Liebling Gramsci

Er gilt als samtener Revolutionär. Aber hat man es nicht eigentlich mit einem hartgesottenen Stalinisten zu tun? Über die neuere Rezeption Antonio Gramscis und den »nationalen Weg zum Sozialismus«. von axel berger

Anlässlich des 70. Todestags von Antonio Gramsci haben alle möglichen linken Medien der Rezeption des offensichtlich derzeit beliebtesten Kommunisten breiten Raum verschafft. Handelte es sich nur um das aktuellste Beispiel der mittlerweile schon relativ lang anhaltenden Gramsci-Mode, die mit vielen anderen linken Heiligenverehrungen vor allem teilt, dass sie einer historischen Einordnung oder kritischen Aufarbeitung zumeist fern bleibt, so verdiente dies keine weitere Erwähnung. In der jüngeren Vergangenheit diente das Hantieren mit Stichworten wie »Hegemonie«, »historischer Block« oder »Zivilgesellschaft« auch bei sich selbst als radikal verstehenden Gruppen zumeist eher der oberflächlichen Deckung einer immer weniger reflektierten Bündnispolitik oder gar des Marsches in die Institutionen, wobei der fragmentarische Charakter der »Gefängnishefte« und die sicherlich zumindest teilweise der Zensur geschuldete seltsam anmutende Terminologie des zehn Jahre Eingekerkerten insofern hilfreich waren, als sie einen nahezu beliebig anwendbaren Zitatenschatz eröffneten.

Man kann daher eigentlich nur dankbar sein, dass nun, angestoßen von traditionalistisch orientierten Marxisten wie Domenico Losurdo oder aber zuletzt Luciano Canfora und Hans Heinz Holz, eine realistischere Gramsci-Rezeption eingeleitet worden ist, die den Verehrten eventuell auch vielen seiner Anhänger entfremden könnte.

Palmiro Togliatti, der langjährige Gefährte Gramscis und sein Nachfolger als KPI-Chef, hob in seinem Nachruf aus dem Jahre 1937 auf den kurz zuvor in Folge der faschistischen Haft gestorbenen Genossen ein Verdienst besonders hervor: Während seines einjährigen Aufenthalts in der Sowjetunion habe er sich in der »Schule Lenins und Stalins« zum Parteiführer stählen und anschließend die Bolschewisierung der Partei gegen das dominierende »Linkssektierertum« Amadeo Bordigas durchsetzen können. Demgegenüber war über 40 Jahre später der Beginn der Gramsci-Lektüre in der BRD und vielen anderen westlichen Ländern davon geprägt, gerade einen sich vom Bolschewismus abhebenden parlamentarisch-demokratischen Weg zum Sozialismus zu suchen, für den der mittlerweile zur Vorzeigepartei des Eurokommunismus konvertierte PCI nun wiederum seinen ehemaligen Vorsitzenden als Kronzeugen bemühte.

Welche Sicht wird nun aber Gramsci gerecht? War Togliattis Nachruf auf dem Höhepunkt der stalinistischen Repression gegen die kommunistische Bewegung nur taktisch begründet, oder sitzen die Freunde der Zivilgesellschaft einem hartgesottenen Stalinisten auf?

Man könnte eine solche Fragestellung getrost Historikern oder Exegeten überlassen, wenn nicht die Gramsci-Rezeption hochgradig politisch geführt würde. Nicht nur einzelne Sozialdemokraten und vor allem der Linkspartei nahe stehende Intellektuelle wie Sabine Kebir versuchen, aus dem Steinbruch der hinterlassenen Fragmente neue Aufschlüsse für ein Wirken innerhalb des bürgerlichen Staats zu gewinnen, sondern auch in der außerparlamentarischen Linken wird Gramsci immer wieder als »Klassiker« zur Aufwertung der eigenen Anschauungen bemüht. Während hier insbesondere der Herausgeberkreis der Gefängnishefte um Wolfgang Fritz Haug den Sarden als Stichwortgeber der demokratischen »Neugründung« eines westlichen Marxismus und des Abschieds vom Leninismus feiert und mancher Antiautoritäre dies nur allzu gerne glauben will, beanspruchen neuerdings auch wieder Traditionalisten wie Canfora, Holz und Losurdo sein Erbe für sich.

Im Zentrum ihrer Betrachtungen steht das Verhältnis des italienischen KP-Mitbegründers zu den unterschiedlichen Bedingungen revolutionärer Politik in Russland und West­europa, tatsächlich auch die conditio sine qua non zum Verständnis Gramscis. Vor allem Canfora weist hier auf den meines Erachtens nach zentralen Aspekt hin, dessen widersprüchliche Bedeutung er selbst jedoch nicht weiter ausführt. Zu Recht konstatiert er, dass es gerade Gramscis intensive Beschäftigung mit den »nationalen Besonderheiten der italienischen Lage« war, die den Politiker gegen die Mehrheit der innerhalb der Komintern linksoppositionellen zweitgrößten Mitgliedspartei an die Seite Stalins und schließlich an die Spitze der nun von ihm »bolschewisierten« KPI führte, dass es also gerade die Betonung eines eigenständigen italienischen Weges war, die die Unterordnung unter die sowjetische Politik des »Aufbaus des Sozialismus in einem Lande« begründete. Und Holz fügt unterstützend hinzu, dass sich gerade in der Anwendung der bolschewistischen Parteitheorie auf die italienische Wirklichkeit Gramscis Leninismus bewährt habe.

Diese scheinbare Paradoxie lässt sich erst durch einen Blick auf die Frühphase der kommunistischen Bewegung auflösen, der auch zu erklären vermag, warum auf den ersten Blick so verschiedene Strömungen Gramsci für sich reklamieren können. Denn wie für kommunistische Intellektuelle der zwanziger Jahre typisch, blieben auch dessen theoretische Arbeiten in den Differenzen seiner Zeit verortet und sind auch nur aus diesen heraus zu verstehen.

Die Kristallisierung verschiedener Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Internationale betraf zunächst fast ausschließlich die unterschiedliche Beantwortung zweier Fragen: zum einen, ob die russischen Erfahrungen auf Westeuropa übertragen werden könnten, und zweitens, in welchem Maße die sowjetischen außenpolitischen Anforderungen die Politik der Komintern-Mitgliedsparteien beeinflussen sollten. Das Verständnis der Ambivalenz eines »westlichen Marxismus« ergibt sich jedoch erst aus der Kenntnis darüber, dass diese die Diskussionen keineswegs gleichzeitig dominierten. So stand in den revolutionären Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zunächst vor allem die Konstitution revolutionärer Parteien im Vordergrund, wobei den russischen Vorstellungen bei aller Begeisterung für die Oktoberrevolution ein dezidiert westeuropäischer Marxismus gegenüber stand. Dieser Konflikt, der in Lenins Schrift über den »linken Radikalismus« und der Antwort des holländischen Linkskommunisten Hermann Gorter gipfelte, kann an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.

Im Gegensatz zu dem aber, was heute zumeist unter westlichem Marxismus verstanden wird, handelte es sich hier in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs um einen primär demokratisch besetzten Begriff. Vielmehr definierte er sich in der Tradition Luxemburgs und der holländischen Theoretiker Anton Pannekoek und Herman Gorter antiautoritär, autonom und internationalistisch. Nicht die Partei stand im Zentrum der Revolutionstheorie, sondern die Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse, was sich vor allem aus der Möglichkeit, aber auch Notwendigkeit des autonomen Agierens von allen anderen Gesellschaftsklassen – also auch und gerade den Bauern – ergab und auch die Ablehnung jeglichen nationalen Bündnisses einschloss. Das »Westliche« daran bestand lediglich darin, die Erfahrungen des höchstmöglichen Niveaus der Klassenauseinandersetzungen als Status quo der kommunistischen Theoriebildung zu fixieren.

Während diese maximalistische Strömung, die in Deutschland, Holland und England die kommunistischen Parteien zumindest zeitweise dominiert hatte, zwischen 1919 und 1921 aus diesen verdrängt wurde, verlief die Entwicklung in Italien nicht nur zeitversetzt, sondern differierte genau deshalb auch in der Fragestellung. Die Gründung und Konsolidierung der außerhalb Russlands immerhin zweitstärksten Komintern-Partei war hier nach dem Höhepunkt der »roten Jahre« erfolgt, und so stand von Anbeginn die Frage des Agierens in einer nicht unmittelbar revolutionären Umgebung zur Debatte.

Dass dabei das zunächst dominierende Bündnis der »Absentionisten« um Bordiga, die Lenins Parteitheorie teilten, aber alle taktischen Bündnisse und die Teilnahme an den Wahlen ähnlich wie die deutsch-holländischen Maximalisten verwarf, und Gramscis Gruppe um die Zeitschrift L’Ordine Nouvo zerbrach, war der zunehmenden Dominanz der Interessen Sowjetrusslands geschuldet. Außenpolitisch isoliert, suchte sie nach möglichst starken Bündnispartnern in Westeuropa, was eine flexiblere Politik der kommunistischen Parteien erforderte, die sich auch der konstruktiven Mitarbeit in der bürgerlichen Gesellschaft nicht länger verweigern sollten, vor allem wenn dadurch der Ring der Feinde Sowjetrusslands durchlöchert werden konnte.

In Italien wurde dabei das Exempel statuiert, das in der Folge Schule machen sollte. 1923 setzte die Komintern die Führung ab und übergab diese den als »elastischer« geltenden Mannen um Gramsci und Togliatti. Auf dem V. Kongress erfolgte dann die endgültige Abrechnung. Die »Vorliebe für revolutionäre Posen« wurde per Dekret durch die Mitarbeit in den Gewerkschaften, die Teilnahme an den Parlamentswahlen und vor allem die Bildung antifaschistischer Komitees ersetzt und die Partei auf bedingungslose Gefolgschaft gegenüber Moskaus Kurs getrimmt, der sich in der Folge allerdings noch mehrmals ändern sollte.

Bordigas verzweifelter Appell, nicht Russland möge die Komintern, sondern diese und die revolutionären Prinzipien mögen die Sowjetunion regieren, ging in Gramscis Versprechen, fortan »die führende Funktion« der russischen Partei anzuerkennen und die Politik nach den nationalen Gegebenheiten auszurichten, unter. Was im Nachhinein als »westeuropäischer Weg zum Sozialismus« erscheinen sollte, stellte so geradezu die Negation der Erfahrungen der Revolutionen in den entwickelten Ländern dar: eine »Nationalisierung« der jeweiligen Politik in völliger Abhängigkeit von Moskau.

Die historische Rolle Gramscis als Stalinisierer der KPI wäre für die Entwicklungen heutiger Strategiedebatten völlig irrelevant, würde sie sich nicht in den gefeierten theoretischen Versatzstücken widerspiegeln. Man täte Gramsci Unrecht, wenn man ihn mit den beliebig wandelbaren späteren Parteiführern in einen Topf werfen würde. Nicht nur, dass er die Ende der zwanziger Jahre erfolgte erneute Linkswendung im Gegensatz zu dem ihm intellektuell weit unterlegenen Togliatti kritisierte, deutet darauf hin, dass es sich bei ihm um einen eigenständigen marxistischen Denker handelte, sondern auch, dass der Politiker vom Theoretiker nicht zu trennen ist, wie Canfora und Holz gleichermaßen zu Recht verdeutlichen.

Die Hinwendung zur konstruktiven Mitarbeit, von Losurdo als »Kommunismus ohne Utopie« charakterisiert, die sich theoretisch in den Konzepten des »Stellungskrieges«, des an unterschiedlichen nationalen Voraussetzungen gebundenen Kampfes um die »Hegemonie« und des konstatierten Bedeutungsgewinns der »Zivilgesellschaft« seit 1917 begrifflich niederschlägt, war tatsächlich einer neuen historischen Situation geschuldet. Die Zeit der »relativen Stabilisierung« nach der revolutionären Nachkriegswelle und die Isolation des »Mutterlandes der Weltrevolution«, das Russland in den Augen der meisten Kommunisten noch immer darstellte, warf Über­legungen hinsichtlich der Möglichkeiten des Agierens einer Weltrevolutionspartei in nicht revolutionären Zeiten notwendig auf.

Es ist hier zu berücksichtigen, dass es sich bei allem, was heute unter »Gramscianismus« firmiert, um theoretische Reflexionen der Zeit seit 1924 handelte, die ihren, wenn auch durch die Bedingungen diktierten, vorläufigen Schliff erst in den »Gefängnisheften« erhielten. Und: Sicherlich hat trotz des fragmentarischen Charakters kaum ein zeitgenössischer kommunistischer Politiker ähnlich akribisch an einer Transformation des Leninismus als »Wissenschaft des Bewegungskrieges« in eine des »Stellungskrieges« gearbeitet.

Nicht notwendig, auch wenn dies von seinen heutigen Apologeten gern suggeriert wird, war dagegen die Richtung, die Gramsci bei dem Versuch der Neubestimmung kommunistischer Strategie in nicht revolutionären Zeiten einschlug. Was neben vielen gehaltvollen Betrachtungen zur zeitgenössischen italienischen Philosophie und zur Geschichte des Marxismus dabei herauskam, war eine Art leninistischer Revisionismus.

Wie Eduard Bernstein seinerzeit zweifellos vorhandene bürgerlich-revolutionäre und deterministische Elemente des ursprünglichen Marxismus einseitig betont hatte, um auf die überraschende Stabilität des Kapitalismus zu reagieren, so verfuhr nun Antonio Gramsci mit seinem großen Lehrmeister Lenin. In drei wichtigen Politikfeldern radikalisierte er eine zweifelsohne vorhandene Tendenz des Bolschewismus, die im Ergebnis aber eine völlig andere Orientierung zur Folge hatte.

Dies betraf erstens eine Umorientierung in der damals breit diskutierten Staatsfrage. Entgegen Lenins »linkester« Schrift »Staat und Revolution« stellte Gramsci nicht die Abschaffung der Staatlichkeit in den Mittelpunkt der proletarischen Bewegung, sondern gerade ihren Ausbau zu »organischen Staatswesen«. Oder, wie es in den von ihm erstellten Thesen von Lyon hieß: »Sein Klassenprogramm (das des Proletariats, A.B.) ist das einzige, das nicht dazu führt, die Kontraste zwischen den verschiedenen Elementen der Wirtschaft und der Gesellschaft zu vertiefen und die staatliche Einheit zu zerbrechen.« Dass hier auch schon die Idee gemischter Wirtschaften vorweggenommen wurde, sei nur am Rande erwähnt.

Zum zweiten, aber engstens mit der Staatsfrage verschränkt, wurde die ideologiekritische Funktion der Kommunistischen Partei durch einen von Funktionären getragenen Kampf um die »Hegemonie« ersetzt, der in der Hauptsache darin bestand, permanent taktische Bündnisse zu initiieren. Dass solche »abstrakte Organisationswissenschaft« (Christian Riechers) nur durch »organische Intellektuelle«, also (flexible) Parteikader, zu leisten ist, führte unter anderem auch zum Ausbau eines immer selbständigeren Apparats. Nach der »Bewegung der Selbstaufhebung des Proletariats«, nach Marx immerhin die Bestimmung des Kommunismus, sucht man allerdings vergeblich.

Langfristig am bedeutendsten war neben der etatistischen Wende im Denken Gramscis aber die Entwicklung eines »nationalen Weges zum Sozialismus«. Insbesondere gegen Trotzki und Rosa Luxemburg gerichtet, beharrte Gramsci darauf, dass »alle nicht nationalen Konzepte verfehlt« seien, und forderte eine »Nationalisierung« der Arbeiterbewegung und des kommunistischen Programms, um im nationalstaatlichen Rahmen hegemoniefähig werden zu können. Zudem arbeitete er in seinen Auseinandersetzungen mit den Napoleonischen Kriegen entgegen der marxistischen Tradition als einer der ersten das erhöhte Recht nationaler Selbstbestimmung gegenüber der Durchsetzung des »historischen Fortschritts« aus, das in der Folge in den ehemals kolonisierten Weltregionen fast schon zu einem Synonym kommunistischer Politik werden sollte.

Die Nationalisierung des Marxismus und der Etatismus, für die Antonio Gramsci einen der ersten und kohärentesten Kronzeugen – und zudem einen moralisch relativ unbelasteten – darstellt, erklärt auch seine heutige Attraktivität. Sie bietet konstruktive Anknüpfungspunkte sowohl für die Mitarbeit in der »Zivilgesellschaft« westlicher Demokratien als auch eines nationalrevolutionären Projekts nach Art der klassischen Befreiungsbewegungen. Insofern ist Gramsci wirklich ein »Klassiker« für alle, die in der Entwicklung von Klassenbewusstsein vor allem eine »neue Kulturstufe in der Geschichte der Nation« (Holz) erblicken. Spätestens nach der Auflösung des sowjetischen Imperiums, auf das das Konzept zugeschnitten war, sind hier aber die Streitigkeiten um die Deutungshoheit vorprogrammiert, die sich in der derzeitigen Rezeption ausmachen lassen.

Während allerlei Reformkommunisten, aber auch nach Innovation lechzende Politologen die gramscianischen Begrifflichkeiten nach Anwendbarkeit durchforsten, stellen sich orthodoxere Funktionäre auf historisch und theoretisch sichereren Grund. Wer aber unter Marxismus sowieso keine Handlungsanleitung, sondern die Kritik der Verhältnisse versteht, kann diesen Streitigkeiten beruhigt von außen zuschauen.

Antonio Gramsci ist 1891 auf Sardinien geboren, 1937 in Rom gestorben. War Mitbegründer des Partito Comunista Italiano, den er leitete. Bis zu seiner Verhaftung durch die ­Faschisten 1926 saß er im Parlament.