Wären all deine Bilder Sonnen

Einiges über das Kino und seine Blinden. Von Stefan Ripplinger

»Yes, I can see now.« Kein Gemälde, kein Drama, erst recht kein Roman hätte die unendliche Traurigkeit dieser Aussage vor Augen führen können. Nur ein Film konnte es, nur ein Film konnte es: »City Lights« von Charlie Chaplin. Es ist der vorletzte Satz. »Yes, I can see now«, sagt die Blumen­verkäuferin zum Tramp. Dann schaut sie ihn an. Und manche glauben ernsthaft, nachdem sich die beiden erkannt haben, könnten sie sich noch kriegen. Aber dann folgt doch der letzte Satz: »The End.«

Wenn Erkennen ihr Verhältnis beendet, beginnt es mit einem Verkennen. Weil der Tramp (Chaplin) aus einer Limousine steigt, die ihm nicht gehört, hält die blinde Blu­men­verkäuferin (Virginia Cherill), die nur das Zuschlagen der Wagentür hören, aber nicht seinen schäbigen Anzug sehen kann, ihn für einen wohlhabenden Mann. Es ist eine Rolle, in der er sich sichtbar wohl fühlt. Und das Mädchen wiegt sich ob seines umständlichen, aber zarten Betragens in der Zuversicht, dass er mehr sein müsse als bloß ein reicher Verehrer.

Doch dann erscheint in der Zeitung eine Meldung, die 1931, als »City Lights« herauskam, einigermaßen phantastisch, unwahrscheinlich, ja frivol erschienen sein muss, was sie heute nicht mehr wäre: »Vienna Doctor Has Cure For Blindness«. Ein Dr. Gustav von Bier, heißt es im Text, setze die Welt in Erstaunen mit seinen Augen­operationen; er könne Blinden ihr Augenlicht geben.

Obwohl die Zeitung erwähnt, Arme behandele dieser Wiener miracle worker umsonst, wissen der Tramp und das Mädchen, dass sie viel Geld brauchen werden. Er beschafft es tatsächlich und verabschiedet sich – sie fürchten beide, dass es auf immer ist. Sicherlich kommt der Noblesse des Gebenden, den die Dankbarkeit beleidigte, Gewicht zu. Aber das ist nur die eine, edle Seite der Geschichte. Es ist die Seite, die sie kennt. Die andere, vulgäre ist, dass nicht einmal eine Arme und erst recht nicht die Besitzerin eines Blumenladens sich auf einen Clochard einließe.

Die Wahrheit der Klassengesellschaft prägt alle frühen Filme Chaplins, aber diesen besonders subtil, besonders grausam. Anders als der Millionär und sein Butler sind die beiden Liebenden keine gemeinen Leute, aber sie kennen das Gesetz. Mögen selbst die Capulets und die Montagus sich vereinigen können, Fräulein Saubermann und Herr Bettelmann können es nicht. Aber es geht hier noch um etwas anderes, womöglich Wichtigeres, es geht um den Film selbst.

Dass das Mädchen sehen kann, erweist ihr Blick in einen Spiegel. In ihren neuen Laden tritt hin und wieder ein Geck und bestellt Blumen, und jedesmal fragt sie sich, ob er ihr Wohltäter sei. An seiner Stimme, an seiner Bewegung liest sie ab, dass auch dieser Reiche nicht der Reiche sein kann, der ihr einst Gutes wollte. Aber muss dieser eine nicht trotz allem zurückkehren? Nicht, um ihre Dankbarkeit zu genießen, sondern um sie zu lieben? Sie vergewissert sich mit dem Blick in den Spiegel ihrer selbst, ihrer Schönheit.

Ein schlechter Regisseur hätte gezeigt, was der Spiegel zeigt, er hätte ihren Blickwinkel eingenommen. Chaplin aber behält die ihr eigene Perspektive dem zerstörerischen Erkennen der letzten Einstellung vor.

Kurz nachdem sie sich gemustert hat, führt der Zufall den Tramp vor dem Laden vorbei. Die Zeitungsjungen treiben ihren Schabernack mit ihm, und die kleine Blumen­verkäuferin lacht herzlich mit. Da schaut er sie lange an, und sie ahnt noch immer nicht, wer er ist. Im Gegenteil, »I’ve made a conquest«, spottet sie über eine Eroberung, die sie längst schon gemacht hat. Doch als sie dem Widerstrebenden ein Almosen in die Hand drückt, erfühlt sie, dass es die Hand ist, die ihr selbst so viel mehr gegeben hat. »You?« Er nickt, verlegen lächelnd. »You can see now?« fragt er, nicht sarkastisch, nicht resigniert, aber doch wissend. »Yes, I can see now.« Indem sie sich sehen, haben sie sich verloren.

Wir kennen das Gedicht, das vom Schreiben spricht, das Gemälde, das Gemälde zeigt, selbst das Musikstück, das von der Musik erzählt. Jede Kunst beginnt irgendwann, von sich selbst zu handeln. Es ist dies zugleich ihr Höhepunkt und der Anfang ihres Endes. Denn die Kunst, die weiß, was sie ist, verliert ihre Kraft. Deshalb sollte es nicht zu sehr erstaunen, wenn ein Film zum Thema hat, was ihn ausmachen soll, das Sehen, den erwiderten Blick. Es sollte nicht erstaunen, dass das Kino als modernes Medium sehr früh in diese reflektierte Phase eintritt, Jahrzehnte, bevor die überschätzten Autorenfilmer die Szene beherrschen. Aber seltsam ist doch die große Traurigkeit, mit der es gerade das umgibt, was ihm in der Meinung der Kritiker und des Publikums seinen Wert, den Schauwert, gibt.

Man könnte es für eine Koketterie halten, wenn das Kino gerade diesen Schauwert verweigert, ja sich vor ihm zu fürchten scheint. Solch eine Furcht müsste einem vorkommen wie der Aberglauben der Kinder, sähen sie die Geschenke vor der Bescherung, stäche ihnen der Weihnachtsmann die Augen aus; sie wissen ja doch, dass sie sie kriegen. Aber merkwürdig genug ist es, Skrupel zu bemerken in einem Gewerbe, das keine zu kennen scheint. Private Robert E. Lee Prewitt (Montgomery Clift) eilt der Ruf voraus, ein vorzüglicher Boxer zu sein. Alle wollen ihn boxen sehen, doch er weigert sich standhaft. Der Grund dafür liegt darin, dass er einen Gegner blind geschlagen hat.

Einigermaßen offensichtlich ist, woher die bemerkenswerte Backstory stammt, die den ersten Konflikt in »From Here to Eternity« motiviert: aus John Fords genau ein Jahr zuvor veröffentlichtem »Quiet Man« (1952). Dessen Protagonist (John Wayne), auch er einst ein begabter Boxer, will nicht mehr kämpfen, weil er einen Mann im Ring totgeschlagen hat. Dass sein Gegner nicht tot, sondern blind und eben dessen Blindheit der Grund dafür ist, dass Prewitt nichts mehr sehen lassen will, scheint aus dem Plagiat einen genialen Einfall zu machen. Allein, den blinden Boxer gibt es bei Ford schon viel früher, und bei ihm tritt er wirklich auf.

Der blinde Boxer

Dai Bando (Rhys Williams) ist zunächst nichts anderes als der irische oder walisische Schelm, der in so vielen Filmen Fords säuft, scherzt und sich prügelt und dessen Idealtyp von Victor McLaglen verkörpert wird (Wayne ist ja bereits eine Sublimierung). In »How Green Was My Valley« (1941) fehlt der Preisboxer bei keiner Zecherei und keinem Familienfest. »Is there to be no singing for my daughter’s wedding, Dai Bando?« fragt Vater Morgan (Donald Crisp), der gerade seine schöne Tochter (Maureen O’Hara) an den snobistischen Sohn des Minenbesitzers (Marten Lamont) verheiratet hat. Dai Bando stimmt also das Hochzeitslied an, »for singing is in my people as sight is in the eye«, wie Huw Morgan weiß, aus dessen Perspektive die Geschichte der Familie erzählt wird. Singen ist in diesem Film so etwas wie das Pfeifen im Dunkeln. Denn grün war das Tal, aber schwarz ist die Schlacke, an der es erstickt.

Huw (Roddy McDowall) ist der Erste in dieser Familie von Bergleuten, der die Latein­schule bezieht. »What a dirty little sweep it is, a little genius from the coal pits«, begrüßt ihn der Lehrer (Morton Lowery). Gegen die Mitschüler kann sich Huw, nach einigen Trainingsstunden bei Dai Bando, recht gut wehren, aber gegen den seinen Stock schwingenden Schulmeister vermag er nichts. Also erteilt Bando diesem eine Lektion. »Now, you are good in the use of a stick, but boxing is my subject, according to the rules laid down by the good Marquess of Queensberry … And happy I am to pass on my knowledge to you.« Hier steht Wissen gegen Wissen, das rüde Wissen der Herrschenden gegen das elegante Wissen der Faust. Und am Ende liegt der Lehrer ohnmächtig vor seiner Tafel. Obwohl Huws Schulzeit darauf erfolgreich zu Ende geht, entschließt er sich gegen eine akademische Laufbahn und dafür, im Tal zu bleiben und Bergmann zu werden wie sein Vater.

Danach tritt der Boxer in den Hintergrund, weniger komische Ereignisse müssen berichtet werden; arme Bergleute aus andern Landesteilen verkaufen ihre Arbeitskraft billiger, der Minenbesitzer senkt da­rauf­hin die Löhne drastisch, Huws Brüder kämpfen in der Gewerkschaft, aber sie verlieren ihren Kampf und wandern allesamt nach Amerika aus. Schließlich wird Vater Morgan bei einem Grubenunglück verschüttet. »What is it now? Fire, or flood, or what?« Bando, der die Warnsirene und die Menge gehört hat, die zum Förderturm strömt, tritt mit seinem Zechkumpanen Cyfartha (Barry Fitzgerald) aus der Kneipe, einen Bierkrug in der Hand. Katastrophen im Bergwerk sind häufig. Diesmal sei infolge einer Grubensenkung ein Stollen eingestürzt, wird ihm gesagt. »Take me up there«, fordert der Boxer, denn er ist inzwischen blind und findet den Weg nicht mehr.

Aber was er denn da wolle, fragt ihn der schlaue, feige Cyfartha, »what good in the darkness of the mine? Your eyes are no longer good in the daylight from the blows you’ve taken in the ring.« Aber Bando besteht darauf, hinaufgeführt zu werden, und legt seine Hände auf die Schultern des Gefährten. Doch der will ihm nicht in die überfluteten Stollen vorangehen. Durch das Wasser watet der blinde Boxer wie ein Christopherus, auf seinem Rücken der kleine Huw. Sie suchen den verschütteten Vater und finden ihn auch, doch er stirbt in den Armen des Sohnes.

Die verschleierte Mutter (Sara Allgood) wartet vor dem Förderturm wie Maria Magdalena. Ihren Blick ekstatisch zum Himmel erhoben, spricht sie von einer Erscheinung des im selben Augenblick Verstorbenen: »He came to me just now. He told me of the glory he had seen.« Doch Huw hat diese Vision nicht, er hat den Vater sterben sehen und ist darüber erblindet, wie es scheint. Als er auf dem Förderkorb ins Freie gelangt, den alten Morgan im Arm, blinzeln seine Augen jedenfalls nicht wie zuvor immer, als er aus der Grube ans Tageslicht kam. Sie blicken nicht mehr, sie blicken nach innen. Tag Gallagher nennt diese Einstellung »the movie’s key shot«. »Die Augen sind nach innen, nicht nach außen gerichtet, in eine Seele, die darüber verzweifelt, dass ihr nichts mehr zu sehen bleibt, denn das Leben hat nur Sinn, da das Sehen ein moralischer Akt ist.«

Gallagher kann glaubhaft machen, dass die Apotheose von Kindheit und Tal, die auf diesen letzten tödlichen Hieb folgt, in Huws leerem Blick vorbereitet ist. In einer letzten Rückblende, einem idyllischen Rückblick, wandert er mit dem Vater über die blühenden Felder, seine Schwester, die nicht ahnt, was ihr bevorsteht, winkt ihm glücklich nach, die Brüder leben noch zu Hause und die angebetete Bronwyn (Anna Lee) hat ihren Mann noch nicht im Schacht verloren. Was nicht mehr ist, beschwört diese Coda noch einmal. Ford selbst dachte an die Schauspieler, die nach dem Stück vor den Vorhang treten, und siehe, die während des Spiels Gestorbenen leben noch.

In Gallaghers Lesart schließt Huw Morgan in dem Moment, als er mit dem Leichnam des Vaters ans Licht kommt, für immer die Augen vor der Wirklichkeit. Da aber der ganze Film seine Erinnerung (als 50jähriger Mann) erzählt, erklärt sich so die gelegentliche Verklärung einer grausamen Episode aus der Geschichte des Frühkapitalismus. Ford gibt jedoch, hier wie in vielen anderen seiner Filme, sehr deutlich zu verstehen, welche Wahrheit von der Idylle verschleiert werden soll – ohne den Schleier des Sentiments deshalb zu zerreißen. Die Welt ist so unerträglich grauenhaft, sagt Ford, dass wir alles Recht haben, sie uns schönzufärben. »When the legend becomes fact, print the legend.« Und die Legende wird faktisch in jeglicher Erinnerung.

Doch weshalb muss der Boxer erblinden? Gewiss nicht, weil ihn die wahren facts geblendet hätten. Wenn es eine Figur in »How Green Was My Valley« gibt, die, ohne darüber zynisch zu werden, weiß, wie es in der Welt zugeht, dann ist es dieser Boxer, der sich den sturen Kopf an ihr eingeschlagen hat. Dass er, der Abgerissenste und Geringste unter allen Freunden der Morgans, der treueste ist, hätte keines weiteren Beweises bedurft. Blind muss er werden, weil nur ein Blinder sich vor der »darkness of the mine« nicht fürchten muss, mehr noch, weil er sie in sich trägt. Der Blinde ist der natürliche Bewohner jener Unterwelt, über der die Wiesen des Tales blühen. Sie ist das, was nicht sichtbar wird und nicht sichtbar werden darf, das Andere des Films. Nur einer kann sie wirklich kennen und darf sie doch nicht preisgeben: der Künstler selbst. »Boxing is an art«, sagt Dai Bando.

Wah-Wah

Doch diese Unterwelt, wie ist sie? Dieses Andere, was ist es? Lediglich eine grausame Wahrheit, die sich einem Massenpublikum noch nicht sagen lässt? Gar ein unaussprechliches Geheimnis des Künstlers, sein Arcanum? Oder sind es ganz banal die schäbigen, demütigenden Umstände, welche immer der Produktion von Bildern, gerade auch solch großartiger wie der Fords, vorausgehen müssen? – Darüber muss einer nicht rätseln oder raunen, denn es lässt sich ganz klar angeben.

Das Andere eines Tonfilms, also einer vorüberstürzenden Folge von zweidimensionalen Bildern, ist alles, was nicht in zweidimensionalen Bildern zu wiederholen oder wiederzuholen ist, dreidimensionale Körper, dreidimensionaler Raum, wirkliche Bewegung, natürliche Farben. Alles, was präsent bleibt und nicht verfliegt, alles, was mit Händen zu greifen ist, alles, was zu schmecken und zu riechen ist. Und selbstverständlich alles, was zu still und zu dunkel ist, alles, wofür weder eine Fotografie noch ein Klang einstehen können, also der Löwenanteil unserer Gedanken und Wahrnehmungen. Der Film, schreibt Alain Badiou, ist die am wenigsten mimetische aller Künste.

Das Kino wühlt uns auf, weil es uns fortwährend an das erinnert, was es uns vorenthalten muss. Und nichts wühlt mehr auf als die Begegnung mit einer Abgesandten dieses Jenseits des Kinos. Ob die kleine Helen aus Arthur Penns »The Miracle Worker« (1962) aus der Hölle oder aus dem Himmel kommt, darüber sind sich ihre Eltern und ihre Lehrerin durchaus uneins. Sicher ist nur, dass das taube und blinde Mädchen nicht von dieser Welt ist, dass es, obwohl schon über zehn Jahre alt, nicht einmal geboren ist. Eine ungezähmte elementare Gewalt wohnt in ihm, aber auch etwas Höheres, das »inside is waiting like water underground«, wie eine Quelle, wie Grubenwasser. Sie befindet sich also unter der Erde wie eine Tote und muss erst ausgegraben werden. Nur das Wort kann dieses Wesen zur Welt bringen, aber wie einer Blinden und Tauben sagen, was ein Wort ist? Eine Schlacht beginnt, die alle Schlachten, in denen der alte Captain Keller (Victor Jory), ihr Vater, gedient hat, in den Schatten stellt.

Die Schlacht wird geschlagen, nicht nur zwischen der Lehrerin (Anne Bancroft) und dem Mädchen (Patty Duke), sondern auch zwischen dem Kino und dem, was niemals Kino sein kann. Man darf sagen, dass auf beiden Seiten das Äußerste aufgeboten wird.

Alle großen Filme, die nach 1927 entstanden sind, stehen, selbst wenn sie eine Tonspur besitzen, in der großen Tradition des Stummfilms. Ton wird vielleicht immer etwas Ephemeres im Kino bleiben, jedenfalls von zweitem Rang. Chaplin löst in »City Lights« das Problem, dass er, obwohl die Tonfilmzeit längst angebrochen ist, seinen Tramp nicht sprechen lassen will, indem er mit einigen sehr geschickt gesetzten Geräuscheffekten Lacher provoziert und so seinen Tribut ans Publikum entrichtet. Aber nicht nur diesen Film machen seine Bilder aus, die im Grunde auch der Zwischentitel entbehren könnten. »How Green Was My Valley« – man betrachte ohne Musik, Dialog und Geräusch die düsteren Gemälde der von der Mine herabströmenden Menschen, die strengen Kompositionen der Familiengruppe, die extrem kontrastreichen Szenen des Streiks ­– ist ein expressionistischer Stummfilm. Ein Stummfilm mit Ton wie viele Meisterwerke Fords, der sagte, Bilder, nicht Wörter sollten die Geschichte erzählen, »it’s still a silent medium«.

In seiner Schlacht gegen das Andere des Kinos mobilisiert »The Miracle Worker« die gesamte Geschichte der Kino-Ästhetik. Die Flashbacks grobkörnig und sprunghaft im Negativ; die Figuren oft in strengen Diagonalen in den Raum platziert, in bizarren Weitwinkeln; ganze Sequenzen in Doppel- und Mehrfachbelichtung; extreme Großaufnahmen (das Auge der Lehrerin); grell angestrahlte Gesichter in Ober- oder Untersicht (die Mutter) – alle frühen Meister des Kinos, Eisenstein, Griffith, Murnau, sind anwesend. Auch die geistreiche Dialektik, die das frühe Kino besaß, ist es. Als die Blinde zu ihren Eltern zurückkehrt, ist die Hütte, in der die Lehrerin um sie gekämpft hat, dunkel, deren Schürze schwarz, sie aber geht hell ins gleißende Sonnenlicht. Der Exzess der strengen Form kollidiert zuweilen heftig mit der Geschichte, die ja ein glückliches Ende und durchaus ihre burleske Seite hat. Dann erscheint der Film wie eine Komödie, die als Tragödie auftritt.

Der innere Widerspruch resultiert aus einem äußeren. Denn wie in eine Welt eindringen, die keinen Ton, kein Bild zu haben scheint? Penn sieht sich hier vor dieselbe Schwierigkeit gestellt wie Helens Lehrerin. Mal löst er sie, indem er auf Ton verzichtet – im Vorspann zerschellt eine Weihnachtsbaumkugel lautlos – oder die Personen zu Silhouetten abdunkelt. Dann wieder entfesselt er einen Sturm von Bildern und Klängen. Das sind die Szenen, die die Perspektive der Lehrerin vorstellen. Sie ist eine Grenzgängerin, durch mehrere Augenoperationen von ihrer eigenen Blindheit kuriert, sieht sie noch immer sehr schlecht und ist gezwungen, auch am Abend eine Sonnenbrille zu tragen, »any kind of light hurts my eyes«. Robin Wood merkt an, dass sie nur geschützt von dieser Brille die Wahrheit sagen könne.

Unwillkürlich denkt man an die mythologische Figur des blinden Sehers, die romantische des tauben Komponisten und natürlich auch an Ford und seine Augenklappe. (Er trug sie in Folge einer missglückten Augenoperation, die ihn über Wochen blind sein ließ.) Wie sollte es möglich sein, dass eine Blinde von einer andern Blinden belehrt wird, fragt Captain Keller. Die Antwort muss lauten, dass nur einer solchen das Licht in den Augen brennt, die weiß, wie sehr dieses Licht die Dunkelheit betrügt. Den Weg aus der »darkness of the mine« kann nur weisen, wer schon einmal in sie hinabgestiegen ist.

Am Ende, als das angebliche Wunder sich vollzieht und das Mädchen die Sensation des Wassers und die Fingergesten für »water« mit dem Wort assoziiert, welches es als Kleinkind, vor seiner Erblindung und Ertaubung, gelernt hat, »wah-wah«, gibt es einen Erfolg, aber keine Erlösung. Das Wesen, der Dämon, das Tier wird Mensch, mit allem Schrecklichen und Schönen, was dazugehört, Helen kann nun »in the light of words« sehen, aber doch nicht mit ihren Augen. Die Behauptung Woods, die enorme Erschütterung, die diese Szene auslöst, gehe von ihrer »ziemlich unzweideutigen Bejahung« (des Lebens) aus, muss deshalb bestritten werden. Es scheinen vielmehr die Verneinung, der aufreißende Zwiespalt zu sein, die den Zuschauer an dieser Stelle so hemmungslos weinen lassen: Die beiden Frauen können nun zwar miteinander sprechen, aber sehen werden sie sich nie. Abstrakter gesagt, kann uns das Kino etwas andeuten, aber es kann uns nichts geben.

Gloucester

»Were all thy letters suns, I could not see«, bedauert der Earl of Gloucester, als ihm der wahnsinnig gewordene König Lear ein Brandschreiben reicht. Das Licht der Wörter? Wörter sind schwarze Buchstaben, aber selbst wären sie Sonnen, könnte ihr Licht doch nicht Gloucesters Dunkelheit vertreiben, denn die Augen sind ihm ausgerissen worden. Auf Gloucesters Blendung antwortet Lear verblendet: »A man may see how this world goes with no eyes. Look with thine ears … If thou wilt weep my fortunes, take my eyes.«

Es ist eine andere Impertinenz als die von Helens Lehrerin, es ist die eines Mannes, der nicht mehr einsehen kann, dass er selbst erblindet ist. So erklärt sich Akira Kurosawas dramaturgische Entscheidung, in »Ran« (1985), seiner Adaption des »King Lear«, das Schicksal des wahnsinnigen ­Königs und das seines geblendeten Höflings miteinander zu vereinen. Wenn Shakespeare den Gloucester mit seinem Sohn Edgar umherirren lässt, auf der Suche nach einem raschen Tod, sind es bei Kurosawa der König Hidetora Ichimonji (Tatsuya Nakadai) und sein androgyner Narr Kyoami (Peter) selbst. Und als der Narr weint, fragt der König, der seinen Begleiter und sich selbst nicht mehr kennt, »wer weint da?«, obwohl er direkt neben ihm kauert.

Hidetora ist mit seelischer Blindheit geschlagen, wie Huw Morgan am Ende von »How Green Was My Valley«. Aber sie verleiht ihm die Gabe der Vision – nicht wie Huw, der in lieblichen Bildern des Verlorenen schwelgt, denn Hidetora muss vor der Erinnerung an seine Verbrechen fliehen, aber doch wie Huws Mutter. Wie sie richtet er seinen Blick nach oben: »Welch ein Himmel! Bin ich in einer andern Welt?« Doch so leicht kommt er nicht davon.

Er begegnet seiner eigenen Vergangenheit in seinen Schwiegertöchtern, der rächenden Kaede (Mieko Harada) und der verzeihenden Sué (Yoshiko Miyazaki), deren Familien er niedermetzeln ließ, aber auch in Sués Bruder Tsurumaru (Mansai Nomura), dem er die Augen ausgestochen hat. Diese letzte Begegnung findet in der sturmumtobten Hütte statt. Ihren Bewohner, den Hidetoras Begleiter – neben dem Narren hier auch der treue Tango (Masayuki Yui) – erst für eine Frau halten, sieht man lange nur von hinten, in seinem weißen Gewand. In der Hütte ist es dunkel, denn Tsurumaru braucht keine Lampe. Dichtes schwarzes Haar fällt über sein Gesicht. Der König kann Sué nicht in die Augen schauen, weil sie ihm verzeiht. Tsurumura kann er nicht in die Augen schauen, weil der keine mehr hat. Aber der junge Mann öffnet dem König die Augen mit seinem Flötenspiel, und Hidetora stürzt schreiend aus der Hütte.

Nicht nur dem Blinden lässt Kurosawa nicht in die Augen schauen, er kennt überhaupt keine Close-Ups. Die halbnahe Einstellung ist das Äußerste an Intimität, was er duldet. Und selbst als Hidetora seinen verstoßenen Sohn Saburo (Daisuke Ryu) wiedertrifft und Tango seinen Herrn bittet, Saburos Tränen als Beweis seiner Aufrichtigkeit anzuerkennen, zeigt die Kamera diese Tränen nicht, sondern verharrt diskret in ihrer weit abgerückten Position. Kurosawas Kino ist anders als das europäische nicht im Psychologismus und Illusionismus befangen. Seine Stärke ist die Weite, die Totale, hier unterstützt von der Musik Toru Takemitsus, die einen weiten leeren Raum umschreibt.

Drei Totalen verklammern die Tragödie, dreimal betrachtet die Kamera von unten einen Horizont, am Mittag, am Abend, in der Nacht. Es ist die Ruine der Burg, in der Sués Familie lebte. Hidetora erscheint am Mittag, im Gegenlicht, auf der Zinne mit offenem weißem Haar, in langem weißem Kleid. Er sieht aus wie Moses auf dem Berg Sinai, ein Gespenst, das die vorüberreitenden Verräter Ogura und Ikoma (Norio Matsui und Kazuo Kato) entsetzt. Diese Offenbarung ist von tiefer Komik, denn was den Verrätern wie ein rächender Gesetzgeber erscheint, ist ein Häufchen Elend. Sie entgehen der Rache dennoch nicht.

Am Abend treffen sich dort oben der Blinde und seine Schwester Sué. Auf der Flucht vor den Häschern hat Tsurumaru seine geliebte Flöte in der Hütte zurück­gelassen. Trotzdem er sie bittet zu bleiben, eilt Sué zurück – und den Häschern in die Arme. Zwischen dieser Einstellung und der letzten des Films geht das Reich der Ichimonjis zugrunde, in einem Farbenrausch von Blut, Feuer und Flaggen. Und dann, Hidetora und seine Söhne sind tot, die Sonne ist längst untergegangen, sieht man den Blinden noch einmal. Diese letzte Einstellung ist in Schwarz und Weiß gehalten. Der Blinde wartet, vergeblich, auf seine Schwester und wird, »eingefroren zwischen Leben und Tod« (Stuart Galbraith), dort immer warten.

Tsurumaru ist der auf seine Blindheit reduzierte Gloucester, anders als dieser ein unschuldiges Opfer. Für die Handlung selbst ist er gänzlich überflüssig, denn Ku­rosawas Lear, von dem sich nicht sagen lässt, dass mehr gegen ihn gesündigt wurde, als er selbst gesündigt hat, begegnet seinen Verbrechen ja bereits in Sué und Kaede. Dennoch ist Tsurumaru eine der wichtigsten Figuren des Films, denn mit ihm bleibt die Wunde offen, mit ihm geht die »erschreckende Pracht« (Galbraith), gehen die von Farbe strotzenden Gräuel in schlackenschwarze Nacht über. Der Blinde verkörpert also die Rache der Opfer am Film selbst, denn jedem Betrachten des Leids ist Lust beigemengt. Lust, Schaulust, gewährt dieser Film in reichem Maß. Doch am Schluss versinkt alles in Dunkelheit. Und obwohl der Blinde seine Flöte nicht mehr besitzt, tönt nun noch einmal ihre Klage. »The End« kommt, aber noch nicht für ihn.

The Doll

Was kann noch schrecklicher sein als diese Nacht? Ohne Zweifel die vollkommene Schwärze. Die Blinden des Kinos haben, wenn sie nicht ans Licht zurückgelangen konnten, manchmal versucht, den Zuschauer in diese Schwärze, in ihre Welt, zu ziehen. Susy (Audrey Hepburn) bleibt die Dunkelheit als letzte Zuflucht vor Männern, die ihr nach dem Leben trachten. »Wait Until Dark« (1967) verschließt systematisch alle Türen und lässt nur noch diesen einen Ausweg aus dem Terror, das völlige Dunkel. Und damit erlöscht auch das letzte Licht im düsteren Kinosaal.

Der Stoff war wie »The Miracle Worker« zunächst ein Theaterstück auf dem Broadway in der Regie von Arthur Penn. Für die Filmfassung, in der Regie von Terence Young, produziert von Mel Ferrer, dem damaligen Ehemann Audrey Hepburns, hatte man sich etwas Besonderes ausgedacht. In einem Trailer erschien die reißerische Warnung: »Während der letzten acht Minuten dieses Films wird das Kino soweit abgedunkelt werden, wie es gesetzlich erlaubt ist, um den Schrecken des atemraubenden Höhepunkts zu steigern, der sich bei fast völliger Dunkelheit der Leinwand ereignet. Kunden, die sich auf Plätzen befinden, an denen das Rauchen erlaubt ist, werden höflich gebeten, während dieser Sequenz nicht ihr Feuerzeug zu benutzen, um den Effekt nicht zu verderben. Und selbstverständlich wird während dieser Zeit niemand platziert.« Tatsächlich folgten viele Kinobesitzer diesen Instruktionen.

»Wait Until Dark« könnte ein »Blind Exploitation Movie« genannt werden; er beutet nicht die Blinden aus, aber ihr Schicksal. Der Film verschweigt das in keinem Augenblick. Von Anfang an formuliert er eine heftige Aggression gegen die Blinden, welche an die Szene in »L’âge d’or« (1930) erinnert, in der ein nichts ahnend sich durch die Straßen tastender Blinder absichtlich zu Boden gestoßen wird. Gab es in »From Here to Eternity« noch etwas wie Skrupel, Angst vor der Blindheit, greift hier das Kino zu einer Notwehr gegen das, was seine Welt bedroht. Und das bekommt Susy am eigenen Leib zu spüren. Denn sie hat sich nicht nur gegen drei Gangster zu verteidigen, sondern auch gegen Sam (Efrem Zimbalist Jr.), ihren Ehemann, und gegen Gloria (Julie Herrod), das Nachbarsmädchen. Der Terror gegen die Blinde wird auf diese Weise fein abgestuft und allmählich bis zur Lebensbedrohung gesteigert.

Sams Terror entspringt seinem Ehrgeiz. Auch wenn er selbst, ein auf Gelegenheitsjobs angewiesener Fotograf, beruflich gescheitert ist, verlangt er von seiner seit nicht viel länger als einem Jahr blinden Frau, die bereits das Gehen mit Taststock und die Braille-Schrift bewundernswert beherrscht, über sich selbst hinauszuwachsen. Als ihr etwas hingefallen ist, soll sie es alleine aufklauben, um den Kühlschrank abzutauen, soll sie selbst den Stecker finden, und auch noch Besorgungsgänge soll sie ohne fremde Hilfe erledigen, »no cheating!« »Do I have to be the world’s champion blind lady?« wagt sie einen schüchternen Aufstand. »Yes!« antwortet er. »Then, I will be. I will be whatever you want me to be«, ergibt sie sich. Kein Wunder, er ist der Fotograf, sie das Modell.

Die Härte ließe sich mit Fürsorge entschuldigen. Die Lehrerin der blinden und tauben Helen in »The Miracle Worker« wird nicht müde zu betonen, der wahre Feind der Blinden sei das Mitleid. Nur wer etwas von ihnen fordere, helfe ihnen wirklich. Doch selbst als sich Susy in der Schlussszene starr vor Schrecken hinter der Kühlschranktür verbirgt, die Wohnung ein einziger Schutthaufen ist und die Leichen zweier toter Männer im Weg liegen, eilt er nicht auf sie zu, um sie in die Arme zu schließen. »I’m over here.« – »You’re by the chair.« – »Great girl.« Die Liebe des Dompteurs schließt die Befriedigung in sich, Macht über das Fremde zu besitzen.

Gloria wird, seit sie eine dicke Brille tragen muss, von ihren Mitschülern als »monster from outer space« gehänselt. Tatsächlich deutet die Brille an, dass sie bereits mit einem Fuß in jenem outer space steht, welcher die Blindheit ist. Das kleine Monster glaubt man aus Filmen von Alfred Hitchcock zu kennen, der eine bemerkenswerte Hassliebe zu bebrillten, eher hässlichen, altklugen und zickigen, kurz intelligenten Mädchen hegte (man denke an den Bücherwurm Ann in »Shadow of a Doubt« oder an Barbara Morton, dargestellt von Hitchcocks Tochter Patricia, in »Strangers on a Train«). Als Susy Gloria bittet, den Kühlschrank, der übrigens eine Hauptrolle spielt, zu schließen, zeigt diese sich nicht gefällig. Erst behauptet sie, die Tür sei geschlossen. Doch das Rappeln der altersschwachen Maschine überführt sie des Betrugs. Dann wird sie pampig: »Close it yourself. You’re nearer.« Susy entschlüpft ein »little monster« und der Terror erreicht seinen ersten Höhepunkt. Das Mädchen pfeffert Besteck und Geschirr zu Boden, um so die Blinde in Verwirrung zu stürzen. Selbst in ihrem boshaften Ausbruch ganz kühl und berechnend, wirft Gloria nur mit unzerbrechlichen Gegenständen.

Die Folterinstrumente, die die drei Gangster ausbreiten, um an eine mit Heroinpäckchen gefüllte Puppe heranzukommen, reichen von Täuschung, Lüge über die Verleumdung Sams, dem sie eine Affäre anhängen wollen, bis zur tätlichen Bedrohung und zum Mordanschlag. All dies fügt sich in ein gemeinsam aufgeführtes Schmierentheater, in der der von Alan Arkin gegebene Gangster, der sich »Harry Roat from Scarsdale« nennt, also nicht nur aus einem Stadtviertel New Yorks, sondern auch aus dem Tal der Schrammen oder Makel stammt, gleich drei Rollen spielt, eine affektierter als die andere. Auf vielfältige Weise versuchen sie, Susys Blindheit auszunützen. Sie geben sich nicht zu erkennen, als sie ihre Kellerwohnung betritt. Sie signalisieren einander mit Hilfe der »blinds«, nämlich der Jalousien – Signale, die sie nicht sehen (aber manchmal hören) kann. Sie spiegeln ihr vor, ein Polizeiwagen parke vor der Tür, obwohl da nur ein schäbiger VW-Bus steht, der ihrer Theatertruppe als Garderobe dient.

Susy erscheint hilflos, nicht nur wenn sie wie die kleine Helen mit der Puppe im Arm durch ihre Wohnung tastet. Die Puppe stellt hier wie da kein Kind, sondern ein makelloses Selbstbild dar. »This is the big, bad world, full of mean people, where nasty things happen«, glaubt einer der Gangster die Kindfrau aufklären zu müssen. Doch die Täuschungen, die sie einschüchtern und unter Druck setzen sollen, durchschaut Susy dank ihrer glänzenden Kombinationsgabe durchaus. Als es zu roher Gewalt kommt, der jede andere Frau unterlegen gewesen wäre, nutzt sie ihren natürlichen Vorteil. Sie zerschmettert mit ihrem Stock alle Glühbirnen im Flur und in der Wohnung (leider vergisst sie die Kühlschrank­lampe).

Und nun setzt tatsächlich ein im Thriller selten erreichter Horror ein, der in sekundenlangen Passagen aus reinem Schwarzfilm kulminiert. Der Zuschauer kann nun schwerlich noch erraten, was geschieht, und vor allem weiß er nicht mehr, wo sich die im Zimmer bewegenden Personen gerade befinden. Die Orientierungslosigkeit versetzt ihn unweigerlich in eine Urangst, die jedes Kind empfunden hat, das vom Vater in den Keller geschickt wurde, um Bier zu holen. Zugleich negiert der Film bis auf die Geräusche jede Darstellung.

Wenn, wie Klaus Wyborny analysiert hat, der stabile Blickkontakt die Basis des narrativen Films bildet, dann fehlt diese Basis in allen Darstellungen von Blinden. Denn die Blinden des Films schauen ja geradezu krampfhaft an ihrem Gegenüber vorbei. In »Wait Until Dark« wandelt sich die Blickverbindung von einer Hinwendung zu einer Konfrontation. Die Andern lassen Susy im Glauben, sie schauten sie an, während sie ganz etwas anderes im Blick haben. Susy wiederum fragt zweimal »Are you looking at me?«, bevor sie angreift. Einmal streckt sie Sam die Zunge heraus, das andere Mal schüttet sie Harry Roat from Scarsdale Fixierer ins Gesicht.

Das Schwarz ist also die radikale Konsequenz aus der Unfähigkeit der Personen, einander in die Augen zu sehen. Nun müssen sie sie voreinander schließen. Und auch der Zuschauer, der sich zuvor an der Quälerei einer Blinden delektierte, wird in diesen Keller geworfen. »Wait Until Dark« ist ein Film über das Blinde, der den Zuschauer selbst, wenn auch nur sehr kurz, erblinden lässt. Aber es versteht sich, dass die Verweigerung des narrativen Grundgesetzes, des fixen Dialogs der Augen, noch immer auf dieses bezogen bleibt. Schwarz hat im nicht-narrativen Kino eine völlig andere Funktion. Wenn Stan Brakhage mit seinen Fingernägeln in ausbelichtete Filmstreifen ritzt, erscheint das Ergebnis wie musikalisierte Malerei. Schwarz steht bei ihm also nicht für das Blinde, sondern ist geradezu die Voraussetzung dafür, dass etwas sichtbar wird.

Der narrative Film hingegen will stets mehr sein als Malerei. Er fußt auf der Behauptung, die Kamera sei ein Auge. Dafür, dass sie das nicht ist und niemals sein kann, gibt es viele physiologische und ästhetische Begründungen. Eine davon wird an dieser Stelle offensichtlich: Das Auge akkomodiert sich nach einer Weile an die Dunkelheit, es hätte also nach wenigen Sekunden in der dunklen Kellerwohnung zumindest Umrisse von Personen und Gegenständen erkennen können. Die Kamera aber nimmt nichts auf, wenn es zu dunkel ist, und das ist bekanntlich selbst bei empfindlichem Material sehr bald der Fall.

In die Metapher der Blindheit wird übersetzt, dass der Kinematographie enge technische und epistemologische Grenzen gesteckt sind. Blindheit im Film bezeichnet auch die Eifersucht von Kunst und Technik auf das natürliche Sehen. Der Schnitt durch das Auge in »Le chien andalou« (1929) mag das ebenso bezeugen wie die erste Einstellung von »Wait Until Dark«. In den blut­roten Unterstoff der Puppe schneidet ein Messer. Indem die Wattefüllung der Puppe die Öffnung oval aufspreizt, nimmt diese die Gestalt eines Auges an. Eine Hand greift hinein und rupft die Watte heraus. Die Augenhöhle ist leer wie das Kamera­auge. Manchmal handelt das Kino, das so viel vom Sehen schwindelt, davon, dass es gar nicht sehen kann.

Alle erwähnten Filme sind auf DVD erhältlich, mit Ausnahme von »Le chien andalou«, der als VHS-Kopie im Handel ist, und »L’âge d’or«.

Alain Badiou: »Les faux mouvements du cinéma«, in: Ders.: Petit manuel d’inesthétique. Paris 1998

Peter Bogdanovich: John Ford. Berkeley u.a. 1978

Stuart Galbraith IV: The Emperor and the Wolf. The Lives and Films of Akira Kurosawa and Toshiro Mifune. N.Y., London 2001

Tag Gallagher: John Ford. The Man and his Films. Berkeley u.a. 1986

Robin Wood: Arthur Penn. London 1967

Klaus Wyborny: »Nicht geordnete Notizen zum konventionellen narrativen Film«. Filmkritik, 274/1979