Marsch durch die Instanzen

Das Bundesverfassungsgericht hob ein Urteil gegen den Gießener Jörg Bergstedt auf und erklärte damit eine Anweisung des hessischen Innenministers für ungerechtfertigt. von jens herrmann

Außerhalb Hessens mag es Menschen geben, die noch nichts von Jörg Bergstedt gehört haben. In der Umgebung von Gießen ist dies undenkbar. Das Wirkungsfeld des 42jährigen im engeren Sinne ist die »Projektwerkstatt Saasen«, wo er lebt und Politik betreibt, im weiteren Sinne alles, was die Gelegenheit bietet, sich mit der deutschen Justiz anzulegen.

Dabei brachte er es sogar bis vors Verfassungsgericht und dieses auf seine Seite. Das höchste Gericht urteilte vor wenigen Tagen, es sei am 11. Januar 2003 in Gießen zu einem »rechtswidrigen Polizeiangriff« gegen Bergstedt gekommen, und vom Amtsgericht bis zum Oberlandesgericht hätten alle Ins­tanzen falsch geurteilt. Weil Bergstedt sich gegen seine Festnahme gewehrt hatte, sollte er für acht Monate ins Gefängnis.

Was die Sache pikant macht: Das Verfassungsgericht stellt explizit heraus, das der Polizeiangriff auf Anweisung des hessischen Innenministers Volker Bouffier (CDU) erfolgte. Dieser hatte sich am 11. Januar 2003, so schreiben die obersten deutschen Richter, mit einer Spontandemonstration von Unterstützerinnen und Unterstützern der »Projektwerkstatt Saasen« an seinem Wahlkampfstand in Gießen konfrontiert gesehen. Der Minister habe dem anwesenden Polizeipräsidenten die Weisung gegeben, sich »das« nicht bieten zu lassen – gemeint war die Protestaktion. Die Ordnungshüter leisteten der Anweisung eifrig Folge und rissen Bergstedt, der den Zug mit einem Megafon anführte, aus der Demons­tration heraus, um ihn in Gewahrsam zu nehmen. Als sie ihn in einen Einsatzwagen bugsieren wollten, soll er angeblich einem Polizeibeamten gegen den Kopf getreten haben.

Die Gießener Richterin Gertraud Brühl betrachtete den Sachverhalt für »einfach gelagert«, trotz der 13 Anklagepunkte gegen Bergstedt, und die höheren Instanzen folgten ihrer Argumentation. Wegen schwerer Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte lautete das Urteil auf sechs Monate Haft ohne Bewährung. Die Verfassungsrichter sahen dagegen Bergstedts Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt und betrachteten seinen Widerstand gegen einen solchen schweren Rechtsverstoß als nicht strafbar. Die Gefängnisstrafe von insgesamt acht Monaten aus dem Urteil des Landgerichts bleibt Bergstedt somit vorerst erspart, und das Landgericht muss den Fall neu verhandeln.

In ihrer Begründung verwiesen die Karlsruher Richter auf frühere Urteile. Da friedlich demonstriert worden sei, habe es keine rechtliche Grundlage gegeben, die Demonstration aufzulösen. Eine solche formelle Auflösung habe im betreffenden Fall auch gar nicht stattgefunden. Vielmehr habe die Aktion der Polizei auf die spontane Zerschlagung der Demonstration gezielt. Weiterhin sei es rechtswidrig von den Beamten gewesen zu versuchen, des Megafons habhaft zu werden. Denn das Interesse der CDU-Mitglieder, an ihrem Wahlstand nicht durch eine zehnminütige Rede der Demons­trierenden belästigt zu werden, sei »nicht höherrangig einzustufen als das Recht auf freie Versammlung«.

Die Gießener Polizei gibt sich nach dem Karlsruher Urteil gelassen. Polizeisprecher Gerald Frost erklärte der Jungle World, konkret zuständig für eine Überprüfung des Falls sei noch niemand, aber man werde »das Urteil besprechen«. Auch der Vizepräsident des Gießener Landgerichts, Wilhelm Wolf, sieht in dem Urteil »nichts wirklich Dramatisches«. Es entspreche dem »Alltag in einem Rechtsstaat«. Der hessische Innenminister schweigt hingegen zu dem Urteil, und seine Gießener Parteikollegen sind seit Tagen »im Urlaub«. Von einer »schallenden Ohrfeige für den Innenminister« sprach hingegen die Gießener Linkspartei.

Jörg Bergstedt sieht seine Inanspruchnahme des höchsten deutschen Gerichts als »taktischen Umgang« und sagte: »Frei ’rumlaufen ist besser für die Kritik, als im Knast zu sitzen.«