Bedrohung hält.

Die Texte wurden beeinflusst von den Er­eignissen des 11. September 2001 und der massiv betriebenen Ethnisierung des So­zia­len. Abstammungs- und Kulturkreistheorien haben Konjunktur, auch wenn ihre In­terpretationen große Desaster anrichten können. Sen macht diese oberflächlich-naturalistischen Perspektiven auch für das gegenwärtige Elend im Mittleren Osten verantwortlich. So seien im Irak (wie auch in Afghanistan) nach der Zerschlagung herrschender Diktaturen abermals konservative und religiöse Instanzen vom Westen aufgewertet und inthronisiert wor­den. Religion mit Reli­gion zu bekämpfen, das ist eine Tendenz, die auch in den westlichen Gesellschaften selbst zu spüren ist. »Dass man versucht, mit dem Terrorismus fertig zu werden, indem man die Religion zu Hilfe ruft, hat in Großbritannien und den USA dazu geführt, das Gewicht islamischer Geistlicher und anderer Mitglieder des religiösen Establishments in Fragen, die nicht zum Bereich der Religion gehören, zu stärken.«

Die Reduzierung von Menschen auf eine einzige und überhöhte Herkunfts­identität ist seiner Ansicht nach verantwortlich für Nationalismus und terroris­tische Kriege. »Wenn ich vor der Wahl stünde, entweder mein Land oder meinen Freund zu verraten, hoffe ich, dass ich den Mut hätte, mein Land zu verraten«, zitiert er dem entgegen den wie aus einer fernen Zeit klingenden englischen Schriftsteller Edward Morgan Forster. Das Individuum sei frei genug, seine Identität und Gemeinschaft gegen herr­schende Zwänge selbst zu bestimmen. Damit negiert der Autor nicht jegliche Bedeutung von Religion oder Nationalkultur für die Identität eines Menschen. Er betont nur die schlichte Tatsache, dass der Mensch niemals auf diese – quasi biologisch – ­festgelegt sei. Das Gleiche gelte auch für andere ­Zuordnungsschemata wie Klasse, Geschlecht etc. Wer dies beachte, komme auch nicht auf den Gedanken, die Gewalt in Irak, Afghanistan oder Palästina in die Nähe eines naturhaft muslimischen Wesenszugs zu rücken, wie es viele westliche Berichterstatter tun.

In zahlreichen Beispielen verweist Sen darauf, welch negative Auswirkungen verengte kulturalistische Volksmythologien in der Geschichte hatten. Seine Reden regen zum Nachdenken über solche Denkweisen an. Einschränkend muss aber angefügt werden, dass, so sym­pathisch diese Absicht auch sein mag, sie theoretisch-methodisch keineswegs überzeugen kann. Es bleibt bei manchmal sich wiederholenden Streitschriften.

Sen geht mit seiner Kritik über den in den vergangenen Jahren so erfolgreich propagierten Multikulturbegriff der Linken hinaus. Dieser erwies sich im Kern als autoritärer Multi-Volks-Kulturbegriff, der alle sich nicht ethnizistisch oder religiös begreifenden Identitäten in den Hintergrund drängte. Für Sen ist es keine Frage, dass zugewanderte Minderheiten im Westen auch ihre tradierten Religionen ausüben können. Aber: »Soll man deshalb um der kul­turellen Vielfalt willen für einen kulturellen Konservatismus eintreten und die Menschen auffordern, an ihrer kulturellen Herkunft festzuhalten und nicht einmal versuchsweise zu erwägen, zu einer anderen Lebensweise zu wechseln, auch dann nicht, wenn es gute Gründe dafür gibt?«

Gerade auch die Islam-Integrations-Konferenzen in Europa laufen Gefahr, soziale Probleme religiös und ethnizistisch umzuformulieren. Aufwertung und Zugang findet hier, wer sich ethnizistisch-religiös gebärdet. Das Gros der aufgeklärten und nicht konservativ orga­nisierten Migrantinnen und Migranten hat hingegen oftmals keine Vertretung und müsse sich erst wieder zu ihrer alten Religion und Nation bekennen, um Gehör zu finden. Und das kann doch wohl kaum gewünscht sein.

Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. C.H. Beck, München 2007, 207 S., 19,90 Euro