Pleite 21

Der umstrittene unterirdische Bahnhof in Stuttgart wird gebaut. Kommentar von Hansjörg Fröhlich

Als am 19. Juli in Berlin der Umbau des Stuttgarter Bahnhofs und der Ausbau der Bahnstrecke von Stuttgart nach Ulm entschieden wurden, war das ein schwarzer Tag für die Stadt und das Land Baden-Württemberg. Der Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU), der Direktor der Region Stuttgart, Bernd Steinacher (CDU), Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) und der Vorstandsvorsitzende der Bahn AG, Hartmut Mehdorn, unterzeichneten mit dem »Memorandum of Understanding«, wie sich der Vertrag nannte, nichts anderes als die vorübergehende Verwüstung der Stuttgarter Innenstadt und die Zerrüttung der Finanzen von Stadt und Land zugunsten eines riskanten Bauvorhabens. Bis zur geplanten Fertigstellung des neuen Bahnhofs im Jahr 2020 wird Stuttgart einem Tagebaugelände gleichen, das mindestens 4,8 Milliarden Euro verschlingen wird: zwei Milliarden für die Neubaustrecke und 2,8 Milliarden für »Stuttgart 21«. Mit dem Baubeginn im Jahr 2010 sollen pro Tag alleine 2 500 Lastwagen das nötige Erdreich abtragen.

In der 13jährigen Planungsgeschichte des Vorhabens wurden Pro und Contra immer wieder vorgetragen. Die Befürworter – alle im Landtag und Stadtrat vertretenen Parteien außer den Grünen und den »Republikanern« – hatten dabei argumentativ nicht viel zu bieten. Durch den Umbau des Kopfbahnhofs zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof werde die Durchfahrzeit um drei Minuten verkürzt. Die bessere Anbindung der neu gebauten Fildermesse im Süden Stuttgarts über einen 9,5 Kilometer langen Tunnel wäre auch mit der Ausweitung des Verkehrs der schon bestehenden S-Bahn zu haben gewesen.

Das Vorhaben, auf den bisherigen Gleisanlagen hinter dem Bahnhof eine »zweite City« zu bauen, einen neuen Stadtteil mit 207 000 Quadtratmetern Geschossfläche, ist, neben den allgemeinen Bedenken, die gegenüber solchen Retortensiedlungen bestehen, in einer Stadt, deren Einwohnerzahl seit Jahren sinkt, völlig absurd. Die Gegner des Projekts, die Bürgerinitiative »Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21«, der Verkehrsclub Deutsch­land, der Fahrgastverband Pro Bahn, die Grünen und, einer Umfrage des BUND zufolge, eine Mehrheit der Baden-Württemberger, hatten die Argumente auf ihrer Seite.

Doch was hilft das in einem Land, dessen Ministerpräsident, der bisher nur durch sein rechtes Geplapper aufgefallen ist, dringend einen Erfolg braucht? Was hilft es in einer Stadt, deren Oberbürgermeister nach dem alten Satz von Konrad Adenauer handelt: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?« Als Wolfgang Schuster im Herbst 2004 im Amt bestätigt wurde, erhielt er die entscheidenden Stimmen von den Wählern des Kandidaten der Grünen, Boris Palmer. Dieser hatte sich nach dem ersten Wahlgang mit einer Wahlempfehlung für Schuster zurückgezogen. Unter der Bedingung allerdings, dass Schuster im Fall der Verwirklichung von »Stuttgart 21« einen Bürgerentscheid über die Mehrkosten durchführen lässt. Obwohl die Stadt nun mit weitaus mehr Geld am Projekt beteiligt ist, kommt es für Schuster nicht in Frage, abstimmen zu lassen.

Um das Geld für das größenwahnsinnige Projekt hereinzubekommen, soll gespart werden, und zwar – wo sonst? – im Nahverkehr. Der baden-württembergische Finanzminister Gerhard ­Stratthaus (CDU) verklausulierte es so: »Die Regionalisierungsmittel des Bundes werden verstärkt für Stuttgart 21 ausgegeben.« Soll heißen: Stuttgart hebt ab, und anderswo kommt kein Zug mehr.

Einige Gegner von »Stuttgart 21« hoffen noch, durch das Sammeln von Unterschriften ein Bürgerbegehren zu erzwingen, doch auch bei dieser Abstimmung würde nur über die Finanzierung und nicht über den Bau entschieden. Die Befürworter feiern die Vertragsunterzeichnung mit hohler Rhetorik. Aus der Sicht von Oettinger werden Stuttgart und die Region »europatauglich« gemacht. Auf einem Treffen der Industrie- und Wirtschaftsvereinigung bezeichnete er die Gemeinde Leinfelden-Echterdingen als besten Platz Europas. Just jene Gemeinde also, die noch vom dreijährigen Bau neuer Messehallen gebeutelt ist und der demnächst der Bau einer zweiten Startbahn auf dem Flughafen Stuttgart-Echterdingen ins Haus steht. Ab dem Jahr 2020 rast dann auch noch der gesamte Bahnverkehr von und nach der Schweiz und Italien durchs Dorf.

Mit Floskeln wie »Export heißt Erreichbarkeit« oder »Infrastruktur ist Zukunft« verkaufen Oettinger und Schuster ihr kurioses Projekt. Kritiker werden als »Bremser« denunziert. Denn Stuttgart fährt los: gegen die Wand.