Aufruf zum Anruf

Der Skandal von Halberstadt von jesko bender

Auch am Scharfblick derjenigen, die sich gegen Neonazis engagieren, muss man bisweilen zweifeln. Nur wenige Tage nachdem in Halberstadt in Sachsen-Anhalt Schauspieler eines Musicals von Neonazis angegriffen und zum Teil erheblich verletzt worden waren, wenige Tage nachdem umstehende Passanten den verletzten Schauspielern nicht zu Hilfe gekommen waren und die eintreffende Polizei die sich teilweise noch in Sichtweite befindenden Angreifer nicht festgenommen, sondern sich erst einmal ausgiebig mit den Personalien der Angegriffenen beschäftigt hatte, veröffentlichte das »Bürgerbündnis für ein gewaltfreies Halberstadt« Hinweise zum Verhalten bei Übergriffen von Neonazis. Sie richten sich an Menschen, die einen Angriff oder eine Pöbelei beobachten.

»Ich rufe die Polizei an. Ich bitte Passanten, die Polizei anzurufen, wenn ich selbst kein Telefon habe«, heißt es dort. Und weiter: »Ich spreche Passanten direkt an. Meist genügt ein Blickkontakt, um festzustellen, welche der Umstehenden mir beistehen würden.«

Man mag dem Bündnis und seinem Schirmherrn, dem Oberbürgermeister von Halberstadt, Andreas Henke (Die Linke), zugute halten, dass sie sich schnell zu den Angriffen auf die Schauspieler äußern wollten. Sie wollten wohl der Öffentlichkeit mitteilen, dass es auch Men­schen gibt, die gegen Neonazis sind, und suggerieren, dass es einen großen Kreis an Adressaten gibt, eine couragierte Bevölkerung und eine Polizei, die konsequent gegen Neonazis vorgehe, wenn man sie nur schnell genug informiere.

Doch aller gute Wille ist nutzlos, wenn das tatsächliche Problem verkannt wird. Es besteht nämlich nicht darin, dass die Menschen die Telefonnummer der Polizei nicht wüssten oder vergessen hätten, dass man Personen, die zusammengeschlagen werden, zu Hilfe eilt. Der Angriff in Halberstadt zeigt einmal mehr, dass in weiten Teilen Ostdeutschlands die Gewalt von Neonazis und das Verhalten von Polizei, Behörden und Passanten in gleichem Maße zur Gefährdung von Menschen beitragen, die nicht so aussehen, wie sich das Neonazis vorstellen. Rechtsextreme Gewalt, eine desinteressierte oder möglicherweise gar mit den Neonazis sympathisierende Polizei und ignorante Bürger bedingen und ergänzen sich gegenseitig.

Dieses Zusammenwirken ermöglicht es, dass immer wieder die Angegriffenen als die eigent­lichen Provokateure behandelt werden. »So was passiert eben«, musste sich ein Asylbewerber aus Burkina Faso im September von Polizeibeamten sagen lassen, nachdem er in Bernburg, ebenfalls Sachsen-Anhalt, von einer Frau durch Steinwürfe verletzt worden war, wie der Tagesspiegel berichtet. Einem Klezmer-Orchester wurde Anfang Juni im thüringischen Heiligenstadt untersagt, aus Protest gegen einen Aufmarsch von Neonazis in der Fußgängerzone zu spielen, weil das Ordnungs­amt befürchtete, die Rechtsextremisten könnten sich davon provoziert fühlen. Da fällt es schwer, zwischen der Kapitulation vor der Hegemonie der Neonazis und offener Sym­pathiebekundung zu unterscheiden.

Eine demokratische Zivilgesellschaft ist in vielen Landstrichen Ostdeutschlands kaum vorhanden. Einem Engagement, das die Mehr­heit der Bevölkerung zu einem konsequenten Vorgehen gegen die Neonazis bewegen will, ist derzeit der Boden entzogen. Ernst gemeinte Aufrufe können da schnell wie bitterer Sarkasmus klingen. Der Appell des Bürgerbündnisses, die Polizei zu rufen und umstehende Passanten zur Hilfe aufzufordern, könnte die beabsichtigten Adressaten verfehlen und dafür andere belustigen: Er könnte zum Running Gag der Neonazis werden.