Die Armut auflösen

Zwei Jahre nach dem Hurrikan »Katrina« sollen bald die Sozialwohnungskomplexe in New Orleans abgerissen werden. An ihrer Stelle sollen mixed-income-Quartiere entstehen. Mittel- und Unterschicht, so das Konzept, sollen dort gemeinsam wohnen und zu einem neuen homogenen So­zialgefüge zusammenwachsen. Die Wohnbehörde und die Baufirmen verteidigen ihre Pläne als einzigen Weg, den afroamerikanischen Jugendlichen aus den Ghettos zu helfen. Die ehemaligen Bewohner sprechen von »sozialer Säuberung«. Zweiter Teil einer Reportage von christian jakob und friedrich schorb

Das Büro von Donald Babers liegt in einem vierstöckigen Bürogebäude in einem staubigen Gewerbegebiet, weit außerhalb des Zentrums. Wer zu ihm will, dem weist ein Pförtner den Weg: »Wenn man aus dem Fahrstuhl, der nicht funk­tioniert, aussteigt, rechts.« Die Hano, die Wohnnungsbehörde von New Orleans, wird seit Jahren von der zuständigen Bundesbehörde zwangs­verwaltet, nachdem sie landesweit wegen Inef­fizienz und Korruption berüchtigt gewesen ist. Donald Babers, ein massiger Afroamerikaner Mitte fünfzig, im schwarzen Hemd und mit viel Goldschmuck am Körper, wurde aus Washington als neuer Direktor der Hano eingesetzt. Von den Communities, von Sharon Jasper und Mar­tha Johnston (Jungle World 37/07), hält er nichts: »Die Projects waren nie als Communities gedacht«, sagt er.

Dass Anwälte ihm vorwerfen, rechtmäßige Mieter mutwillig aus ihren Wohnungen auszusperren, hält er für »Populismus«. Eine entsprechende Klage der Mieterverbände ist seit über einem Jahr beim Bezirksgericht anhängig. »Die Objekte sind voller Schimmel«, sagt er. »Die Beset­zer haben geglaubt, mit ein bisschen Putzen könnte man sie wieder herrichten – totaler Quatsch.« Dass eine Delegation von Architekten die zeitwei­se gut einen Meter unter Wasser stehenden Gebäude begangen und sie für bewohnbar erklärt hat, lässt er nicht gelten. Seine Baugutachter sagen das Gegenteil. »Wir versuchen, diesen Leuten zu helfen«, sagt Babers. Das Konzept von Public Housing sei es stets gewesen, vor­über­gehende Hilfe in einer Notlage zu bieten. »Es ist nicht dafür da, dort 30 Jahre lang zu leben und arm zu bleiben.« Dass Alte und Behinderte dort auf Dauer blieben, das gehe in Ordnung. »Aber die so genannten Communities der arbeitsfähigen Bewoh­ner kosten den Steuerzahlern jedes Jahr Abermillionen Dollar.« Für Babers ist die Lösung klar: »Wir müssen Qualifizierung anbieten und in den Köpfen der Leute etwas bewegen.«

Seine Lösung lautet: mixed income. »Wenn du siehst, wie alle deine Nachbarn zur Arbeit gehen, dann willst du das auch. Was kann daran schlecht sein?« fragt Babers. Mixed income, das ist das Credo der US-amerikanischen Sozialwohnungspolitik seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan. Nicht mehr der als ineffizient geltende Staat soll den sozialen Wohnraum bewirtschaften, sondern pri­vate Immobiliengesellschaften sollen das tun. Mixed income heißt so viel wie: gleicher Ort, verschiedene Schichten. Menschen mit »Transfereinkommen«, working poor und solche mit white collar jobs sollen alle im selben Quartier wohnen und zu einem neuen, homogenen Sozialgefüge zusammenwachsen. Die Konzentration der Armut soll dadurch verhindert werden, die verbleibenden Armen sollen sich im Milieu der Mittelschicht auflösen wie homöopathische Mittel in Wasser, und irgendwann, so die Hoffnung, sollen sie ganz verschwinden.

Babers will die vier großen, verbliebenen Public Housing Projects der Stadt abreißen und durch mixed-income-Quartiere ersetzen lassen –Qualifizierungsprogramme für die darin wohnenden Sozialmieter inbegriffen. Die öffent­lichen Subventionen hierfür liegen bei rund einer Milliarde Dollar. Das Geld ist von der Regierung in Washing­ton bereits bewilligt worden. Die Instandsetzung der Public Housing Projects würde rund 400 Millionen Dollar weniger kosten. Die neuen Quartiere werden deutlich weniger Menschen mit wenig Geld ein Dach über dem Kopf bieten. Denn für mixed income muss auch die Bebauungsdichte sinken. Sonst sind die Wohnungen auf dem freien Markt kaum konkurrenzfähig. Ein Drittel der neuen Bewohner soll sich aus der alten Bevölkerung der Projects rekrutieren, verspricht Babers – bei einer deutlich geringeren Zahl an Gesamtwohn­einheiten. Nur ein Bruchteil der ehemaligen So­zial­mieter kann also einen Platz in einem mixed-income-Quartier beziehen.

»Der Rest kriegt Vouchers« und solle sich selber Wohnungen suchen, sagt er. Er sagt nicht, dass die Vouchers ihnen nichts nützen, weil der Sturm die meisten Häuser zerstört hat, dass sie sich die ebenfalls stark gestiegenen Nebenkosten nicht leisten können und nur wenige von den mixed-income-Projekten profitieren werden. »Das sagen die Nörgler, die ewigen Neinsager.« Zudem, davon ist Babers überzeugt, seien diese eine Minderheit. »Die meisten Bewohner werden froh sein, wenn sie in die neuen Quartiere einziehen können.« Gefragt hat er sie noch nicht: »Es ist schwierig, Kontakt zu den Katrina-Opfern aufzunehmen. Sie leben im ganzen Land verstreut, und niemand hat all ihre Adressen. Aber wir arbeiten daran.«

Den ersten Schritt in Richtung mixed income unternahm man in New Orleans Mitte der neunziger Jahre. Damals stand am Ufer des Mississippi, keine drei Kilometer südlich des French Quarter, das St. Tomas-Project. Eine Immobilienfirma aus New Orleans studierte, wie in Städten private Baufirmen im Staatsauftrag das mixed-income-Konzept realisierten. Den Managern der Historic Restoration Inc. (HRI) war klar: Die Sache ist ein Riesengeschäft. Als sie erfuhren, dass die Regierung Mittel bewilligt hatte, um auch St.  Tomas zu einem mixed-income-Quartier umzuwandeln, legte die HRI ein Konzept vor, das die Behörden überzeugte: eine Mischung aus Sozialwohnungen, Apartments für den freien Wohnungsmarkt und »kleinen, von Bewohnern betriebenen Geschäften«. Das Projekt sollte von den Bewohnern selbst verwaltet werden. Vorgesehen war eine »funktionierende, ausbalancierte Arbeitersiedlung«. Ihr Name sollte »River Garden« sein. Ihr Bau war den öffentlichen Kassen Subventionen von etwa 100 Millionen Dollar wert.

Brod Bagert, Wirtschaftwissenschaftler der London School of Economics, hat River Garden untersucht. »Die Siedlung ist nichts weiter als eine gigantische öffentliche Subvention für ein privates, hochrentables Bauprojekt«, sagt er. Es handle sich um einen »Betrug« an den Bedürf­tigen, denen die Wohnhilfemittel hätten zugute kommen sollen.

Weniger als die Hälfte der vereinbarten Sozialwohnungen habe die HRI gebaut. Nun kommen auf einen Sozialmieter vier voll zahlende Mieter. Vorgesehen war das umgekehrte Verhältnis. Statt der »kleinen, von Bewohnern betriebenen Geschäfte« siedelte die HRI einen »Wal-Mart« an. Mit dem Verweis auf steigende Baukosten und allerlei Abrechnungstricks rechtfertigte die HRI die Abweichung vom ursprünglichen Plan – die öffentliche Hand habe es sich bieten lassen, sagt Bagert.

River Garden umfasst 1 100 Wohneinheiten in bunten Doppelhäusern aus Holz. Überflutet wurde hier nichts. Jeder Vorgarten ist mit einem klei­nen Zaun abgesteckt. Einige Mieter aus anderen Projects sind hier einquartiert worden. Schlecht seien die Wohnungen nicht, sagen sie, doch fühlen sie sich hier immer ein wenig »wie unter der Lupe«. Angestellte der Immobiliengesellschaft machen tägliche Runden durch das Quartier. Wessen Kinder ihre Spielzeuge vor dem Haus herumliegen lassen, wer laut fernsieht oder im Vorgarten grillt, mit dem wird ein wenig »geredet«. Hilft dies nicht, kommt schnell ein Brief vom Management. »Customer care« nennt das die Firma. Verhaltensweisen, die im Project niemanden stören, werden hier sanktioniert – die kulturellen Vorstellungen der voll zahlenden white-collar-Arbeiter diktieren, was erlaubt ist. Dauerhafte Renitenz kann sich niemand leisten. Wen die Immobiliengesellschaft aus seiner Sozialwoh­nung wirft, der muss wieder Jahre auf eine neue Sozial­wohnung warten – mit ungewissem Erfolg. Das Außenseiterdasein der Armen, das im homo­genen Sozialblock ein wenig aus dem Blickfeld rückte, ist in St. Tomas allgegenwärtig.

An der Zufahrtsstraße zu River Garden hat die Entwicklungsgesellschaft ihr Büro in einem zwei­stöckigen pastellfarbenen Holzhaus. Ihr Manager ist ein weißer Mittvierziger mit Turnschuhen und beigem Poloshirt, das in einer gleichfarbigen Freizeithose steckt. »Mein Name ist Trey, und ich bin Republikaner«, stellt er sich vor. Es soll eine Provokation sein. Man ist von Journalisten nichts Gutes gewohnt. Seitdem vor Jahren die zweifelhaften Subventionen bekannt wurden, kommen sie und stellen immer die gleichen Fragen. Trey Langus’ Antworten sind wohlerprobt: »Wir haben hier einen Standard an Wohnqualität geschaffen, den der Staat nicht im Traum bereitstellen könnte.« Zu den »finanziellen Details« äußere man sich nicht.

Ronald Baptiste, dem Mieterbeauftragten von Langus, sind die sozialtechnischen Implikationen des mixed-income-Konzepts bewusst. Das Unbehagen ihrer Sozialmieter sieht er als eine Art Über­gangsphase. »Ja, es ist notwendig, diese Men­schen umzuerziehen. Zwei Mal sogar«, sagt Baptiste. Man müsse sie dazu bringen, ihren inneren Widerstand aufzugeben, sie müssten aufhören, sich »fremd« zu fühlen. »Es muss ihnen dort gefallen, wo sie leben.« Hierzu arbeite man mit Sozialarbeitern zusammen. »Die ganze Nacht vor dem Haus sitzen, laute Musik hören und dann den Tag verschlafen – dieses Verhalten steht ihnen nur selbst im Weg.« Die Sozialmieter sollen sich an ihren neuen Nachbarn, die nicht auf So­zialleistungen angewiesen sind, ein Beispiel nehmen. »Dann werden sie versuchen, sich zu qualifizieren und eine gute Arbeit zu bekommen.«

Ron Everard hat fast zwei Jahrzehnte als eine Art Sozialarbeiter in St. Tomas gelebt. Der weiße Geistliche hält die pädagogische Mission der Sozialbürokratie und ihrer Partner aus der Immobilienwirtschaft für »kulturellen Genozid«. Die Projects seien in den ganzen USA Keimzelle einer besonderen afroamerikanischen Kultur, sagt er. Bedeutende Hip-Hop-Künstler stammten von dort, Rap oder auch das moderne schwarze Kino seien ohne das soziale Milieu der Projects so nicht denk­bar. »Als Reagan entschied, die Projects niederzu­reißen, hat er entschieden, die Kultur der armen Schwarzen zu eliminieren und ihre Köpfe mit sei­ner Idee vom weißen Leben zu kolonisieren.« Die unkontrolliert wuchernde afroamerikanische Pa­rallelgesellschaft in den Projects, eine Tabuzone für jeden Fremden an der Schnittstelle von Krimi­nalität, Schattenwirtschaft und Prekarität, hätten die Republikaner stets »als Bedrohung« empfunden.

Malik Rahim, der ehemalige Black Panther, (Jungle World 37/07), vermutet andere Gründe hinter dem staatlichen Feldzug gegen die schwar­zen Sozialghettos. »Die Projects waren immer ein Kristallisationspunkt afroamerikanischer Organisierung – und deshalb gefährlich«, sagt er. Bis in die achtziger Jahre sei der Organisationsgrad der Bewohner durch Mieterverbände kontinuierlich gestiegen. Diese hätten sich schließlich auch auf nationaler Ebene zusammengeschlossen. Zudem hätten die Verbände auch Angehörige der schwarzen Bevölkerung außerhalb der Projects gewinnen können – insbesondere mit Wahlaufrufen. »Die Mieterverbände hatten kein unmittelbar politisches Programm. Aber wenn sich zwei Millionen Schwarze zusammenschließen, ist das für das Establishment immer ein Problem«, sagt Rahim.

Mike Davis, Historiker an der University of California in Irvine, gilt als berühmtester Urbanist der USA. Er hält die Theorien von Everard und Rahim über die Sozialbau-Politik für »wahr, aber nebensächlich. In Wirklichkeit geht es vor allem um eines: extrem wertvolles Land endlich gewinn­bringend vermarkten zu können«, sagt er. Politiker würden »die Schwarzen aus den Städten vertreiben, damit weiße Bauunternehmer ein Riesengeschäft machen können«. Wenn es gelänge, die Sozialbauten aus der Umgebung des Geschäfts- und Touristenzentrums zu entfernen, meint Davis, würde es wieder attraktiv, in der Stadt zu leben. Würden die Sozialblocks durch neuen, hochwertigen Wohnraum ersetzt, so strahle dies auf die gesamten Stadtteile aus. Ein starker Anstieg der Mieten – und der Immobilienrenditen – sei mittelfristig die Folge. »Die soziale Säuberung ist vor allem materiell motiviert«, sagt Davis.

Der Zustand der Innenstadt von New Orleans scheint diese Theorie zu bestätigen. Wer in diesen Tagen dorthin kommt, muss glauben, dass die Sturmschäden immer noch nicht beseitigt sind. Die Schaufenster ganzer Blöcke sind mit Brettern vernagelt. Provisorische Zäune, selbst schon verfallen, sollen verhindern, dass sich Obdachlose in den dunklen Höhlen einnisten, die einst Eingänge von Hotels oder Bankfilialen waren.

Der Stadtsoziologe David Gladstone erklärt: »Das Zentrum war gar nicht überflutet. Hier sieht es schon seit Jahren so aus.« Die Innenstadt von New Orleans verfällt, ebenso wie die vieler anderer amerikanischer Großstädte. Die Suburbanisierung, der Wegzug der weißen, zahlungskräftigen Mittelschicht in neue, sterile Vororte, lässt die Zentren ausbluten. In Sichtweite der verfallenden Wolkenkratzer stehen zwei der großen Public Housing Projects: das teils wieder eröffnete Iberville- und das völlig verrammelte Tremé-Project. Ein wenig weiter, hinter dem Louisiana Superdome, BW Cooper und CJ Peete. St. Bernard (Jungle World 37/07) liegt als einziges weiter außerhalb. Als man dachte, in den Wohnkomplexen würden dauerhaft die weißen Kriegsheimkehrer und das weiße Subproletariat leben, für das sie vor 60 Jahren gebaut worden waren, hielt man die zentrale Lage für eine gute Wahl. Doch über die Jahrzehnte übernahmen die Schwarzen die Sozialbauten, ihr Anteil stieg auf fast 100 Prozent. Nun drängen die Subventionsmillionen, die Ideo­logie der »Armutskultur« und das eingedrungene Wasser des Lake Pontchartrain die afroamerikanische Hoheit über das Zentrum zurück. Den af­ro­amerikanischen Bewohnern bleiben die Assimila­tion, die verfallenen Ruinen am Stadtrand oder die soziale Isolation in den Orten ihrer Evakuierung.

Für das Tremé-Project sind die Verhandlungen praktisch abgeschlossen, für die übrigen Projects ist die Hano optimistisch, bald zu einer Einigung mit den Projektentwicklern zu gelangen. Die Fertigstellung der ersten mixed-income-Quartiere ist für das Ende des Jahrzehnts geplant. Bis dahin müssten die von Donald Babers Ausgesperrten auf jeden Fall in den Städten ausharren, in die das Wasser sie gespült hat. Es ist gut möglich, dass sich der Drang der Katrina-Opfer, an den Mississippi zurückzukehren, bis dahin von alleine gelegt hat.

Jeder, den die Flut vertrieben hat, sei »herzlich eingeladen, zurückzukommen«, versichert Donald Babers beim Abschied. Niemand wolle aus New Orleans wieder die überwiegend von Weißen bevölkerte Stadt machen, die sie noch vor wenigen Jahrzehnten war. Und wer in den neuen schmu­cken Quartieren nicht unterkomme, dem werde auf andere Weise geholfen, keine Frage.

Anfang September bekam Babers Besuch von Sharon Jasper samt Nachbarn. Die ausgesperrten Project-Bewohner besetzten für einige Stunden die Hano-Zentrale. »Wir wollen unsere Häuser zurück«, ließen sie Babers über seinen Presse­sprecher ausrichten. Doch Babers weigerte sich, mit den Besetzern zu sprechen.