Eine Frage von Gewicht

Beim Verfassungsgipfel in Brüssel wollen Europas Staats- und Regierungschefs vor allem eines verhindern: neue Volksabstimmungen, die das Projekt ein weiteres Mal stoppen könnten. von korbinian frenzel, brüssel

Als am Donnerstag der vergangenen Woche das Dokument aus dem Berliner Bundeskanzleramt in den Regierungszentralen der anderen 26 EU-Ländern eintraf, staunten manche nicht schlecht. In der Liste, die nach sechsmonatigen geheimen Verhandlungen die strittigen Punkte des morgen beginnendem EU-Gipfels zur Lösung der Verfassungskrise aufführt, fand sich kein Wort zur zentralen Forderung der polnischen Regierung nach einer neuen Stimmengewichtung im Ministerrat.

Erst Anfang voriger Woche hatte Polens Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski eine Änderung der Stimmengewichtung als zentrale Forderung seines Landes bei den Neuverhandlungen erhoben, um Polens Einfluss zu erhöhen und vor allem jenen Deutschlands zu begrenzen. »Merkel pokert«, hieß es nun etwa im belgischen Außenministerium zu der Entscheidung, die umstrittene Forderung der Gebrüder Kaczynski einfach unter den Tisch fallen zu lassen.

Offenbar, so das Kalkül in Berlin, sollen die Polen dadurch bereits formal isoliert werden. Bisher erhalten sie lediglich von der tschechischen Regierung halbherzige Unterstützung bei ihrem Vorschlag, das Prinzip der doppelten Mehrheit durch ein eigenes Modell abzulösen.

Während die Verfassung für Entscheidungen eine Mehrheit von 55 Pro­zent der Mitgliedsstaaten fordert, die 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren, wollen die Polen eine Stimmengewichtung, die aus der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl des jeweiligen Staates geteilt durch seine Landesfläche errechnet wird.

Das klingt kompliziert, doch das Ziel ist klar: Der Abstand zwischen Polen mit seinen 36 Mil­lionen Einwohnern zum 82 Millionen Bürger zählenden Deutschland würde sich dadurch deutlich verringern, statt mehr als doppelt so groß wäre somit das Gewicht Deutschlands nur noch 1,5 mal so groß wie das Polens.

Mit seinem Vorhaben verärgert Polen aber nicht nur die Bundesregierung, es durchkreuzt auch in letzter Minute die Gipfel-Strategie führender EU-Mitgliedsstaaten. Denn bis ins »europaskeptische« Lager um Tony Blair hinein galt bis dato die Maxime, keine neuen Themen aufzunehmen, sondern innerhalb der bestehenden Verfassung so weit wie nötig zu kürzen und zu streichen. Der polnische Vorschlag, so die Befürchtung, könne Begehrlichkeiten an allen Ecken und Enden hervorrufen.

»Wenn wir an die Inhalte gehen, öffnen wir die Büchse der Pandora, die kriegen wir nicht wieder zu«, befürchtet eine Mitarbeiterin der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel. Die Verhandlungs­maxime für die kommenden zwei Tage skizziert sie so: »Es muss so viel wie möglich von der Verfassung erhalten bleiben, es darf aber nicht wie eine Verfassung aussehen.«

Die Umetikettierung der Europäischen Verfassung zu einem »Änderungsvertrag« soll den neun der 27 EU-Mitglieder entgegenkommen, die den Verfassungsvertrag von 2004 noch nicht ratifiziert haben – allen voran Frankreich und die Niederlande, deren Bevölkerungen 2005 die Verfassung in Referenden abgelehnt haben. Andere skeptische Mitglieder wie Großbritannien und Dänemark brachen daraufhin den Ratifizierungsprozess ab.

Mit einem neuen, um einige Punkte reduzierten Vertrag, der bereits während der portugiesischen Präsidentschaft im kommenden Herbst als »Vertrag von Porto« abgeschlossen werden könnte, wäre ihnen sehr geholfen. Denn für einen schlichten Vertrag zur Änderung des bestehenden EU-Reglements müsste man die Bevölkerung nicht befragen. Eine Ratifizierung allein durch die Zustimmung der jeweiligen Parlamente hat man in diesen Ländern schließlich auch beim »Vertrag von Nizza« im Jahr 2000 vorgenommen.

In Merkels Dokument ist zu erkennen, wie die Verfassung eingedampft werden könnte, ohne de facto zu viel an Substanz einzubüßen. Vor allem für Niederländer und Briten will man auf Verfassungsfolklore und jedes Anzeichen eines europäischen Superstaats verzichten. Die Verfassung wird nicht mehr Verfassung heißen, Europa-Hymne und EU-Flagge als gemeinsame Symbole werden wohl aus dem Vertrag herausgestrichen.

Ändern wird dies wenig. Bereits jetzt werden sie täglich verwendet. Fallen dürfte auch der Artikel, demzufolge EU-Recht immer Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten hat. Doch auch hier dürfte es sich lediglich um einen kosmetischen Akt handeln, denn im Vertrags­protokoll soll nach Informationen der Zeitung European Voice stattdessen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verwiesen werden. Der entschied bereits 1964, dass EU-Recht nationales Recht stets bricht.

Umstritten ist die Frage, wie die EU- Charta der Grundrechte künftig im EU-Recht festgelegt werden soll. In der Verfassung hätte sie den gesamten zweiten Teil des Textes ausgemacht, derzeit denkt man auch hier über eine »Fuß­noten-Lösung« nach. Aus Sicht von Euro­pa-Rechtlern kein Problem, die Rechtsverbindlichkeit sei auch so gegeben und somit seien die Rechte für jeden EU-Bürger direkt einklagbar. Pervenches Beres, französische sozialistische Europa-Abgeordnete, bezweifelt hingegen, dass ein schlichter Verweis ausreichen würde.

Ihre italienische Parlamentskollegin Monica Frassoni warnt vor einer anderen Lösung, über die in den Tagen vor dem Gipfel diskutiert wurde: eine Ausstiegsklausel für Großbritannien, sollte die Charta der Grundrechte direkt in den Vertrag aufgenommen werden. Fundamentale Rechte, so die grüne Fraktionschefin, dürften nicht zum Auswählen à la carte sein.

Während eines Treffens nationaler Parlamentarier mit Europa-Abgeordneten Anfang der vergangenen Woche hatte die britische Labour-Delegation hingegen eine klare Ansage aus der Downing Street zu übermitteln: Mit einer integrierten Charta der Grundrechte komme Großbritannien um ein Referendum nicht herum – und dass dieses scheitern würde, wäre so sicher wie der Glockenschlag des Big Ben.

Wording wird angesichts dieser Planun­gen zur zentralen Aufgabe des Gipfels: hier ein biss­chen weniger Wettbewerb für die französische Öffentlichkeit, dort etwas zum Klimawandel. Einen europäischen Außenminister zum Beispiel könnte es am Ende der Verhandlungen sogar weiterhin geben, allerdings wohl nicht unter diesem aussagekräftigen Titel. Wenn nicht noch alles aufbricht angesichts der polnischen Veto-Drohung, der sich andere anschließen könnten, wird sich die EU auf ihre bewährte Arbeitsweise einigen – auf Formelkompromisse im Hinterzimmer, ohne Beteiligung der Öffentlichkeit oder auch nur der Parlamente.

Die offene Methode, mit der vor vier Jahren die Europäische Verfassung in einem Konvent entworfen wurde, ist wieder ersetzt worden durch die so genannten Sher­pas, die stillen Emissionäre ihrer Regierungen. »Diplomaten, keine Politiker«, wie Johannes Voggenhuber, der Vizevorsitzende des Verfassungsausschusses im Europa-Parlament betont. Doch am Ende könnte dieser Weg gerade auch dem Parlament in einem neuen Vertrag deutlich mehr Einflussmöglichkeiten und Rechte zusprechen, als es die Bevölkerungen bereit waren zu tun. Vog­genhuber meint: »Im Idealfall können wir am Ende sagen: besser das als gar nichts!«