Seltsame Spezi(e)s

Eine kleine Typologie der Fußballschiedsrichter. von alex feuerherdt

Gelegentlich findet man sie immer noch, die kleinen Metallschilder mit der halb flehentlichen, halb drohenden Aufschrift: »Sei fair zum 23. Mann! Ohne Schiedsrichter geht es nicht!« – Spätestens seit dem Aufstieg der Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus in die zweite Bundesliga wäre es nun wohl an der Zeit, die Parole geschlechtsneutraler zu gestalten. Meist sind die Schilder direkt neben den Umkleidekabinen von Sportplätzen befestigt, um dort, ignoriert von Gastgebern wie Gästen, ihr rostiges Dasein zu fristen. »Es ist zwar das Los seines Amtes, dass der Schiedsrichter von vielen als notwendiges Übel betrach­tet wird. In Wahrheit ist er aber ein wertvoller, ja unverzichtbarer Teil des großen Spiels«, heißt es auf der Internetseite des DFB fast schon beschwörend.

Mehr als 81 000 Exemplare dieser seltsamen Spezies gibt es derzeit; statistisch gesehen, ist also etwa jeder tausendste Bundesbürger Fußballschiedsrichter. Unter den restlichen 999 müssen sich die Entwickler virtueller Fußballspiele befinden, bei denen der Schiedsrichter in der Regel schlichtweg vergessen wird oder nur dann in Erscheinung tritt, wenn er schwer wiegende Entscheidungen trifft. In der Grundversion des »Fifa-Football«-Spiels aus dem Jahr 2005 etwa wird der Unparteiische lediglich sicht­bar, um gelbe oder rote Karten zu zeigen.

Dank eines Zusatzmoduls jedoch kann man ihn und seine Assistenten nachträglich implementieren, wobei deren Bewegungsabläufe und Anatomie nicht annähernd die Qualität erreichen wie bei den Spielern: Der Schiri ist mordsmäßig schnell und immer nahe am Geschehen, obwohl er den Platz mit seitlichen Schritten durchmisst. Dafür sind die Linienrichter nie auf der Höhe, und sie geben seltsam aussehende Fahnenzeichen. Beim Abseits liegen sie eigenartigerweise dennoch immer richtig, wie man überhaupt erstaunt feststellen muss, dass keinerlei Fehlentscheidungen vorkommen. Insgesamt gibt es in diesem Spiel drei verschiedene Unparteiische: Der erste (der – Ehre, wem Ehre gebührt – nur bei internationalen Spielen zum Einsatz kommt) ist optisch Pierluigi Collina nachempfunden, der zweite Markus Merk und der dritte sieht, vermutlich eher unabsichtlich, wie Michael Weiner aus.

Ihre Art der Spielleitung unterscheidet sich allerdings überhaupt nicht voneinander, und das ist doch ein echtes Manko. Die Realität sieht schließlich vollkommen anders aus und umfasst von der Kreis- bis zur Bundesliga die verschiedensten Charaktere, die zwar die Regeln möglichst einheitlich auslegen sollen, von ihrem Spielraum allerdings reichlich Gebrauch machen und auch im Auftreten ausgesprochen variantenreich sind. Hier nun eine kleine Typologie der Schiedsrichter und ihrer mehr oder weniger liebenswürdigen Eigenschaften:

Der Kleinliche: Unterbindet alles, was irgendwie nach Foul riecht; pfeift also grundsätzlich immer, wenn Spieler fallen. Lässt fast nie Vorteil laufen, hemmt den Spielfluss und zieht sich spätestens nach 20 Minuten den Zorn beider Mannschaften und sämtlicher Zuschauer zu. Geht grundsätzlich davon aus, dass die Spieler nicht kicken, sondern knüppeln wollen. Scheißt die Akteure unterschiedslos wegen Kleinigkeiten zusammen und ist bei Protesten immer schnell mit der Karte zur Hand. Ich-schwacher Wochenendkommandierer mit starkem Hang zur Pflichtübererfüllung. Kurz: eine veritable Nervensäge.

Der Großzügige: Sieht stets internationale Härte am Werk, pfeift »englisch«, lässt noch den rus­tikalsten Körpereinsatz zu und ruft auch bei robustestem Einsteigen gerne laut und vernehmlich: »Weiterspielen!« So etwas wie Aufstützen gibt es bei ihm nicht, und wer fällt, hat eben Pech gehabt. Vorteil: wenig Karten, guter Spielfluss. Nachteil: Spiele arten manchmal in grobe Tretereien aus, die er dann nicht mehr in den Griff bekommt.

Der Theatraliker: Findet die Maßgabe, dass der beste Schiri der ist, den man gar nicht sieht, von vorgestern. Steht vielmehr ausgesprochen gerne im Mittelpunkt. Untermauert jede Entscheidung mit ausladenden Gesten und einer Mimik, auf die selbst Ludovic Magnin neidisch wäre. Neigt zu extrem harten Entscheidungen, die den Grundsatz »in dubio pro reo« einfach umkehren; liebt Elfmeter in der Nachspielzeit und Notbremsen, die sich nur mit gutem Willen und nach zwölf Zeitlupen als eventuell berechtigt qualifizieren lassen. Zieht Interviews mit Rolf Töpperwien endlos in die Länge.

Der Souverän: Wartet ab, wie die Spieler zu Werke gehen, und reagiert entsprechend; begegnet Protesten – die es so gut wie nie gibt – gelassen und zwinkert gerne in die Kamera. Kennt alle, weil er seit Jahren dabei ist. Niemand macht ihm etwas vor, und einen Elf­meter in den Schlussminuten gibt er allenfalls, wenn der Verteidiger dem Angreifer den Kopf abtritt. Hat immer ein freundliches Wort für die Spieler übrig und wird nur dann sauer, wenn bei der WM nach der Vorrunde Schluss ist. In der Freizeit sozial engagiert und als Psychologiereferent auf Managerseminaren unterwegs.

Der Berechnende: Sieht in der Pfeiferei vor allem eine Möglichkeit, nebenbei Geld zu verdienen, und wenn mal wieder die Spesen hinten und vorne nicht reichen, sucht er nach anderen Möglichkeiten, der King zu sein. Ist auch unkon­ventionellen Vorschlägen gegenüber sehr aufgeschlossen und kommuniziert viel mit den Spielern, um den Spielverlauf nach seinen Vorstellungen zu gestalten, wenn es mal nicht läuft wie gewünscht. Immer skandalgefährdet, vom DFB aber mit Nachsicht behandelt, weil in der Regel recht jung. Zu redselig den Kollegen gegenüber.

Der Streber: Absoluter Emporkömmling, der mit zwölf Jahren schon in der Oberliga gepfiffen hat und mit 14 in der zweiten Liga an der Linie stand. Kompensiert mangelnde Lebens­erfahrung mit einem Übermaß an Arroganz und Selbstherrlichkeit. Pfeift völlig für den Schiedsrichter-Beobachter, der sein Vater oder Opa sein könnte und es manchmal auch ist. Wird vom DFB aber immer in Schutz genommen und nach allen Regeln der Kunst gefördert. Daher bei allen Kollegen verhasst. Bei der Laufprüfung immer ganz vorne, beim Regeltest stets mit null Fehlern. Hat zwei Perspektiven: jüngster Fifa-Schiedsrichter aller Zeiten oder inszenierter Autounfall mit 24 Jahren. Sollte beides nicht klappen, wird er Theatraliker.

Der Überforderte: Hat die Prüfung nur mit Ach und Krach bestanden und weiß bis heute nicht, wie viele Fußballregeln es eigentlich gibt. Pfeift vollkommen uneinheitlich und unberechenbar. Bringt beim Versuch, es allen recht zu machen, den ganzen Platz gegen sich auf; reagiert darauf entweder mit endlosen Erklärungsversuchen oder mit einer Kartenflut. Pfeift nur indirekte Freistöße, auch und gerade im Strafraum, um auf der sicheren Seite zu sein. Entgeht Prügeln oft nur mit knapper Not und manchmal auch nicht; parkt sein Auto daher stets in Fluchtrichtung.

Wie formulierte es der DFB noch gleich? »In Wahrheit ist der Schiedsrichter aber ein wertvoller, ja unverzichtbarer Teil des großen Spiels.« Und das stimmt sogar. Denn worüber sollte man sich aufregen, wenn es ihn nicht gäbe?