Nicht Recht, aber billig

Die Bundesregierung hat die Entschädigung von NS-Opfern für abgeschlossen erklärt. Ganz so einfach dürfte sie ihr Ziel aber nicht erreichen. von lars reissmann

Seit voriger Woche soll nach dem Willen der Bundesregierung endlich Schluss sein mit den Entschädigungszahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« lud am 11. Juni zur Kurato­riumssitzung mit anschließendem Fest­essen. Der Grund zum Feiern war die »Be­endi­gung der Auszahlungsprogramme«, also der Überweisungen an als Arbeitssklaven für das Deut­sche Reich ausgebeutete Menschen und alle anderen NS-Opfer.

Am nächsten Tag wurde der Abschluss­be­richt der Stiftung feierlich dem Bundespräsidenten übergeben. Alles in allem handelte es sich um ein mediales Ereignis, das zeigen sollte, dass die deutsche Regierung und Wirtschaft das den Zwangsarbeitern geschehene Unrecht wieder gut gemacht haben.

Rund 4,4 Milliarden Euro wurden an die 1,6 Mil­lionen NS-Zwangsarbeiter ausgezahlt, die im Jahr 2001 noch lebten. Die Mehrheit der Betroffenen war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben. In ihrer Rede auf Schloss Bellevue log sich Bundeskanzlerin Angela Merkel die Geschichte zurecht: »Bereits frühzeitig hat daher die Bundesrepublik Deutschland das große Leid, das zahlreichen Menschen von deutscher Seite widerfahren ist, anerkannt. Das ist und war Konsens in unserem demokratischen Gemeinwesen seit 1945.«

Seit dem verlorenen Vernichtungskrieg besteht ein solcher Konsens allenfalls hinsichtlich der deutschen Krieger und Kriegsverbrecher, die regelmäßige Rentenzahlungen erhalten. Die symbolischen Zahlungen an Opfer des Nationalsozialismus oder gar Antifaschisten konn­ten dagegen in der Bundesrepublik nur mit ho­hem außenpolitischem Druck durchgesetzt werden. Ohne die Klagen vor US-Gerichten und die Forderungen der amerikanischen Regierung wäre auch die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« nicht zustande gekommen.

In der Rede von Manfred Gentz, dem früheren Vorstands­mitglied von Daimler-Chrysler und Vertreter der deutschen Wirtschaft im Kuratorium, auf Schloss Bellevue hörte sich das so an: »Diese Solidaritätsaktion der deutschen Wirtschaft ist in dieser Form und mit der freiwilligen Sammlung von über fünf Milliarden Mark in der Welt einmalig.« Für die rechtliche Sicherheit, künftige Entschädigungsforde­rungen abweisen zu können, zahlte die unter Druck stehende deutsche Wirtschaft die Hälfte der fünf Milliarden Euro in den Stiftungsfonds. Das Geld war darüber hinaus steuerlich absetzbar, so dass unter dem Strich den NS-Opfern das Recht, ihre früheren Sklaventreiber nachträglich zur Verantwortung zu ziehen, einmalig günstig für etwa 1,25 Milliarden Euro entzogen wurde.

Die von der Stiftung bewilligten individuellen Einmalzahlungen zwischen 2 500 und 7 500 Eu­ro entsprachen bei weitem nicht den aus heutiger Sicht anzusetzenden Beträgen für die vorenthaltenen Löhne der Zwangs­arbeiter. Ihre Gesamtsumme ist lediglich ein Bruchteil des Extragewinns, den die deutsche Kriegswirtschaft durch das Sklavenarbeits­programm einstrich. Ein Schadenersatz für die erlittenen Qua­len konnten die Zahlungen sowieso nicht sein. Schließ­lich handelte es sich nicht um leichte Ver­letzungen durch Arbeitsunfälle, sondern um schwerste physische und psychische Schädigun­gen. Die Arbeitsverweigerung wurde damals mit dem Tod bestraft. Ziel der Arbeit in den Konzen­trationslagern war die Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter bis zum Tod, anderswo wurde er billigend in Kauf genommen.

Dass die Zahlungen der Stiftung teilweise geradezu üppig erschienen, lag nicht am guten Willen der Bun­des­regierung. Nur dank günstiger Wech­sel­kurse und der desaströsen wirt­schaft­lichen Verhältnisse bedeuteten die Zahlungen für die Betroffenen in Osteuropa und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion eine erhebliche finan­zielle Unterstützung. Daher war es zu­nächst auch Absicht der Bun­des­re­gie­rung, die Überweisungen in die­se Länder stark zu reduzieren, was sie aber nicht durchsetzen konnte.

Etliche Antragsteller haben kein Geld aus dem Stiftungsfonds erhalten, was offensichtlich an seiner zu geringgen finanziellen Ausstattung lag. Die Bundesregierung träumte noch im Jahr 2000 von einem wesentlich güns­tigeren Geschäft. In den Verhand­lungen konnten die Vertreter der Opfer, vor allem die US-amerikanischen Unterhändler, immerhin die Summe von insgesamt fünf Milliarden Euro erstreiten. Den Fonds aufzustocken, war und ist aber nicht vorgesehen.

Möglicherweise wegen der Unter­finanzierung wurden einige Opfergruppen von den Zahlungen ausgeschlossen, obwohl an ihrer Ausbeutung als Sklaven der deut­schen Kriegswirtschaft kein Zweifel besteht und ihre Vernichtung durch Arbeit einkalkuliert war. So wurden die italienischen Militärinternierten ebenso wenig berücksichtigt wie die sowjetischen Kriegsgefangenen. Das Bundesverfassungsgericht verweigerte in Streitfällen die rechtliche Prüfung der Ansprüche. Das Handeln und die Entscheidungen der Stiftung unterlagen damit keiner verwaltungsrechtlichen Überprüfung.

Anträge anderer noch lebender Opfer scheiterten zum Teil an organisatorischen Mängeln, denen die Bundesregierung und die Stiftung nicht entgegenwirkten, obwohl sie sich ihrer bewusst waren. Als Beispiel sei die unzureichende Arbeitskapazität bei einigen Ländervertretungen der für die An­träge zustän­digen Partnerorganisation IOM oder beim Archiv des internationalen Such­diensts in Arolsen genannt, das für das Erbringen der erforderlichen Nachweise eine wichtige Rolle spielte, genannt.

Den in Berlin propagierten Schlussstrich hinsichtlich der Entschädigungen gibt es dennoch nicht. Frühere italienische Militär­internierte haben bisher erfolgreich in Italien gegen die Bundesrepublik auf Entschädigung wegen der NS-Zwangsarbeit geklagt. Mehrere internationale Klagen wegen Vermögensschäden, die auch durch die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« abgedeckt werden sollten, sind anhängig. Burt Neuborne, selbst ein Mitglied des Kuratoriums der Stiftung, vertritt hierbei einige Kläger.

Auch die im Stiftungsgesetz nicht vorgesehene Entschädigung ziviler Opfer der unzähligen von der Wehrmacht und der SS begangenen Kriegsverbrechen steht noch aus. Bei Strafprozessen zu NS-Massakern in Italien wurden die Täter und die Bundes­republik Deutschland zu Schadenersatz­zahlungen verurteilt. Um das rechtskräftige Urteil wegen des Massakers im griechischen Distomo am 10. Juni 1944 zu vollstrecken, hat der Rechtsanwalt Joachim Lau aus Florenz Anfang Juni deutsche Liegenschaften nahe der italienischen Stadt Como durch die Eintragung einer Zwangshypothek gepfän­det.

Gegen die Schlussstrichparty auf Schloss Bellevue richtete sich eine Pro­testaktion, bei der die Bundesregierung aufgefordert wurde, die materielle Verantwortung zu übernehmen »für die Schädigung der Gesundheit, indem sie die Kosten für die erforderliche medizinische Behandlung trägt; für den vorenthaltenen Arbeitslohn, indem sie die überfälligen Auszahlungen leistet; sowie für die vorenthaltene Berücksichtigung in der Rente, indem sie für den entsprechenden Ausgleich sorgt«. Weiterhin forderten die Demons­trierenden die »sofortige Entschädigung aller NS-ZwangsarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und Massakeropfer«.

Der Rechtsanspruch auf individuellen Schadenersatz bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit sollte heute außer Frage stehen. Doch die Bundesregierung sieht das anders.

Lars Reissmann arbeitet im Arbeitskreis Distomo, Hamburg, für die Entschädigung von NS-Opfern und die Strafverfolgung von NS-Tätern.