Merkels Visionen

Der G8-Gipfel war ein Erfolg für die Bundeskanzlerin. Angesichts ihres angeblichen Sieges über George W. Bush mag kaum jemand darüber sprechen, dass die Beschlüsse nicht zum Klimaschutz beitragen. von jörn schulz

Früher war es Priestern und Propheten vorbehalten, Visionen zu haben. Während man bei gewöhnlichen Menschen von einer Halluzination gesprochen hätte, wurde jenen die Fähigkeit zuerkannt, aus einer übernatürlichen Eingebung eine Weisheit zu schöpfen oder die Zukunft vorherzusagen.

Derzeit sind es häufig die Priester und Propheten des Kapitalismus, die Politiker, die durch Visionen erleuchtet werden. Sie haben sogar kollektive Visionen, wenn sie beieinander hocken. »Wir haben gemeinsam eine langfristige Vision und sind uns darin einig, dass Rahmenstrukturen geschaffen werden müssen, die eine Beschleunigung der Maßnahmen im nächsten Jahrzehnt bewirken«, vermerkt die gemeinsame Erklärung der Gipfelteilnehmer zum Klimaschutz.

Auch ohne visionäre Fähigkeiten lässt sich vorhersagen, dass dieser Beschluss nicht zur Begrenzung des globalen Erwärmung beitragen wird. Mit dem Bekenntnis, dass eine »Beschleunigung der Maßnahmen« erforderlich ist, und der Absichtserklärung, sie wollten »die weltweiten Emissionen von Treibhausgasen verlangsamen, stabilisieren und schließlich erheblich verringern«, gestehen die Regierungen der G8 indirekt ein, dass bislang noch nichts geschehen ist.

Es ist nicht so, dass die Gipfelbeschlüsse sich in allgemeinen Phrasen erschöpfen. Die Teilnehmer können sich auch präziser ausdrücken, etwa wenn sie feststellen: »In den kommenden 25 Jahren werden fossile Brennstoffe die weltweit wichtigste Energiequelle bleiben.« Das ist ihnen wohl nicht in einer Vision offenbart, sondern von den Lobbyisten der Energiekonzerne ans Herz gelegt worden. Oder wenn es darum geht, »die Diversifizierung verschiedener Vertragsarten, einschließlich marktorientierter langfristiger und Spot-Verträge zu erleichtern, Investitionen in Upstream- und Down­stream-Assets international zu fördern«, was am Ende bedeutet, dass der Handel mit Energie erleichtert werden soll. Fast ausschließlich »markt­orien­tierte Mechanismen, darunter Emissionshandel, steuerliche Anreize« sollen die globale Erwärmung bremsen. Doch ohne Staat kein Markt, deshalb wer­den die wirtschaftsliberalen Visionen durch dirigis­tische Forderungen ergänzt.

Insbesondere auf den »Schutz des geistigen Eigentums« legen die Regierungen der G8 wert, obwohl offensichtlich ist, dass eine strenge Anwendung des Patentrechts die ohnehin geringen Chancen, den Klimawandel mit kapitalistischen Maßnahmen zu begrenzen, weiter mindert. Es soll ja vor allem die »technologische Innovation«, also beispielsweise die Minderung des Benzinverbrauchs bei Autos, die Emissionen senken. Statt nun wenigstens einen globalen Transfer von Umweltschutztechnologien zu organisieren, beanspruchen sie ein zeitlich unbegrenztes Nutzungsmonopol für die Erfindungen ihrer Konzerne.

Denn nur der technologische Vorsprung kann die ökonomische Dominanz der G8-Staaten, die derzeit noch knapp zwei Drittel des globalen Bruttosozialprodukts kontrollieren, eventuell erhalten. Wenn die Regierungen der G8 »bei der Bekämpfung des Klimawandels eine starke Führungsrolle« beanspruchen, bedeutet das, dass sie mittels des Patentrechts die Umweltschutztechnologien, einen Wirtschaftszweig mit enormem Wachstumspotenzial, monopolisieren wollen.

»Führung« war das eigentliche Thema des Gipfels. Das Treffen ist eine anachronistische Veranstaltung geworden, denn ohne »Schwellenländern« wie Indien und China, die längst über die Schwelle getreten und einflussreiche global players geworden sind, können eigentlich keine relevanten Beschlüsse mehr gefasst werden. Umso höher bewerten die meisten deutschen Kommentatoren die diplomatischen Leistungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel.

»Da mögen Umweltschützer und Oppositionspolitiker noch so sehr am Klimakompromiss des G8-Gipfels herummäkeln, Merkel hat ihr Ansehen auf internationaler Bühne erneut gemehrt«, stellt das Handelsblatt fest. Die Süddeutsche Zeitung freut sich über »den Tag, an dem der US-Präsident die Macht eines konsequent einig agierenden Europas zu spüren bekam«. Zu erörtern, ob Präsident ­George W. Bush womöglich nicht von ihrem Charme und Verhandlunggeschick überwältigt wurde, sondern schlicht die im Interesse der US-Wirtschaft notwendigen Änderungen in der Klimapolitik (Jungle World, 22/06) bekannt gegeben hat, erschien angesichts der Genugtuung über ihren Sieg wohl als geradezu unpatriotisch.

Doch das neue deutsche Sommermärchen wird auch von ausländischen Zeitungen erzählt, der britische Observer und die französische Zeitung Le Monde loben Merkels Verhandlungsführung, versäumen jedoch nicht, auf den wichtigen Beitrag Tony Blairs bzw. Nicolas Sarkozys zur Bändigung Bushs zu verweisen.

Tatsächlich hat die Kanzlerin recht geschickt Führung simuliert, wobei ihr zugute kam, dass die Ansprüche nicht allzu hoch waren. Denn auch die meisten Kommentatoren, die lobbyistischen NGO und ein Teil der Protestierenden wollen nicht mehr als die von Merkel geforderte »Globalisierung mit menschlichem Gesicht«. Nur das Gesicht von Bush soll es nicht sein.

Spätestens seit dem Treffen im britischen Gleneagles ist die medienwirksame Inszenierung der G8 als einer Gruppe von Regierungen, die das Gute wollen, es nur leider nicht immer verwirklichen können, mindestens ebenso wichtig wie die informelle Absprache über wirtschaft­liche und politische Themen. Eine pseudokritische Öffentlichkeit, die mahnt, bittet und drängelt, ist dabei durchaus erwünscht. Denn sie bestätigt die Regierenden in ihrer Führungsrolle und erneuert ihren Auftrag, die Globalisierung zu lenken.

Möglicherweise haben die europäischen Regierungen sogar einen dauerhafteren ideologischen Sieg errungen. Von ihrer vermeintlichen Machtlosigkeit gegenüber den Kräften der Globalisierung ist derzeit kaum noch die Rede. Führung erscheint wieder als möglich. Diese Renaissance des Nationalstaats befürworten viele Globalisierungskritiker, auch wenn sie mit den Ergebnissen nicht zufrieden sind. »Die G8 hätte mit ehrgeizigen Verpflichtungen zeigen können, dass sie in der Lage ist, Verantwortung und Vorreiterschaft zu übernehmen«, kommentierte Greenpeace die Beschlüsse zum Klimaschutz. Erfreulich sei jedoch, dass die Welt »klar sehen kann, dass sich die USA verbindlichen Reduktionszielen weiter verweigern«.

Angesichts solcher Äußerungen erscheint es erstaunlich, dass die härteste Polizeiaktion nicht die Autonomen traf, sondern Greenpeace.Ihre Schlauchboote drangen in die Sicherheitszone ein, nach vorheriger Ankündigung, wie die Umweltschutzorganisation betont. Sie wurden gezielt überfahren, mit dem Risiko, dass Menschen von der Schiffsschraube zerfetzt werden. Rotes Blut auf weißer Gischt, herumfliegende Körper- und Gehirnteile – das wären nicht unbedingt die Bilder gewesen, die Merkel sich wünschte.

Möglicherweise wurden die Polizisten zur See nur vom Jagdfieber ergriffen. Doch zur Stärkung des Nationalstaats gehört auch die Stärkung seiner innenpolitischen Deutungsmacht. Was legitimer Protest ist, wo und wie er stattzufinden hat, bestimmt die Regierung. Vielleicht sollte vor der Küste Heiligendamms verdeutlicht werden, dass alle, auch politisch handzahme NGO, sich in ihre Rolle als Mahner und Bittsteller zu fügen haben.