Hier beginnt die Reise

Während die Länder der EU im Kampf gegen »illegale« Einwanderung immer enger ­zusammenarbeiten, zeigt die Situation auf Malta, dass die totale Abschottung Europas unmöglich ist.

Immer, wenn die ersten Flüchtlingsboote an der Küste Maltas landen, ist das ein Zeichen dafür, dass der Sommer nicht mehr weit ist. So füllen seit Wochen die Bilder von geretteten Kindern und Frauen, von erschöpften Menschen in Schwimmwesten, von überfüllten Booten und auf dem Wasser treibenden toten sowie lebendigen Körpern die Titelseiten der maltesischen Tageszeitungen.

Ende Mai etwa rettete ein spanischer Fischdampfer 26 Migranten und Migrantinnen in libyschen Gewässern, wie es nach offiziellen Angaben hieß. Die maltesische Regierung verweigerte dem Boot die Anlandung. Nach langen Verhandlungen entschied die spanische Regierung, die 26 Flüchtlinge aufzunehmen. Nur wenige Tage darauf zog das französische Kriegsschiff »Motte-Picquet« die Leichen von 21 Flüchtlingen aus dem Mittelmeer. Selbst tot durften sie in Malta nicht an Land. Die Regierung verbot den Franzosen die Einfahrt in den Hafen.

Im Zentrum der Kritik

Kaum ein Tag vergeht ohne ein neues Drama, ohne einen Schiffbruch auf offener See, ohne die Ankunft eines Bootes auf der nur 316 Quadratkilometer großen Insel, die etwa 90 Kilometer südlich von Sizilien und 360 Kilometer nördlich der libyschen Küste im Mittelmeer liegt. Das Thema »illegale Einwanderung« beherrscht das tagespolitische Geschehen, und die Ereignisse der vergangenen Wochen brachten Malta ins Zentrum der Kritik in der europäischen Öffentlichkeit.

Nachdem Ende Mai ein italienisches Marineschiff 27 Personen an Bord genommen hatte, die sich bereits drei Tage lang an einem Schleppnetz eines maltesischen Bootes auf offener See festklammerten, kritisierte selbst EU-Justizkommissar Franco Frattini die maltesische Regierung. Drei Tage trieben die Flüchtlinge auf dem Wasser, während Malta und Libyen darüber stritten, wer denn nun für deren Aufnahme zuständig sei. Frattini mahnte, dass jedes Schiff verpflichtet sei, Leben zu retten: »Dazu besteht nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch eine juristische.«

In der vorigen Woche trafen sich dann die EU-Innenminister zu Gesprächen in Luxemburg. Der maltesische Innenminister Tonio Borg forderte bei diesem Treffen, dass die »illegalen« Flüchtlinge, die in internationalen oder nicht-europäischen Gewässern gerettet würden, auf alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verteilt werden sollten. »Lassen sie es mich klar und eindeutig sagen. Malta wird sich nicht einlullen lassen und der einzige Außenposten der südlichen EU-Grenzen werden.«

Der Vorschlag wurde zunächst mit verhaltenen und unterschiedlichen Reaktionen aufgenommen. Ein wichtiges Gegenargument war, dass eine solche proportionale Aufteilung zwischen den EU-Mitgliedsstaaten dazu führen könnte, dass es zu mehr »illegaler« Einwanderung nach Europa kommt: »Illegale Einwanderer auf europäischem Boden zu verteilen, wäre ein schlechtes Signal, es würde ungefähr dasselbe heißen wie: ›Kommt zu uns, wir retten euch und teilen euch unter uns auf‹.‹‹

Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Baroso hingegen versprach während eines kurzen Besuchs auf Malta am Freitag, sich bei dem Treffen der 27 europäischen Mitgliedsstaaten am 21. Juni für eine größere Unterstützung Maltas einzusetzen. Auch machte er erneut darauf aufmerksam, dass er eine gemeinsame EU-Immigrationspolitik für wichtig und unabdingbar halte.

Die verantwortlichen maltesischen Politiker und Militärs hatten in den vergangenen Wochen wiederholt auch in europäischem Rahmen darauf verwiesen, dass der kleine, dicht besiedelte Staat nicht mehr tun könne, als seine Pflicht zu erfüllen, und mit der Ankunft von jährlich etwa 1 500 bis 2 000 Bootsflüchtlingen seit dem Jahr 2002 schon überfordert sei. Durch den EU-Beitritt im Jahr 2004 ist die Mittelmeerinsel mit ihren nur 415 000 Einwohnern an die Verträge von Dublin gebunden, wonach jedes europäische Land für die Behandlung aller Erstanträge von Asylbewerbern verantwortlich ist.

Trotz aller internationalen Kritik an ihrer unnachgiebigen politischen Linie und den Menschenrechtsverletzungen kann sich die christdemokratische Regierung unter Premierminister Lawrence Gonzi bei diesem Thema auf die Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition und der Mehrheit der Bevölkerung verlassen.

»Immerhin sind wir hier frei«

»In Malta gibt es gute Leute, aber manche Leute sind richtig schlimm«, erzählt Farouk* aus dem Sudan. »Sogar in der Internierungshaft nach meiner Ankunft gab es Soldaten, die sich wie Brüder benommen haben. Andere waren üble Rassisten. Manchmal werde ich in Bars gar nicht ’reingelassen. Die Türsteher fragen mich nach meinem Personalausweis, und wenn ich ihnen meine ID-Karte zeige, sehen sie, dass ich ein klandestin bin, dann sagen sie mir, sie würden nur Malteser ’reinlassen. Manchmal hält der Bus nicht an, wenn nur Schwarze an der Haltestelle warten, und als ich eine Wohnung mieten wollte, habe ich keine gefunden. Die Malteser haben Angst vor uns. Aber es gibt auch solche, die uns gut behandeln. Ich werde den Soldaten, die mein Leben gerettet haben, immer dankbar sein.«

Wir treffen Farouk in einem der Asylbewerberheime im Süden der Insel. Die Zeltstadt im Ort Hal Far ist das größte »Open Center« auf Malta. Hier leben etwa 700 Migranten und 50 Migrantinnen in Militärzelten, die je 24 Personen in Stockbetten beherbergen können. »Es ist nicht einfach hier«, erzählt Farouk weiter. Er schmunzelt ein wenig und hebt seinen durchdringenden Blick. »Schaut doch selbst, sieht aus wie ein Flüchtlingslager in Afrika, oder? Aber immerhin sind wir hier frei, das ist das wichtigste.«

Farouk wurde nach seiner Ankunft auf Malta ein Jahr lang inhaftiert. Immer wieder betont er, dass es eine der härtesten Erfahrungen seines Lebens war. Vor knapp sechs Monaten wurde er aus der Haft entlassen. Ursprünglich wollte er nach Italien, um sich dann bis nach Belgien durchzuschlagen.

»In Malta gibt es kaum Möglichkeiten, und alles ist sehr schwierig hier. Ich kann zwar mit dieser maltesischen ID-Karte ins europäische Festland reisen, aber ich kann dort nicht leben. Manche bleiben illegal, leben ohne Papiere, aber das ist kein einfaches Leben. Andere schmieren sich Chemikalien auf ihre Finger und Hände, um ihre Fingerabdrücke zu verfälschen. Dann beantragen sie noch mal Asyl. Aber auch das klappt nicht immer.«

In Malta werden alle »illegalen« Flüchtlinge nach ihrer Ankunft zwischen 12 und 18 Monate lang in Haft genommen. Die Regierung verweigert seit jeher der internationalen Presse den Zugang zu den Haftanstalten, und die wenigen NGO, denen der Zutritt gewährt wurde, beklagen die alarmierenden Verhältnisse dort. Im Jahr 2004 wurde ein friedlicher Protest in der Haftanstalt Hal Safi brutal niedergeschlagen. Bei einer Untersuchung der Ereignisse wurde zwar festgestellt, dass die Soldaten »exzessive Gewalt« angewandt hatten, aber zur Verantwortung wurde niemand gezogen.

Im vorigen Jahr wurde einer Delegation des ­Eu­ropa-Parlaments der Zutritt zu den zwei großen Haftanstalten gewährt. Sie verurteilte die Lebensbedingungen in den Haftanstalten und forderte sogar deren Schließung. Die Inhaftierungspolitik veränderte sich seitdem kaum. Die Inhaftierung der klandestini soll nach Aussagen von Justizminister Borg einerseits der Feststellung der Identität der illegalen Flüchtlinge, andererseits aber auch als Abschreckung dienen. Niemand soll denken, dass ihn ein schönes Leben auf Malta erwartet.

»Open Center«, kleines Dorf und Ghetto zugleich

Dabei ist Malta gar nicht das erwünschte Ziel der meisten Flüchtlinge. Tesfa*, ein Lehrer aus Eritrea, zum Beispiel, erzählt, dass er zweimal versucht habe, nach Europa überzusetzen. Beim ersten Mal sei das Boot auseinander gefallen, als es das offene Meer erreichte. Tesfa schaffte es, zurück an die libysche Küste zu schwimmen. Wie fast alle klandestini wollte er es bis nach Italien schaffen, bis nach Lampedusa, Sizilien, auf den Kontinent Europa eben. Das Boot schaffte es jedoch nur bis Malta. Hier saß er neun Monate in Haft. »Wir waren etwa 30 Personen in einem Zelt. Im Sommer wurde es sehr heiß, und im Winter habe ich ständig gefroren. Wenn es regnete, wurden unsere Matratzen nass. Es gab sehr wenige Toiletten, vielleicht eine für 100 Personen. Aber das schlimmste war, nicht frei zu sein. Ständig denkst du, verrückt zu werden. Du liegst auf deinem Bett und starrst den ganzen Tag die Decke an. Du verlierst jede Hoffnung. Ich habe Leute gesehen, die wahnsinnig geworden sind da drinnen.«

Tesfa treffen wir im zweitgrößten Asylbewerberheim in der Nähe von Valetta. Das Marsa »Open Center« war ehemals eine Schule und liegt direkt neben dem Frachthafen. Es besteht seit vielen Jahren und hat fast den Charakter eines kleinen Dorfes. Es gibt kleine Läden und die verschiedenen Communities haben kleine Restaurants eröffnet. In diesem »Ghetto« leben etwa 700 Männer in oft schlechten hygienischen Verhältnissen.

Tesfa selbst hat mittlerweile eine Wohnung gefunden, aber er kommt hier noch gerne her, um mit Freunden in dem eritreischen Restaurant Karten zu spielen. Ungefragt beginnt er von Isaas* zu erzählen, einem Freund aus Eritrea, für den er oftmals übersetzt hat, während sie zusammen in Haft waren. »Isaas litt an schwerem Asthma. Es war kalt in den Zelten und staubig. Immer wenn er ins Krankenhaus musste, brachten die Militärs ihn in Handschellen. Ihr könnt euch vorstellen, wie entwürdigend das ist. Alle Leute glotzen und denken, dass du ein Krimineller bist. Einmal mitten in der Nacht hatte er einen sehr schweren Asthmaanfall und starb. Sein Tod hätte sehr einfach verhindert werden können.« Tesfa trinkt von seinem Kaffee. Isaas’ Geschichte ist nur eine von vielen.

Später diskutieren wir angeregt über die Gründe für die greifbare Furcht der Menschen auf Malta vor den klandestini. Sicherlich stellt die Ankunft der Bootsflüchtlinge die kleine dicht besiedelte Inselgruppe vor verschiedene Probleme. Die mitunter unmenschliche Politik der Abschreckung und der Inhaftierung bereitet dem weit verbreiteten Rassismus einen fruchtbaren Nährboden. Für die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl zeigen die Fälle der vergangenen Wochen jedenfalls »die zunehmende Entmenschlichung der EU-Politik«.

Diese versucht, in naher Zukunft auf eine Verstärkung der EU-Grenzschutzagentur Frontex hinzuarbeiten. Deren Verantwortliche hatten nur wenige Tage vor den Vorfällen Ende Mai angekündigt, dass die Mittelmeeranrainer enger zusammenarbeiten würden, um die Südgrenze der EU abzuschirmen. Diese Koordination habe »im konkreten Fall nicht sehr gut funktioniert«, musste EU-Justizkommissar Franco Frattini jetzt eingestehen.

Anscheinend verlieren die europäischen Beamten nicht den Glauben daran, dass die Migration nach Europa doch noch vollständig unterbunden oder zumindest minimiert werden kann. Bis heute jedenfalls gibt es keine Anzeichen hierfür. Viele tausend Menschen sind bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Europa zu erreichen. Unzählige sterben dabei, und viele erreichen die Kanarischen Inseln oder Sizilien. Und offenbar kann selbst die Vorstellung, in Malta zu landen, sie nicht davon abhalten, sich auf den Weg zu machen.

*Alle Namen geändert