Das Warten am Ende der Kindheit

Frauen dürfen das Haus nicht verlassen, die Jungen verbringen ihr Leben auf der Straße. Trotz des wachsenden Wohlstands leiden die Jugendlichen in den kurdischen Städten des Nordirak unter tödlicher Lange­weile und menschenfeindlichen Moralvorstellungen. Im Jugendgefängnis von Suleimaniyah sitzt die Hälfte der Jungen wegen schwulem Sex ein. text und bilder von thomas uwer

Der Platz des Fußballvereins Jihan Suleimaniyah liegt im Osten der Stadt, wo die Armen leben. »Jihan« heißt »Berg«, der Sportplatz liegt in einer Senke rechts der vierspurigen Straße, die vom Armenviertel Bani Khalan entlang der alten Innenstadt zu den wohlhabenderen Quartieren im Norden führt. Ein löchriger Zaun umgibt das Areal, ein Betonwürfel von der Größe einer Garage beherbergt das Vereinsheim und einen kleinen Laden, in dem man Zigaretten, Cola und Kekse bekommt. Alles ist aus der Türkei importiert und ziemlich schlecht, die Zigaretten sind gefälscht, die Kekse trocken, die Cola ist zu süß. Dafür ist es billig.

Gut drei Dutzend Jungen hängen hier ständig herum, jene nicht mitgezählt, die gerade Fußball spielen. Wenn es ein Spiel gegen einen anderen Stadtteil gibt, sind mehr Jungen anwesend. Dazu kommen solche Besucher, die schon nicht mehr ganz jung sind, aber nichts Besseres zu tun haben. Männer leben bis zur Heirat in ihren Familien, und Heiraten ist schwer, wo jeder Kontakt zwischen Frauen und Männern auf das notwendigste Minimum beschränkt ist. Außerdem ist Heiraten teuer. Wer also nicht den ganzen Tag zu Hause herumhängen will, dem bleibt nur die Straße. Der Sportplatz von Jihan ist da gar nicht so schlecht. Nur eine Stunde Autofahrt von hier entfernt, in den Dörfern von Qandil und Pishder, werden für die Kinder noch gleich nach der Geburt Ehen arrangiert. Oder eben nicht. Dann bleibt nur die harte Arbeit auf den Feldern oder ein Leben als Peshmerga, wie die Mitglieder der kurdischen Milizen heißen.

Im Fußballverein Jihan sind die Peshmerga, die Kämpfer in den Bergen, so weit weg, als lebten sie in einer anderen Welt. Jihan ist ein städtischer Club, ein Club von Eastend Boys, gegründet von Anwohnern, die gesammelt und den Sandplatz gekauft haben, bevor der Bauboom der vergangenen Jahre die Preise für Land in verrückte Höhen hat steigen lassen. Und er ist erfolgreich. Dreimal in Serie hat Jihan die Stadtmeisterschaft von Suleimaniyah gewonnen und einer, ein ganz kleiner Junge, hat vielleicht sogar das Zeug zum Star. Kaum zehn Jahre alt, wurde er in die irakische Jugend-Olympiaauswahl berufen und darf demnächst ins Trainingscamp nach Schweden fahren.

Davon träumen alle und deshalb redet auch jeder davon. Denn Schweden bedeutet Wohlstand und Sex, Westendgirls zum Greifen nahe und die Alten so weit weg wie der Mond. Und so lebt, wenigstens auf einem Fußballplatz in Suleimaniyah, der Siebzigerjahretraum von den leichtherzigen schwedischen Mädchen ungetrübt fort. Mädchen aus dem Stadtteil indessen trifft man auf dem Sportplatz nicht. Fußball ist Männersache, wie eigentlich alles, und weil das so ist, ist das Leben auch so furchtbar öde hier.

Ein Tag besteht aus 24 Stunden. Schläft man davon acht Stunden und zieht noch je eine halbe Stunde für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot ab, subtrahiert weiter die Minuten, die bei gemächlichem Tempo auf die Verrichtung unbedeutender, aber notwendiger Handlungen entfallen, so bleiben noch 14, vielleicht 15 Stunden, die es mehr oder weniger sinnvoll zu überbrücken gilt, bevor das Ganze wieder von vorne beginnt. Man lernt, lange zu sitzen, ohne dass die Beine einschlafen, reißt sich Nasenhaare aus, zupft sich am Hosenstall, ein bis zwei Mal die Minute, trinkt noch eine Cola. Eine Jugend im kurdischen Nord­irak besteht zu 50 Prozent aus Langeweile. Der Rest ist Triebversagung.

Suleimaniyah ist eine Männerstadt, in einem Männerland, auf einem Männerkontinent. Daran haben weder der Krieg und die Amerikaner noch die rasante Modernisierung und der plötzliche Wohlstand etwas ändern können, der über die Region hereinbrach wie ein warmer Sommerregen. Junge Männer kreuzen durch die Straßen in neuen Autos, die der Nachkriegsboom beschert hat, daddeln auf ihren Telefonen oder hängen vor den Häusern herum und warten darauf, dass etwas passiert. An jeder Ecke gibt es die neuesten Mobiltelefone, in jedem Restaurant dudeln die Videoclips libanesischer Sängerinnen. Davor scharen sich junge Männer und Jungen, doch wenn der Strom wieder einmal ausfällt, sind sie genauso schlau wie früher.

Mit dem Ende der Kindheit beginnt die lange Zeit des Wartens auf das Erwachsenenleben, das irgendwann mit der Ehe eintritt oder auch eben nie. Die Zeit dazwischen wird mit Missachtung gestraft. Wo Sexualität jenseits des im Stillen vollzogenen ehelichen Zeugungsakts ein schier unantastbares Tabu darstellt, muss der von seiner Pubertät gepeinigte Jugendliche automatisch suspekt erscheinen. Im Umgang mit Jugendlichen geht Ignoranz einher mit harter Strafe. Auf dem Land werden Mädchen, denen Beziehungen zu Jungen nachgesagt werden, nicht selten getötet. Um solche »Schande« über die Familie zu bringen, muss man nicht erst schwanger werden, das Verbot setzt bereits weit vor der sexuellen Handlung ein. Jede Äußerung von Adoleszenz bedroht den islamischen Ehrenkodex der Familie, und folglich wird alles Jugendliche, jeder Kontakt, konsequent unterdrückt: Die Mädchen bleiben zu Hause, die Jungen müssen das Haus verlassen.

Jugendliches Ausprobieren ist unter diesen Bedingungen unmöglich. Das Ende der Kindheit, das mit sicherem Abstand vor der frühestmöglichen Geschlechtsreife einsetzt, ist daher gleichbedeutend mit der Forderung, erwachsen zu sein, ohne die Rechte von Erwachsenen zu erlangen. Deshalb schaut, wo immer Jugendliche sich aufhalten, ihnen auch immer irgendein Alter über die Schulter, um zu prüfen, ob sie nicht doch tun, was alle wollen, aber keiner darf.

»Du weißt manchmal nicht mehr, wohin mit dir selbst«, sagt Darban. »Du willst nur noch raus oder weg sein. Einige tun sich auch weh. Ich meine, die versuchen, sich selbst zu verwunden. Es ist so langweilig hier. Hier, schau, meine Arme.« Er zeigt seine Unterarme, die völlig vernarbt sind. »Hast du das selbst gemacht?« »Ja, das machen viele.« »Wie?« »Mit einer Klinge. Ich wollte irgendwas an mir kaputt machen.« Darban sitzt im Jugendgefängnis von Suleimaniyah ein, das in Ma’ska Salam liegt, einem ehemaligen Militärkomplex westlich der Stadt. Folgt man der Straße ein paar Kilometer weiter, gelangt man nach Camp Susa, an einen der Orte, wo die amerikanischen Truppen Jihadisten aus dem Zentralirak gefangen halten. Die Hälfte davon ist nicht viel älter als die Jungen im Jugendknast.

Ma’ska Salam ist sauber, zumindest was den Standard von Gefängnissen im Nahen Osten angeht. Das ist allerdings auch alles. Zehn Jungen bewohnen offiziell eine Zelle, tatsächlich sind es oft zwölf oder 13. Wem eine Koje zusteht und wer auf dem Boden schläft, entscheidet jene informelle Hierarchie, die in allen Gefängnissen der Welt existiert. Die einzige von der Gefängnisleitung vorgesehene Beschäftigung besteht darin, an einer Playstation zu daddeln, die samt Fernseher in jeder Zelle installiert wurde. Ansonsten spielen die Jungen Fußball, wenn das nicht gerade wieder einmal verboten wurde, und hängen herum. Jeden Tag. Von morgens bis abends.

Nach irakischem Recht erreicht ein Kind mit sieben Jahren die Strafmündigkeit, die kurdischen Behörden haben diese Grenze auf neun Jahre erhöht. Von diesem Alter an wird, wer sich erwischen lässt, mitunter zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, dabei sind fünf Jahre keine Seltenheit, auch zehn oder 15 Jahre kommen häufig vor. Erreichen sie die Volljährigkeit während der Inhaftierung, werden sie in den Erwachsenenvollzug verlegt. Etwa die Hälfte der Jungen in der Jugendstrafvollzugsanstalt von Suleimaniyah sitzt wegen »sexueller Handlungen« ein, genauer: wegen schwulem Sex.

Homosexualität wird auch im heutigen Irak nach wie vor bestraft, auch wenn sie als Straftatbestand nicht gesondert definiert wurde. Geprägt vom arabisch-sozialistischen Geist der sechziger Jahre, regelt das irakische Recht alle Lebensäußerungen, die für »Volk«, »Nation« und »öffentlichen Anstand« von Bedeutung sein könnten. Es bestraft unfruchtbare Männer und Frauen, die im Wissen um ihre Zeugungsunfähigkeit eine Ehe eingegangen sind, verbietet Analverkehr, verfolgt »unziemliche Äußerungen« und »Avancen« in der Öffentlichkeit und untersagt jeden einvernehmlichen geschlechtlichen Kontakt unter 18 Jahren.

Dabei ist Sex unter Männern bzw. Jungen weder ungewöhnlich noch selten im kurdischen Nordirak. In den meisten Fällen ist er schlicht die einzig mögliche Form zwischenmenschlicher Sexualität und wird als »Ersatzhandlung« oft geduldet. Geschlechtliche, oft schon freundschaftliche Kontakte zwischen Jungen und Mädchen unterliegen hingegen einem absoluten Tabu, für dessen Bruch in der Regel die Mädchen zahlen, mitunter mit dem Leben. Die Jungen, die in Ma’ska Salam wegen »homosexueller Handlungen« einsitzen, haben meist ein anderes Tabu gebrochen. Sie haben sich entweder gegen ihre Familie gekehrt oder, was schlimmer ist, stehen unter dem Verdacht, aus Lust oder Liebe mit Jungen geschlafen zu haben.

Die Sexualität ist vollständig aus der Öffentlichkeit verbannt und, vor jeder Kultivierung abgeschirmt, lediglich als unsublimierter Fortpflanzungsakt geduldet. Lust und Verliebtheit gelten als Schwäche, Triebversagung gilt als männliche Stärke. Bestraft wird daher auch nicht der reine Geschlechtsakt unter Männern, sondern Lustempfinden und die »Schwäche« der Jugendlichen, die nicht den vorgeschriebenen Sexualverzicht üben. Wird man gefasst, so bekommt man die geballte Gewalt zu spüren, die sich hinter der steten Unterdrückung des Lustempfindens aufstaut.

»Wir kannten uns durch unsere Familien«, erzählt Mohammad, »und hatten ein Verhältnis. Aber wir hatten nur einmal Sex. Dann haben sie mich geschnappt. Ich bin verhaftet worden, die haben mir Handschellen angelegt und mich dann in ein Auto gesteckt. Ich war hinten auf der Rückbank. Im Auto haben sie angefangen, auf mich einzuschlagen. Die wollten gar nicht, dass ich etwas gestehe, die wollten mich einfach nur zusammenschlagen. Also haben sie mich geschlagen, vier Polizisten, die ganze Zeit, bis ich in der Polizeiwache war. Die haben nicht mal mit mir geredet. Die haben einfach nur auf mich eingeschlagen, und ich konnte nichts machen, weil meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren.« Mohammad wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Seine Familie sieht er alle zwei Monate. Seinen Freund sieht er nie.

In vielem ähnelt das Leben im Jugendgefängnis demjenigen draußen. Es ist nur noch reizärmer und noch repressiver. Und es gibt noch weniger Chancen, sich ein anderes Leben aufzubauen. Das Leben aber, das die Gesellschaft vorsieht, erscheint drinnen wie draußen vielen Jugendlichen längst nicht mehr verlockend. Statt nach Ehe, Kindern und Verwandtschaftsbesuchen am Wochenende sehnen sie sich nach einem freieren Leben. So kommt es, dass, obwohl die allgemeinen Lebensbedingungen im Nordirak wahrscheinlich nie so gut waren wie heute, viele von ihnen weg wollen, nach Europa, nach Amerika, egal, Hauptsache weg. Die meisten von ihnen bleiben. Die kurdischen Gebiete liegen wie eine Insel in einer feindlichen Region, und es ist nicht ganz leicht, rauszukommen.

Kein Wunder, dass es ab und an zu Ausbrüchen kommt, wie im vergangenen Jahr in Halabja, etwa eine Autostunde östlich von Suleimaniyah. Jugendliche demonstrierten gegen die Regierung, gegen schlechte Schulen, mangelhafte Stromversorgung und für mehr Jobs. Die Situation eskalierte, als die Demonstranten das Mahnmal für die Giftgasopfer Halabjas erreichten. Sicherheitskräfte schossen in die Menge, Jugendliche stürmten danach das Denkmal und brannten es nieder. Getan hat sich seitdem in Halabja nichts. Oder besser: fast nichts. Denn aus Halabja sendet das einzige unabhängige Radio der Region, betrieben von Jugendlichen aus der Stadt. Im Radio arbeiten junge Frauen und Männer zusammen. Jugendliche Nachwuchsreporter bringen Beiträge aus ihren Dörfern. Eine Psychologin gibt Anrufern gute Ratschläge. Zwischendurch läuft Musik, kurdische, arabische und westliche durcheinander. Besonders beliebt ist der Rapper 50 Cent.

Das Radio ist ein gutes Mittel gegen die Langeweile, für diejenigen, die es machen, wie für diejenigen, die zuhören. Innerhalb von zwei Jahren ist die Station zum meistgehörten Sender der Region geworden, und in den Senderäumen herrscht aufgeregtes Durcheinander. Heute sind zwei Dichter da. Einer stammt aus Said Sadek, einem ärmlichen und traditionellen Kaff an der Überlandstraße, in dem Blutrache und Koran herrschen. Der Autor ist Anfang 20, trägt schwarze Kleider, eine Kette mit dickem Amulett, eine lange Mähne wie ein Metal-Freak und hat den landesüblichen Oberlippenbart abrasiert. Cool. Wie man das durchsteht in Said Sadek? Zwei Freunde denken wie er, kleiden sich ähnlich, haben die gleichen Probleme. Und so bald wie möglich werden sie aus der Stadt abhauen. Klar.

Sein Kollege Ashdi Mohammed stammt aus Halabja und hat bereits eine Gedichtsammlung veröffentlicht. Auf dem Einband sieht man ihn auf einer Parkbank sitzen, den Blick bedeutungsschwer in die Ferne gerichtet. Das Ganze ist mit Weichzeichner bearbeitet, die Ränder des Bildes verschwimmen im Nirgendwo. Es sind natürlich Liebesgedichte, schnulzige Verse an die Unbekannte und Unerreichbare, ein einziges Sehnen und Schmachten.

Zumindest heute ist Ashdi keineswegs schwer­mütig. Vor drei Tagen hat er einen Brief aus der Schweiz erhalten, adressiert an »Ashdi Mohammed, Halabja, Kurdistan-Region, Irak«. Zwar kann er den Brief nicht lesen, was aber sollte dieser anderes enthalten als eine Einladung zu einer Lesung, das Angebot eines Verlags, ein Stipen­dium? Der Brief ist bereits durch tausend Hände gegangen, fünfmal geknickt und an den Rändern seifig. Wie, fragen sich alle, sind die Schweizer bloß auf ihren Ashdi aufmerksam geworden, der noch nie außerhalb von Kurdistan war, geschwei­ge denn in Europa?

Es ist mein undankbarer Job, den Brief zu über­setzen. Natürlich ist es keine Einladung, sondern eine Mahnung, ausgestellt von der Gerichtskasse Bern, die 176,40 Schweizer Franken zuzüglich Mahngebühr für ein verlorenes Bußgeldverfahren eintreibt. Irgendjemand hat in der Schweiz falsch geparkt oder ist ohne Fahrschein mit der Bahn gefahren und hat als Namen Ashdi Moham­med und als Wohnort Halabja angegeben. Das muss ein ordentliches Land sein, meinen alle, wenn die wegen sowas einen Brief bis nach Halabja senden. Und wir schreiben eine Antwort, um alle Missverständnisse auszuräumen. Schließ­lich will Ashdi ja noch dahin fahren, jetzt noch mehr als zuvor.