Die Logik der Despotie

Die kurdischen Sicherheitskräfte im Nordirak konnten bislang Terroranschläge meist verhindern. Doch ihre allgegenwärtige Präsenz schränkt die Freiheit ein. von thomas uwer, suleymania

Auf dem Markt von Suleymania ist die Verkehrssprache Arabisch, morgens um sieben jedenfalls. Dann stehen an den schmutzigen Seitenstraßen Araber in langen Schlangen und bieten ihre Ware feil: Arbeitskraft. Die Arbeit wird schlecht bezahlt und ist oft gefährlich. Et­liche tausend Araber, die aus dem Zentrum und dem Süden des Irak geflohen sind, leben in der kurdischen Stadt. Dazu kommen die vielen Kurden, die mitunter seit Jahrzehnten in Städten mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung gelebt haben und nun mangels Alternative in ihre vermeintliche Heimat zurückkehren. Es sind jene, die nicht über das Geld und die alten Verbindungen verfügen, um einen sicheren Unterschlupf im baa’thistischen Syrien zu finden. Die klassische Fluchtroute der Schutzlosen und Armen führt seit jeher nach Norden oder über die östliche Grenze in den Iran.

Die Ärmsten unter ihnen schlafen in Rohbauten, Parks oder teilen sich mit anderen einen Raum in einem heruntergekommenen Hotel. Fast ausschließlich junge Männer versuchen auf diese Weise, dem Terror und der Alternative, der Rekrutierung durch einen Milizverband, zu entgehen. Denn nicht nur begrenzte Sicherheit, sondern auch Einkommen bieten die bewaffneten Verbände im arabischen Irak. Und eben jene »starke Hand«, nach der sich einer verbreiteten Lesart zufolge die Iraker so sehr sehnen.

Tatsächlich haben die großen schiitischen Verbände im Süden und die sunnitischen Stammesorganisationen im Zentralirak mittlerweile mehr oder weniger großflächig die Kontrolle über die zuvor von vielen kleinen, lokal organisierten Milizen beherrschten Gebiete übernommen. Das noch vor einem Jahr unüberschaubare Mosaik der vielen religiös, ethnisch, regionalistisch oder einfach nur kriminell motivierten Gruppen ist auf eine kleine Zahl um Vormacht ringender Verbände zusammengeschrumpft, die auch die politische Kontrolle ausüben. Das Problem des Irak ist nicht das Chaos als Folge fehlender Staatlichkeit und unzureichender Kontrolle, sondern der Mangel an Freiheit.

Das bekommen auch die arabischen Männer in Suleymania zu spüren. Tagtäglich werden sie von kurdischen Sicherheitskräften kontrolliert und vom Markt vertrieben. Wer in der kurdischen Autonomieregion leben und arbeiten will, benötigt eine Erlaubnis der Verwaltung. Sie zu beantragen, löst eine endlose Kette behördlicher Vorgänge aus und nicht zuletzt die Überprüfung durch den unbeliebten Sicherheitsdienst Asaish, der über die Niederlassungsrechte, den Aufenthalt und die Arbeitsmöglichkeiten entscheidet.

Das ist in anderen Teilen des Irak nicht anders. Wo immer sich Iraker niederlassen möchten, müssen sie sich mit den lokal Herrschenden arrangieren. Es ist das alte Elend der orientalischen Despotie, dass der Staat keine Bürger, sondern nur Untertanen kennt, die wiederum den Kontakt mit den Behörden möglichst vermeiden, aus Angst, eine unüberschaubare Kette hoheitlicher Handlungen auszulösen, deren Ende niemand kennt. Weit vom systematischen Terror des baa’thistischen Regimes entfernt, lebt in den lokalen Verwaltungen doch jene auf Unfreiheit und Angst fußende Logik der Despotie weiter und steht, vielleicht noch mehr als der Terror der Islamisten, der Freiheit im Wege.

Dass beide Entwicklungen eng miteinander verknüpft sind, zeigt sich im Nord­irak. Die Angst der Behörden vor einem Übergreifen des Terrors auf die kurdische Autonomieregion ist durchaus begründet. Die weitgehende Sicherheit ist nicht zuletzt dem dichten Kontrollnetz und der steten Präsenz des Sicherheitsdienstes zu verdanken.

Mit der Vertreibung der irakischen al-Qaida aus dem arabischen Zentralirak fliehen auch deren Kämpfer immer zahlreicher in die nördlichen Provinzen. Vor wenigen Wochen wurde ein Sprengstofflager der Ansar al-Islam in Suley­mania entdeckt, vergangene Woche ein mit Sprengstoff präparierter Lastwagen auf dem Weg nach Suleymania gestoppt. In New Halabja konnte eine im überfüllten Busbahnhof deponierte Bombe in letzter Sekunde entschärft werden.

Der kurdische Sicherheitsapparat funktioniert. Die damit zusammenhängende extreme Kontrolldichte, die ausufernde Verwaltung, Behördenwillkür und Machtkonzentration bedrohen zunehmend aber nicht nur die Freiheit, sondern sukzessive auch die Sicherheit der Menschen.

In mindestens drei Provinzen, der Ninive-Ebene östlich von Mosul, der Region Kirkuk sowie dem Gebiet um Khanakhin, beansprucht die kurdische Regionalregierung immer offensiver die Hoheit. In diesen Regionen üben kurdische Armeeeinheiten, gemeinsam mit US-amerikanischen und irakischen Truppen, bereits die Kontrolle aus. Die kurdischen Hegemonieansprüche indes wurden mit Rücksicht auf die prekäre Sicherheitslage bislang mühevoll eingedämmt.

Nun soll in einem für Ende des Jahres in Kirkuk geplanten Referendum darüber abgestimmt werden, ob diese Provinz künftig zur kurdischen Autonomieregion zählen soll. Zweifellos wird die kurdische Mehrheit dem zustimmen, doch fürchten die dort lebenden Turkmenen, die etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und die Araber, in einer vollständig unter kurdischer Hoheit stehenden Provinz gänzlich an den Rand gedrängt zu werden. Entsprechend spitzt sich die Lage mit jedem Tag, den das Referendum näherrückt, wei­ter zu. Gerüchte kursieren, denen zu­folge kurdische Sicherheitskräfte arabische Familien vertreiben. Schiitische und sunnitische Islamisten rufen derweil zum Jihad gegen die kurdische Verwaltung auf.

Über die Zukunft der drei Provinzen wird auch in Bagdad gestritten, die im Parlament vertretenen sunnitischen Parteien wollen die in der Verfassung geregelten Autonomierechte der Provinzen einschränken. Nicht grundlos fürchten sie eine eigenständige Verwaltung der nördlichen und südlichen Landesteile, denn der Zentralirak verfügt weder über fossile noch über andere Ressourcen, sieht man einmal von Datteln ab. Ohne die Garantie einer Teilhabe am Reichtum der anderen Landesteile bliebe dem Zentralirak tatsächlich wenig mehr als eine denkbar unattraktive Wüste.

Zu den sunnitischen Parteien hat sich der islamistische Milizenführer Muqtada al-Sadr gesellt. In der von schiitischem Islam und arabischem Nationalismus geprägten Feindvorstellung seiner Bewegung haben die Kurden neuerdings einen gesonderten Platz gleich neben den Amerikanern eingenommen. Kämpfer ­Sadrs, die das Innenministerium teilweise kontrollieren, haben vergangene Woche eine der irakischen Armee unterstellte kurdische Einheit angegriffen. In Kirkuk und Khanakhin sind es zunehmend schiitische Islamisten, die mit Sprengstoffanschlägen und gezielten Morden Terror ausüben.

Solange Gestalten wie Muqtada al-Sadr sich weiter als »starker Mann« aufführen, werden Menschen in den Nordirak fliehen. Was sie suchen, ist kein starker Staat, sondern eben die Freiheit vor der »eisernen Faust«, die sie wahlweise unter eine islamische oder panarabische Herrschaft zwingt. Man hört sie immer wieder auch von Saddam Hussein sprechen. Der Grund ist einfach: Flüche werden schnell als Beleidigung empfunden und lösen Ärger aus. Wer trotzdem laut fluchen will, hängt einfach Saddams Namen hinten an. »Fuck, Saddam!« ist beispielsweise sehr beliebt.