Die Jungen rennen für die Alten

Fünf Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs wird in Sierra Leone gewählt. Doch an den Verhältnissen, die zum Ausbruch der Kämpfe führten, hat sich wenig geändert. von sophie feyder

Wer in diesen Tagen in Freetown joggt, riskiert eine Festnahme, insbesondere, wenn er grüne oder orangefarbene Kleidung trägt. Es habe zahlreiche Beschwerden gegeben über »Personen, die in den Hauptstraßen Freetowns angeblich joggen«, teilte die Polizei mit. Nun ist das Joggen bis zum Wahltag verboten. Denn nicht sportliche, sondern politische Motive spornten viele Läufer an. Sie warben für eine Partei und trugen deren Farben, der Einsatz dieser mobilen Wahlkämpfer führte zu Konflikten.

Am kommenden Samstag wählt die Bevölkerung Sierra Leones den Präsidenten und das Parlament. Während des Wahlkampfes kam es in der Hauptstadt Freetown, in der Stadt Bo und der Provinz Kailahun zu Kämpfen zwischen Anhängern der regierenden SLPP (Sierra Leone People’s Party, grünes Logo) und dem PMDC (People’s Movement for Democratic Change, orangefarbenes Logo). Häuser wurden niedergebrannt, zwei Menschen starben, doch verglichen mit den Machtkämpfen der jüngeren Vergangenheit war der Wahlkampf geradezu friedlich. Im Bürgerkrieg zwischen 1991 und 2002 waren 50 000 bis 200 000 Menschen gestorben. Etwa 20 000 amputées leben im Land, ihnen wurden, meist von Guerilleros der Ruf (Revolutionary United Front), die Hände abgehackt.

Die Wahlen gelten als Testfall für das nation building und für den Erfolg der Maßnahmen, mit denen die »internationale Gemeinschaft« versucht hat, das Land zu stabilisieren. Im Falle Sierra Leones ist das besonders wichtig, denn die Peace­building Commission der Uno hat das Land im vergangenen Jahr zusammen mit Burundi zu priority countries erkoren. Die Friedenstruppe Unamsil, die 1999 in Sierra Leone stationiert wurde, war die stärkste und teuerste Blauhelmtruppe dieser Zeit. Nach dem Ende des Krieges organisierte die Uno institutionelle Hilfe.

Wie in anderen failed states gehört es zu den größten Problemen des Wiederaufbaus, dass die Warlords, ihre Klientel und ihre Kämpfer auch die neue Ordnung bestimmen. Die Durchsetzung des Gewaltmonopols ist der wichtigste Schritt zur Durchsetzung staatlicher Autorität. Die letzten Blauhelmsoldaten verließen Sierra Leone im Dezember 2005. Vor allem Großbritannien hat sich bei der Restrukturierung der Sicherheitskräfte engagiert.

Doch die Bevölkerung hat wenig Vertrauen in die Ordnungshüter. Während des Bürgerkriegs gab es keine klaren Frontlinien, viele der unterbezahlten Soldaten und Polizisten schlossen sich der Ruf an, andere plünderten, vergewaltigten und mordeten auf eigene Rechnung. In Sierra Leone bezeichnet man sie als sobels, halb Soldat, halb Rebell. Viele sobels dienen auch in der neuen Armee, deren Loyalität daher fraglich ist.

Einem Mitte Juli veröffentlichten Bericht der International Crisis Group (ICG) zufolge besteht derzeit keine unmittelbare Bürgerkriegsgefahr. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der Ruf im Jahr 1999 gab es Fortschritte beim Wiederaufbau. Straßen, Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut oder renoviert, in Freetown gibt es erstmals seit Jahrzehnten wieder Straßenbeleuchtung.

Weil der Diamantenhandel erneut floriert, liegt das Wirtschaftswachstum bei sieben Prozent pro Jahr. Seit der Anwendung der Kimberley Process Certification wird die Herkunft von Diamanten dokumentiert, um Warlords vom Handel auszuschließen. Sierra Leone, einst der Herkunftsort von »Blutdiamanten«, gilt nun wieder als legitimer Handelsplatz, auch wenn manche Menschen­rechtsorganisationen die Überwachungsmechanismen noch für unzureichend halten.

Der Wahlkommission NEC ist es gelungen, 91 Prozent der geschätzten Zahl der Wahlberechtigten zu registrieren, eine beachtliche Leistung in einem Land, in dem mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch den Bürgerkrieg vertrieben wurde. Die Mitarbeiter der NEC gelten als kompetent, die Institution steht, was in Sierra Leone kaum eine Behörde von sich behaupten kann, im Ruf, unabhängig und neutral zu sein.

Doch an den sozio-ökonomischen Verhältnissen, die den Krieg verursacht haben, hat sich wenig geändert. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut, größere Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung gibt es nicht. Es gibt keine wirksame Kontrolle des Staatsbudgets und des Finanzsystems, entsprechend leicht ist es, von ausländischem Hilfsgeld etwas abzuzweigen. Das Bergbauministerium ist nicht in der Lage, die Minen und Gruben zu überwachen, so dass einflussreiche Politiker weiterhin vom Rohstoffhandel profitieren können. Es gibt zwar eine Antikorrup­tions­kommission, doch die ICG bezeichnet sie als »prak­tisch todgeweiht«, die meisten Menschen in Sierra Leone würden wohl bezweifeln, dass sie jemals am Leben war.

Eine weitere Ursache der Unzufriedenheit ist die Reintegration der ehemaligen Kämpfer und Kindersoldaten. Viele der Demobilisierten bezwei­feln, dass sie vom Frieden so sehr profitieren wie vom Krieg. Das DDR-Programm (Disarmament, Demobilisiation, Reintegration) der Uno erfasste 70 000 Kämpfer. Doch nur 42 Prozent derer, die an diesem Programm teilnahmen, fanden anschließend einen Job, meist als Straßenreiniger. Mehr als die Hälfte der ehemaligen Milizionäre stimmte bei einer Umfrage der Aussage zu: »Die Lage ist genauso oder schlechter als vor dem Krieg.« Für viele ist die Demobilisierung nur eine Geldquelle, wer seine Waffe abgibt, erhält umgerechnet 113 Dollar.

Viele Milizionäre, vor allem Kindersoldaten, wur­den zwangsrekrutiert. Dennoch erscheint bereits die Teilnahme an einem Programm, das einem regelmäßige Mahlzeiten und ein für Landesverhältnisse beachtliches Handgeld verschafft, vielen, die nicht kämpften, als unverdientes Privileg. Etwa 80 Prozent der 15- bis 24jährigen sind arbeitslos, unzufriedene Jugendliche und junge Männer waren die soziale Basis der Bürgerkriegs­parteien.

Die Kämpfe waren auch eine Rebellion der Jugend gegen das patrimoniale System der big men, der kleinen und großen Machthaber, die sämtliche Ressourcen für sich beanspruchten. Foday Sankoh, der Führer der Ruf, nutzte die Ressentiments gegen die Oligarchie, um Jugendliche aus den verarmten ländlichen Regionen zu rekrutieren. Das PMDC, das sich von der SLPP abgespalten hat, gilt als Partei der Jugend. Ihr haben sich viele desillusionierte ehemalige Kombattanten angeschlossen, die Partei hat einige jüngere Kandidaten aufgestellt. Doch weiterhin heuern Parteiführer Jugendliche an, um ihre Gegner einzuschüchtern. Ein Rückfall in den Bürgerkrieg ist möglich, wenn es nicht gelingt, die sozialen Probleme zu lösen.

Die »internationale Gemeinschaft« versucht, die Bürgerkriegsparteien durch die Verhaftung ihrer Führer aufzulösen. Der Special Court for ­Sierra Leone soll über jene urteilen, die die »größte Verantwortung« für Kriegsverbrechen tragen. In Den Haag wird derzeit gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor verhandelt, der die Ruf unterstützte. Im Juni wurden drei Kommandanten der Ruf zu 45 bis 50 Jahren Gefängnis verurteilt. Die von der Warlordisierung verursachten gesellschaftlichen Probleme werden dadurch nicht gelöst, nicht selten sind Täter und Opfer Nachbarn.

Präsident Tejan Kabbah, der die letzten Wahlen im Mai 2002 gewann, tritt nicht erneut an. Allerdings wird wohl auch in Zukunft ein big man das Staatsoberhaupt sein. Die ICG warnt, dass die Bevölkerung »schlechte Regierungsführung und das Fehlen wirtschaftlicher Entwicklung wahrscheinlich nicht mehr lange tolerieren wird«.