Der Sieg der bösen Onkels

Im Gaza-Streifen konnte die Hamas den Zerfall der Fatah-Milizen nutzen. Die Islamisten haben ein Herrschaftsgebiet gewonnen, aber Sympathien in der Bevölkerung verloren. von jörn schulz

Nackte Haut darf unter islamistischer Herrschaft eigentlich nicht zu sehen sein. Doch wenn die Freude über einen Sieg und die Demütigung des Feindes zu groß ist, können die Regeln der Sharia schon mal in Vergessenheit geraten. In der vergangenen Woche trieben Milizionäre der Hamas gefangene Kämpfer der Fatah mit nacktem Oberkörper durch die Straßen, einige waren nur mit Unterhosen bekleidet. Das Spektakel wurde auch von al-Aqsa TV, dem Sender der Hamas, gezeigt.

Hätten israelische oder US-Truppen muslimische Kriegsgefangene in dieser Weise vorgeführt, wären nicht nur die Zeitungen der arabischen Welt voll von Kommentaren über den »Krieg gegen den Islam« und die Missachtung seiner Werte. Doch bei der Beurteilung eines »Bruderkriegs« gelten offenbar andere Regeln.

Die meisten Morde geschehen im engsten Familienkreis, Geschwister kämpfen oft erbitterter um das Erbe als Manager um Firmen­anteile. Insofern ist die Bezeichnung »Bruderkrieg« für den innerpalästinensischen Machtkampf nicht ganz falsch. Meist soll sie allerdings suggerieren, dass die Gefechte zwischen Hamas und Fatah etwas Unnatürliches sind und die »Familie« sich lieber gegen ihre Feinde zusammenschließen sollte. Ohnehin wäre es passender, von einem Sieg der bösen Onkels von der Hamas über den hilflosen Vater Abbas zu sprechen.

Den palästinensischen Politikern und Milizenführern gelingt es schon seit längerer Zeit nicht mehr, wenigstens nach außen den Anschein nationaler Einheit zu wahren. Bei ihrem letzten Versuch, sich zu einigen, bemühten sie die religiöse Symbolik. Gemeinsam posierten Mahmoud Abbas, Präsident der Autonomie­behörde, Premierminister Ismail Hanija und Khaled Meshal, Hamas-Führer im syrischen Exil, im Februar vor der Kaaba in Mekka, um ihre Vereinbarung über die Bildung einer Koalitionsregierung zu heiligen.

Anschließend versuchten sie, Bauarbeiten in Jerusalem nahe des Felsendoms als einen Angriff auf die heiligen islamischen Stätten darzustellen, um religiöse Emotionen zu schüren. Ohne Erfolg, was gewiss nicht daran lag, dass die Vorwürfe gegen Israel nicht stichhaltig waren. Die Spaltung war bereits zu tief, beide Seiten bereiteten sich auf die nächste Runde der Kämpfe vor, die Bevölkerung blieb apathisch.

Der Gaza-Streifen ist seit langem die wichtigste Bastion der Hamas. Die Islamisten gewannen dort bei den Wahlen im vergangenen Jahr knapp zwei Drittel der Stimmen, in der West­bank waren es kaum über 40 Prozent. Allerdings gaben viele Palästinenser der Hamas ihre Stimme nur, um die korrupten Fatah-Politiker loszuwerden. Entscheidend für den Sieg der Islamisten in Gaza war nicht die größere Unterstützung aus der Bevölkerung, sondern der Zerfall der Fatah.

Soweit bekannt, starben bei den Kämpfen etwa 110 Menschen, einige wurden nach der Gefangennahme ermordet. Nominell standen 60 000 Bewaffnete in Gaza unter dem Komman­do von Abbas, offenbar hat nur ein Bruchteil von ihnen gekämpft. Anders als sein Vorgänger Yassir Arafat, der mit Klientelismus, Bestechung und Gewalt die Kontrolle wahren konnte, ist Abbas »ein General ohne Truppen«, wie es Yuval Diskin, der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth, bereits vor zwei Jahren formulierte.

Abbas, ein Intellektueller und Diplomat, hat weder persönliche Autorität noch genug Geld, um sich Loyalität zu erkaufen. Viele Milizionäre der Fatah betrieben auf eigene Rechnung kriminelle Geschäfte, widmeten sich Terroraktivitäten oder warteten schlicht auf die Sold­auszahlungen, die immer seltener wurden. Diese Schwäche nutzte die diszipliniertere und im Gaza-Streifen wohl auch finanzkräftigere Hamas.

Bis zum letzten Moment versuchten Israel, Ägypten und die USA, die Fatah zu stärken. Sie bildeten Soldaten aus und versorgten sie mit Militärgerät. Noch Mitte Mai rückten 500 Fatah-Kämpfer als Verstärkung in den Gaza-Streifen ein. Unterstützt wurden vor allem Milizionäre von Mohammed Dahlan, einem der dubiosesten palästinensischen Warlords. Dahlan war seit der Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde einer der Hauptverantwortlichen für die Repressionspolitik der Fatah, lange Zeit leitete er eine paramilitärisch-geheimdienstliche Organisation mit dem bezeichnenden Namen »Präventive Sicherheit«. Er nutzte seine Position für kriminelle Geschäfte und entledigte sich seiner Konkurrenten von der Hamas, aber auch innerhalb der Fatah, zuweilen durch politische Morde.

Dahlan verkörpert all das, was die Palästinenser an der Fatah hassen. Deshalb behauptet die Hamas, ihr Kampf habe sich nicht gegen die Fatah, sondern allein gegen »Kollaborateure Israels und der USA und Verräter« gerichtet, wie al-Aqsa TV betonte. Dahlan, der sich während der Kämpfe in Ägypten aufhielt, wurde nicht namentlich genannt, auch nicht von Hanija, der erklärte, politische Morde hätten »die Menschen zu einer Reaktion gezwungen« und es sei »voreilig«, deshalb die Koalitionsregierung aufzulösen. Die an Scheinheiligkeit kaum zu überbietende Forderung, nach der gewaltsamen Machtübernahme in Gaza an der Regierung der Westbank beteiligt zu bleiben, hat Abbas zurückgewiesen.

Unterstützt wurde Hanija jedoch von der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC). Dass Abbas ein neues Kabinett gebildet hat, verschaffe »Israel und jenen, die den Friedensplan nicht implementieren wollen, eine gute Entschuldigung«, sagte der malaysische Außenminister Syed Hamid Albar, dessen Land derzeit den Vorsitz der Organisation innehat. Diese Aussage dürfte nicht die Ansicht aller 57 Mitgliedsstaaten wiedergeben, doch Saudi-Arabien, das großen Einfluss in der OIC hat, und einige andere reaktionäre islamische Regierungen scheinen nicht unglücklich über den Sieg der Hamas zu sein. Das könnte den Druck, Verhandlungen mit den neuen islamistischen Herren Gazas aufzunehmen, verstärken.

Neben der Übernahme des Anteils der Fatah an den Profiten der Kriegswirtschaft scheint dies ein Hauptziel der Hamas zu sein. Die Koalitionsregierung mit der Fatah hat den Boykott nicht beendet, nun aber sind die Islamisten de facto die Repräsentanten von 1,3 Millionen Palästinensern. Der Gaza-Streifen ist abhängig von Nahrungsmittellieferungen, Wasser und Energie strömen aus Israel in die Enklave, und die Unwra, eine Unterorganisation der Uno, unterstützt 85 Prozent der Einwohner. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Hamas schon bald eine humanitäre Krise provozieren wird, um Gespräche zu erzwingen.

Wie ihr strategisches Vorbild, die libanesische Hizbollah, gebietet die Hamas nun über ihr eigenes Territorium. Sie kann auf eine informelle Anerkennung hoffen und weiterhin Raketen auf Israel schießen. Und sie hat auf Jahre hinaus jede Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses zerstört.

Der Sieg in Gaza bedeutet allerdings auch einen Machtverlust in der Westbank, wo die Fatah ihre politische und militärische Hegemonie wahrscheinlich halten kann. Zudem hat die Hamas zweifellos an Sympathien in der Bevölkerung verloren, möglicherweise wird sogar die Anziehungskraft islamistischer und nationalreligiöser Ideologien sinken. Dass Palästinenser aus Gaza versuchen, nach Israel zu fliehen, ist ein erstes Zeichen dafür, dass viele genug haben von den »Brüdern« und ihren Kriegen.