Don’t cry for me, Buenos Aires

Wegen seines Versprechens, aus Buenos Aires eine »glückliche« Stadt zu machen, wurde der konservative Mauricio Macri zum neuen Bürgermeister gewählt. Die neue Mittelschicht und Bewohner der Armensiedlungen in der argentinischen Hauptstadt einigten sich auf den Kandidaten, der vorgab, ihren Wunsch nach Sicherheit und Ordnung zu erfüllen. von lennart laberenz, buenos aires

Dem Erdnussverkäufer fällt vor Empörung fast das Gebiss heraus. »Alles Hurensöhne«, schimpft er, justiert mit links rasch die dritten Zähne, so dass ein Mann im Anzug erschrickt und einen Schritt zur Seite macht. »Hätte ich aber allein aussuchen müssen, wer künftig die Stadt regieren soll, dann hätte ich mich für Macri entschieden.«

Allein durfte das der Erdnussverkäufer nicht entscheiden. Seine Meinung teilt ein Großteil seiner Mitbürger, insbesondere diejenigen, die Anzüge tragen. Das zeigten sie bei der Stichwahl Ende Juni, als der aus einer der reichsten Familien Argentiniens stammende Mauricio Macri mit 61 Prozent gegen den Kandidaten des Präsidenten Nestor Kirchner gewann.

Wie etliche Millionen andere Straßenverkäufer kommt der Mann mit seinem Erdnussstand aus den Vororten der Stadt, wo beinahe zehn Millionen Menschen leben und ein wichtiges Segment der argentinischen Wählerschaft ausmachen. Mit seiner pragmatischen Art und seinem Versprechen, Buenos Aires in eine »ordentliche« Stadt zu verwandeln, konnte Macri nicht nur die konservative neue Mittel- und Oberschicht überzeugen, son­dern auch die Bewohner der ärmeren Viertel der Stadt.

Jeden Morgen baut der Erdnussverkäufer seinen Stand an der Avenida Santa Fé auf. Die sechs­spurige Achse ist ein poliertes Einkaufsparadies für wohlhabende Argentinier und für Touristen aus aller Welt. Nur wenige Blocks entfernt ergießt sich der stete Verkehr auf die Avenida Nueve  de Julio, eine große Verkehrsschneise, die mit ihrer vergilbten Pracht von den Argentiniern gerne als »breitester Boulevard der Welt« gesehen wird. Und obwohl der Erdnussverkäufer einen langen Weg zur Arbeit hat, spricht er auch den Bewohnern der teuren Gegend hier im Norden der Stadt aus dem Herzen. »So ist es«, hatte der Mann im Anzug noch rasch hinzugefügt, bevor er in den Bus stieg. Fast 60 Prozent haben Macri, den Spross eines Großindustriellen, hier bereits im ersten Wahlgang gewählt.

Die Bewohner von Buenos Aires halten den Amtsinhaber für den Bürgermeister der Nation, wie sie auch ihre Stadt lange für das »Paris Lateinamerikas« hielten. »Vor allem die porteños meinen, dass, was auch immer hier passiert, entscheidend für die Nation und wichtig für die Welt sei.« Sebastian Zurutuza lehnt sich zurück und streicht sich die Haare glatt. Porteños sind die Bewohner der Stadt, ab­geleitet aus dem spanischen Wort für »Hafen«, Zurutuza ist Politikwissenschaftler und Dozent am Instituto Universitario Naval de Buenos Aires. Er hält den Wahlerfolg für ziemlich gefährlich. »Macri ist der Anführer einer Front der wichtigsten Sektoren der konservativen Kräfte von Buenos Aires. Darunter fallen das wirtschaftsliberale Bürgertum, die konservativen Segmente der Mittelklasse und der militärische Sektor.«

Der Kern von Macris Wählerschaft besteht aus dem politischen Milieu, das oftmals die Militärdiktatur der siebziger Jahre, die über 30 000 verschleppte und ermordete Oppositionelle auf dem Gewissen hat, unterstützte und bis heute die rechtsstaatliche Verfolgung der Verantwort­lichen ablehnt. Dazu gesellen sich die katholischen Konservativen, die jegliche Form von Eman­zipationsbewegung oder eine staatliche Anerkennung von zivilen Rechten, wie die gleichgeschlechtliche Ehe, als Vorboten für den Untergang des Abendlandes sehen. Als Abgeordneter stimmte Macri deshalb auch gegen die Aufhebung des Bundesgesetzes zur Generalamnestie, mit dem Carlos Saul Menem während seiner Amtszeit als Staatspräsident in den neunziger Jahren den Folterknechten der Militärdiktatur einen geruhsamen Lebensabend verschaffte. Außerdem stemmte sich der Kandidat gegen die Anerkennung der Homoehe, gegen die Verbreitung von Verhütungsmitteln und das Recht auf Abtreibung und gegen den Sexualunterricht in Schulen.

Die größte Tageszeitung des Landes stellte fest, dass in den nördlichen Stadtvierteln, wo Macri so gut abschnitt, über die Hälfte der Diät­joghurts der Stadt gekauft wird, seine Wähler gehen häufiger ins Kino, haben mit hoher Wahrscheinlichkeit Universitätsabschlüsse, essen gerne Müsli zum Frühstück und haben sich jeweils in den vergangenen eineinhalb Jahren im Durchschnitt ein neues Auto gekauft. Hier lebt die obere Mittelschicht, die den konservativen und neoliberalen Diskurs verinnerlicht und sich in der Regel von der Krise bestens erholt hat, wenn man der Höhe der Sparguthaben bei den Banken glauben darf. Die Lebensqualität ist hoch, die Armutsviertel sind weit weg.

Aber auch dort, unter den Armen und Arbeitslosen, war Macris Erfolg beachtlich. »Wir haben die Nase voll von den Piqueteros, den Bewohnern der villas und dem ganzen Pack, das nicht arbeiten will.« Der Erdnussverkäufer erhält erneut rege Zustimmung unter den Leuten, die auf ihren Nachmittagsbus warten. Er meint damit die Bewohner der villas miseria, der Armensiedlungen im Innenstadtgebiet, und die bezahlten Demonstranten, die oftmals den Verkehr in der Stadt behindern. Die Gesellschaft in Buenos Aires ist längst wieder unsolidarisch und distinktionsbewusst geworden, wie vor dem Wirtschafts­crash im Dezember 2001.

Insgesamt ist die Stimmung in der Stadt gereizt. Als etwa nach Lohnkämpfen der U-Bahn-Angestellten Ende Juni der Strom ausfiel, beschimpften die Passagiere eines überfüllten Zuges den etwas lethargischen Lokführer, als sei er persönlich für den Stillstand im Tunnel verantwortlich. Am Ausgang trommelten etliche anderen mit Gewalt gegen die heruntergelassenen Rollos der Kartenverkaufsschalter. Drei Angestellte versuchten, den Fahrgästen entgegenzukommen, und verteilten Tickets, begleitet von boshaften Kommentaren. Der Aufstand der Gesellschaft gegen die Regierenden von 2001 ist wieder in die Militanz der Mittelklasse gegen die Armen und öffentlich Beschäftigten umgeschlagen.

Kaum eine Stadt in Lateinamerika ist so gekennzeichnet vom Selbstmitleid wie Buenos Aires, nirgends findet sich eine vergleichbare Dichte an Psychotherapeuten, die den Weltschmerz der Bevölkerung kurieren sollen. »Wir leben immer noch vom Mythos, irgendwie zu Europa zu gehören, der Rest der Nation und Lateinamerika sind gottlob weit weg«, bestätigt Zuruzuta. Die Realität hinter dem Anspruch der porteños an Größe und Wichtigkeit in der Welt besteht aus Korruption, Misswirtschaft, Gewalt und fehlender Infrastruktur. In der Stadt kommen noch völliges Verkehrschaos, Kriminalität und Umweltverschmutzung dazu.

Buenos Aires gehört zu den am dichtesten besiedelten Ballungsräumen der Welt, etwa viermal so viele Menschen wie in Berlin drängen sich auf vergleichbarem Raum. Die Privatisierung des öffentlichen Verkehrs sowie von Strom, Wasser und Gas sorgt zuverlässig dafür, dass einige Unternehmen große Gewinne erzielen. Dennoch muss die Stadt bis heute Busse und Züge mit Millionen Pesos subventionieren, da sich sonst kaum jemand die Fahrscheine leisten könnte – und auch Unternehmerverbände wissen, dass die Stadt auf öffentlichen Verkehr angewiesen ist. Seit Wochen ist die Elektrizität knapp, die Stromversorgung bricht regelmäßig zusammen. Einige kühle Wochen im Mai haben das marode Stromnetz überlastet, der erratische Präsident Néstor Kirchner reagiert hektisch mit Sanktionen gegen Unternehmen, die mehr verbrauchten als im Vorjahr. An Grundsätzliches traut sich niemand heran, Normen und Vorschriften werden nicht eingehalten, Infrastrukturen nicht erneuert. Warum auch? Inspektoren kann man schmieren, Richter und Staatsanwälte kaufen. Jeder strukturelle Eingriff, wie etwa die Umstellung auf ein Straßenbahnsystem, scheitert an der Macht der Unternehmer und dem Unwillen der Politiker.

Die Antworten des Kandidaten Macri dazu waren vage bis beschwichtigend. »Va estar bueno, Buenos Aires« (Es wird gut sein, Buenos Aires) hieß sein einfacher Wahlslogan. Mauricio Macri gehört zur jüngeren Generation derer, die kräftig an der fiesta Menemista – unter dieser Bezeichnung ging die korrupt-frivole Amtszeit des peronistischen Präsidenten Menem in die argentinische Geschichte ein – verdient hatten. In den neunziger Jahren hatte die eitle Truppe korrupter Politiker um Menem das Land tanzend in die tiefste ökonomische Krise gestürzt. Macri ist der Sohn eines Großindustriellen, sein eigenes Vermögen wird auf über 130 Millionen Dollar geschätzt.

»Wir porteños sind paternalistisch«, sagt Veronika Geraige, eine Art-Direktorin aus der boomenden argentinischen Filmbranche, »die Vorstellung eines reichen Vaters lässt uns glauben, alles werde gut.« Sie scheint davon überzeugt zu sein, dass ein Politiker in erster Linie das Gemeinwohl vor Augen hat.

Tatsächlich ist das eine verbreitete Meinung in Buenos Aires: Jemand wie Macri werde sein Amt schon deshalb gut verrichten, da er nicht auf Bestechungsgeld angewiesen sei. So verschwinden hässliche Flecken in seiner politischen Biographie, die Verurteilungen wegen Steuerhinterziehung und Schmuggel mit Autoteilen interessierten im Wahlkampf nicht. »Macri ist es gelungen, sich als postideologischen Kandidaten zu präsentieren«, stellt Zurutuza fest. Um den Kandidaten als Polit-Verwalter zu tarnen, verzichtete seine Kampagne irgendwann auch auf die Nennung seines Nachnamens, um angesichts der traurigen Realität die Verbindungen zur einträchtigen fiesta Menemista zu verwischen.

Sich selbst mit großer Geste zu feiern, ist gerade der bedrängten argentinischen Mittelschicht sehr wichtig. Einen Ausbruch aus der Melancholie und den vielfach selbst produzierten Missständen bietet oft genug der Fußball, insbesondere der Verein Boca Juniors. Niemand trägt so sehr das Bild des Clubs »der kleinen Leute« zu Markte wie Macri, der seit zwölf Jahren Präsident des Vereins ist. Er schaffte es, mehr wie ein fürsorglichen Vater und weniger wie ein erfolgreicher Geschäftsmann zu wirken, er hat den Verein saniert, zum Touristenschlager gemacht und dabei den Raum im Stadion für die Anhänger aus dem stolzen Armenviertel La Boca systematisch verringert. An deren Stelle sitzen jetzt meist finanzkräftige Investoren, prominente Fans wie Diego Armando Maradona, Touristen und Fans aus den reicheren Vierteln, die einen kleinen Abenteuerurlaub in der eigenen Stadt erleben wollen.

»Macri hat es sehr gut verstanden, seine Politik zu tarnen, er hat die beste Kampagne organisiert, die wir hier bislang gesehen haben«, sagt Fernanda Beletti. Die Sprachwissenschaftlerin lebt in der Boca und untersucht Macris Politik im Fußballverein sowie im Wahlkampf. Eine seiner prominentesten Ideen im Wahlkampf war, dafür zu sorgen, »das Argentiniens meistgeliebter Fußballverein in aller Welt gemocht wird«. Selbst die Idee, »ganz Argentinien zu asphaltieren, damit alle Arbeit haben«, schadete dem Kandidaten nicht. Beletti lacht bitter.

Mit Macri haben konservative und neoliberale Milieus in Buenos Aires einen starken Vertreter. Sein Sieg wird als Niederlage von Kirch­ner gewertet, dessen Erziehungsminister Daniel Filmus nicht überzeugen konnte. Die Aussichten für einen konservativen Kandidaten, der bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober gegen Kirchner antreten könnte, sind sprunghaft gestiegen, die alte Garde aus den Zeiten Menems bereitet sich schon längst darauf vor. Er selbst werde allerdings im Oktober nicht als Kandidat antreten, beeilt sich Macri zu sagen, ihn interessierten eher die Wahlen im Jahr 2011. »Er wird die Stadt gut regieren, denn er will höher hinaus«, erhält man meist als Antwort.

Den radikalen Privatisierungskurs, den Macri vorschlägt, befürworten einerseits die porteños, denen höhere Ausgaben für Gesundheit, Sauberkeit und Sicherheit nichts ausmachen, andererseits trifft er damit auch das tief sitzende Misstrauen gegen staatliche Institutionen. Darüber hinaus unterstreicht er beispielsweise mit der Forderung nach einer ihm und nicht der Bundesregierung unterstellten Polizei in der Stadt oder nach der Rückübertragung der Einnahmen des Hafens in den städtischen Haushalt den Wunsch der porteños nach Eigenständigkeit.

»Macri appelliert an konservative Werte, seine Themen sind die Unsicherheit, die Verkehrsprobleme und der Müll, den wir überall sehen. Mit einfachen Lösungen will er uns das Gefühl suggerieren, bald wieder in einer geordneten Stadt zu leben«, sagt Fernanda Beletti. Und nichts entspricht dem Selbstverständnis der porteños mehr.

Macris Gegenkandidaten gerierten sich dagegen als Standartenträger des nationalen Stolzes oder sie hielten einander fälschlich angegebene Universitätsabschlüsse vor. Sie bezeichneten einander als Schoßhündchen des Präsidenten, Lügner und Kleinkrämer. »Was war denn die Alternative?« fragt Geraige, »ich habe viel über Kultur und Menschenrechte gehört. Aber konkrete Vorschläge für die Stadt gab es nicht.« Sie hat nicht für Macri gestimmt, aber die Gegner des Unternehmers waren ihr allesamt zu blass. Geschickt hat er weitgehend auf Schmutzkampagnen gegen seine Widersacher verzichtet. »Die Wähler in der Stadt sind friedliebend und glauben weniger an politische Ideologie als etwa im Umland«, sagt Beletti. »Sie suchen Harmonie und Selbstbestätigung.«

Verschließen die porteños die Augen vor der Realität? Fernanda Beletti lacht erneut. Sie hat als Lehrerin in einer Armensiedlung gearbeitet, in einem der Viertel, die Macri jetzt »urbanisieren« will. »Urbanisieren, das klingt gut. Mehr Straßenlaternen, das klingt auch gut, aber im Grunde verändert sich nichts. Die Menschen wollen ihre eigene Realität nicht wahrhaben.«

Draußen ist der Tag grau geworden, in der Stadt gehen Lichter an. »Mehr in die Zukunft schauen als in die Vergangenheit«, ist eine Losung des neuen Bürgermeisters. Den meisten, die zu dieser Stunde durch die schmutzigen Straßen der Boca gehen, dürfte diese Aussicht ziemlich egal sein. Aber auch dort und in dem noch ärmeren Stadtteil Lugano hieß der eindeutige Gewinner der Wahl Mauricio Macri.