Halt, Polizeiübergriff!

Ein deutscher Staatsbürger nigerianischer Herkunft behauptet, in Freiburg Opfer eines Polizeiübergriffs geworden zu sein. An­klage allerdings wurde gegen ihn erhoben: wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Der Fall zeigt, wie schwer es hierzulande ist, nach polizeilichem Fehlverhal­ten sein Recht zu bekommen. Von Ron Steinke und John Philipp Thurn

Eigentlich war der Polizeieinsatz gar nicht nötig. Als Kingsley O., ein 43jähriger deutscher Staatsbürger nigerianischer Herkunft, am 7. April auf der Straße in Freiburg einer betrunkenen Frau begeg­nete, die ihm von einem Notfall berichtete, wollte er helfen und rief die Polizei. Zwei Streifenwagen kamen, schnell stellte sich aber heraus, dass sich die Betrunkene den Notfall nur eingebildet hatte. Die vier Polizisten machten nach ihrem vergeblichen Anrücken allerdings nicht einfach kehrt, sondern verlangten nun von Kingsley O., dass er sich als »Zeuge« ausweise. Als er sich mit der Begründung weigerte, er habe den vermeintlichen Notfall gar nicht gesehen, sondern nur die Polizei alarmiert, wurde er zu Boden gerungen und unter den Augen von etwa 30 Personen, die währenddessen auf der anderen Straßenseite eine Trauerfeier besuchten, festgehalten.

Kingsley O. sagt, eine Polizistin habe dabei ihren Hund auf ihn losgelassen, und zwar mit den Worten: »Friss den Neger!« Diese Worte kann niemand sonst bezeugen. Dass der Hund den längst am Bo­den liegenden Mann gebissen hat, ist dagegen unstrittig. Eine Augenzeugin erzählte dem Lokalsender TV-Südbaden, der Mann habe sich während des Angriffs des Hundes nicht mehr wehren können. Kingsley O. kam mit Bissverletzungen ins Krankenhaus. Er wird seither auch psychologisch behandelt, ebenso wie sein achtjähriger Sohn, der bei dem Vorfall zugegen war.

Als O. später Strafanzeige gegen die vier Beamten erstattete, setzte er Ermittlungen in Gang – allerdings Ermittlungen von niemand anderem als der Polizei selbst. Denn während etwa in Groß­britannien, Frankreich oder Portugal unabhängige Untersuchungskommissionen für die Ermittlung bei polizeilichen Übergriffen verantwortlich sind, bleibt hierzulande die Polizei auch bei Straf­verfahren in eigener Sache zuständig. Der weitere Verlauf des Falles von Kingsley O. wirkt geradezu exemplarisch dafür, wie diese Strukturen im Fall von mutmaßlicher Polizeigewalt funktionieren.

Zwar werden die Ermittlungen gegen Polizistinnen und Polizisten nicht von deren unmittelbaren Kollegen geführt, sondern von organisatorisch getrennten Polizeieinheiten. In Freiburg ist dies das »Dezernat Sonderfälle«. Für die betroffenen Polizisten ist die Ausgangslage dennoch güns­tig: Die Vernehmenden teilen die polizeiliche Per­spektive der Vernommenen, sie kennen deren All­tag und schätzen die Beschuldigten daher eher als glaubwürdig ein. Welchen Spuren die Polizei nachgeht und wann sie ihre Suche nach Beweisen für die Vorwürfe einstellt, entscheidet sie selbständig. »Eine unabhängige Kontrolle der Polizei findet in der Bundesrepublik Deutschland nicht statt«, resümierte der Menschenrechtsausschuss der UN bereits im Jahr 1996. Das Freiburger »Dezernat Sonderfälle« jedenfalls meldete nach fünf Monaten, die Ermittlungen im Fall von Kingsley O. hätten »kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten« der Polizeibeamten ergeben.

Ein solch typischer Verlauf der Ermittlungsarbeit stellt in der Praxis jedoch nicht den einzigen Glücksfall für beschuldigte Polizistinnen und Polizisten dar. Ihr wahrer Freund und Helfer ist der Staatsanwalt. Nur wenn dieser einwilligt, kann in Deutschland ein Strafverfahren gegen Staatsbedienstete vor Gericht gebracht werden – anders als etwa in den USA, wo die betroffenen Privatleute selbst die Anklage übernehmen können. Klagen gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft sind in Deutschland zwar möglich, in der Praxis aber meist aussichtslos. Und als Behörde, die täglich auf die gute Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen ist, ist die Staatsanwaltschaft gegenüber tatverdächtigen Polizeibeamten alles andere als unabhängig.

Nach der Strafprozessordnung ist die Staatsanwalt­schaft zwar dazu verpflichtet, in jedem Fall Anklage zu erheben, sobald ein »hinreichender Tatverdacht« besteht. Die Auslegung dieses Begriffs hat sie allerdings selbst in der Hand. Ein Großteil der Verfahren gegen Beschuldigte in Uniform bleibt daher auch in diesem Stadium stecken. In Berlin beispielsweise ergab eine parlamentarische Anfrage, dass von jährlich etwa 1 000 Ermittlungs­verfahren wegen »Körperverletzung im Amt« 98 Pro­zent eingestellt werden, bevor sie vor Gericht kommen.

Einen »hinreichenden Tatverdacht« gegen die vier Polizeibeamten mochte auch der Freiburger Oberstaatsanwalt Wolfgang Maier nicht feststellen. Er gab der Presse zu bedenken, eine Festnahme von Kingsley O. sei an jenem 7. April zur Feststellung seiner Personalien »zumindest formal« rechtens gewesen. Der Einsatz des Diensthundes, so führte der Oberstaatsanwalt weiter aus, sei immerhin »geeignet« gewesen, um »in Verbindung mit der anschließend eingesetzten einfachen körperlichen Gewalt« den »Widerstand« von Kingsley O. zu brechen. Ob der Einsatz des Diensthundes darüber hinaus auch in irgendeiner Weise erforderlich war, erwähnte Maier nicht.

Der Oberstaatsanwalt war unterdessen nicht untätig. Auf eine Gerichtsverhandlung wird die Öffentlichkeit im »Hundebiss-Fall« daher nicht verzichten müssen. Denn die Staatsanwaltschaft hat beim Amtsgericht Freiburg einen Strafbefehl gegen den Gebissenen erwirkt – wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Bedrohung. Kingsley O. wurde vom Gericht verwarnt, zudem behielt sich der Richter die Möglichkeit vor, später eine Geldstrafe zu verhängen.

Der Anwalt von Kingsley O., Thomas Bayer, hat dagegen nun Einspruch eingelegt, so dass der Fall demnächst vor Gericht verhandelt werden wird. Seiner Meinung nach ist »die Situa­tion regelrecht pervertiert«, da sich der Strafbefehl ausgerechnet gegen das eigentliche Opfer richte. Gleichzeitig will Bayer mit einer Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft in Karlsruhe erreichen, dass die Freiburger Staatsanwaltschaft doch noch Anklage gegen die vier Polizisten erheben muss.

Für seinen Anwaltskollegen Jens Janssen zeigt der Fall auch den »neuen scharfen Wind«, der bei der Freiburger Polizei seit der Ernennung ihres Leiters Heiner Amann eingezogen sei. Janssen und acht weitere Anwältinnen und Anwälte kritisierten bereits Ende Juli in einer gemeinsamen Erklärung, dass »Gegenanzeigen« als Reaktion auf Meldungen über Polizeigewalt vor allem dem Ziel dienten, »das Ansinnen von Bürgern, Sachverhalte durch die Justiz überprüfen zu lassen, zu bagatellisieren und zu diskreditieren«.

Oberstaatsanwalt Maier hingegen hat inzwischen eine Erklärung dafür, weshalb Kingsley O. über das bisherige Ergebnis der von ihm erstatteten Strafanzeige sogar froh sein müsse. Dem Gebissenen hätte man nämlich auch noch eine falsche Verdächtigung vorwerfen können, meint er. Schließlich habe die Staatsanwaltschaft für die Behauptung von Kingsley O., er sei in rassistischer Weise beleidigt worden, keine Beweise finden können. Doch Maier gab sich gnädig: »Wir gehen davon aus, dass er diese Verdächtigungen nicht wider besseren Wissens gemacht hat. Wir halten ihm dabei einen psychischen Ausnahmezustand zugute.« Der Staatsanwalt und die Polizei werden also ein Auge zudrücken. Zumindest solange Kingsley O. so etwas nicht noch einmal macht.