Kunst, Kontext und Kebab

Ausstellungen an ungewöhnlichen Orten, Globalisierungskritik in allen Formen und Formaten und ein Hauch von ­Multitude: Hou Hanru hat die 10. Biennale in Istanbul nach den geltenden Regeln des internationalen Kunstbetriebs ausgerichtet. Doch die türkische Kritik begegnet dem chinesischstämmigen Kurator gönnerhaft.

Als er die erste Pressekonferenz im Frühjahr gab, fand die Istanbuler Kunstszene den Kurator der 10. Bien­nale, Hou Hanru, bereits etwas putzig. Jungenhaft wirkte der 1963 in China geborene Hanru zwar, als er das Konzept vorstellte, aber offen­sichtlich wusste er genau, was er wollte. »Nicht nur möglich, sondern notwendig: Optimismus im Zeitalter globaler Kriege«, lautet das etwas umständliche Motto der Anfang September eröffneten Schau. Hanru selbst beschrieb die Aus­stellung bei der Eröffnung treffend als »schwer verdaulich« und »chaotisch wie die Stadt und ihr momentanes politisches Milieu«.

Der in Paris und San Francisco lebende Kurator verbrachte mehr Zeit in der Türkei als jeder andere nicht-türkische Kurator vor ihm. Und so entstand dort in den zurückliegenden Wochen sukzessive das Profil der Ausstellung. Zwar schien zunächst alles aufs große Chaos hinauszulaufen: die Wahl der Orte, die erst zwei Wochen vor der Eröffnung veröffentlichte Liste der teilnehmenden Künstler. Der Katalog wurde erst in letzter Minute fertig, ein kleines, unübersichtliches Handbuch lässt die Besucher relativ orientierungslos durch die 20-Millionen-Stadt irren.

Die bevorzugten historischen Ausstellungsorte wie die Hagia Sophia, die Zisterne Yerebatan Saray und die Münzstätte des Topkapi-Palasts werden diesmal ausgespart. Stattdessen wählte Hanru das Atatürk-Kulturzentrum (AKM) als Aus­stellungsort, ein typisch kemalistisches Bauwerk der siebziger Jahre mit großen Hallen und braunen, metallbeschlagenen Wänden, Emporen und klobigen Bronzeköpfen in den Ecken. Die Metall­bildnisse stellen verdiente türkische Musiker, Schauspieler und Kuratoren dar. Das Gebäude hat seine beste Zeit hinter sich und ist zugleich ein symbolträchtiger Ort, über dessen Zukunft ähnlich heftig gestritten wird wie etwa in Berlin um den Erhalt des Palasts der Republik. Die meisten Besucher der Biennale beginnen ihren Rundgang im Kulturzentrum. Die Arbeiten sind geschickt so verteilt, dass das gesamte Gebäude durchwandert werden muss. Die türkische Kunstkritik jubelt, denn schließlich ist das Atatürk-Kulturzentrum für die meisten Istanbuler das Gebäude, vor dem sie ihr erstes Rendezvous hatten und in dem sie ihr erstes klassisches Kon­zert hörten. Anfang der Neunziger wurde Yasar Kemal als erster Schriftsteller schon zu Lebezeiten mit einer Bronzebüste geehrt. Er ertrug dies nur, weil sein Freund, der Sänger Zülfü Livaneli, dazu die Hymne der Linken, »Özgürlük« (Freiheit), singen durfte. Nach dem Militärputsch von 1980 machte sich die Intelligenzija hier auf den Weg, die zeitgenössische Zivilgesellschaft auf­zu­bauen und die großen türkischen Tabu­themen, Minderheitenrechte, die Rolle der Religion und Kemalismus-Kritik, anzusprechen, ein Prozess, der bis heute anhält. Dementsprechend schwankt die Debatte um das AKM zwischen Nostalgie und dem Wunsch nach einem Abriss des Gebäudes.

In der Biennale-Austellung korrespondieren die melancholischen Fotos des 1974 in Erivan geborenen armenischen Künstlers Vahram Aghasyan mit der Aura des Gebäudes. Unter dem Titel »Geisterstadt« sind Betonruinen einer sowjetischen Mustersiedlung zu sehen, die für die Opfer des verheerenden Erdbebens in der zweit­größten armenischen Stadt Gyumri 1988 gebaut werden sollte, aber niemals fertig gestellt wurde. Der 1954 geborene New Yorker Künstler Daniel Faust zeigt Fotos von leeren, trostlosen UN-Gebäuden, Monumente des Versagens einer Organisation, die, mit Skandalen unglaubwürdig geworden, längst als monströser Global Player das Elend und die Kriege auf der Welt verwaltet. Der Kommentar zu Eu­ro­pa ist ähnlich düster. »Verlorene Illusionen« heißt die Holzinstallation des 1968 in Paris geborenen Didier Fiuza Faus­ti­no, ein großes Kartenhaus aus Pressspanplatten, das die Europäische Union symbolisieren soll.

Durch die Fensterfront des AKM sieht man auf den belebten Taksim-Platz, eine architektonische Finesse, die nach ebensolcher künstlerischer Auseinandersetzung verlangt. Erdem Helvacioglu, 1975 in Bursa geboren, gelingt das leider nicht. Seine Geräuschinstallation ist nervtötend. Die Geräuschkulisse des AKM ist bereits eine Herausforderung, doch wenn dann noch ein Gespräch über die Zukunft des Gebäudes ertönt, fliehen die Besucher, statt zuzuhören. Sie stolpern dabei in das Bergsteigercamp des 1977 in Shanghai geborenen Künstlers Xu Zhen. Er dokumentiert die Besteigung des Mount Everest durch vier Chinesen im Jahr 2005 mit Fotos und Objekten. Die Mitbringsel dieser Tour ruhen nun im Istanbuler AKM in einem imposanten Glaskasten und dokumentieren den Aufstieg Chinas zur Weltspitze in allen Disziplinen. Installation und Geschichte sind ein Fake, das ist der Witz an der Geschichte.

Die Ausstellung im AKM heißt »Abbrennen oder nicht abbrennen?« Wohl die meisten Besucher wünschen sich den Erhalt, denn das AKM wirkt als Ausstellungsort fast beeindruckender als die dort ausgestellte Kunst. Ein Trost ist: Sollte das Gebäude tatsächlich abgerissen werden, so war es zumindest einer der interessantesten Orte der Biennale.

Kurator Hou Hanru bezieht sich in seinem Katalogbeitrag auf Antonio Negri und Michael Hardt. Die Autoren sprechen in ihrem Buch »Empire« von einer dreischichtigen Struktur des globalen Zusammenhangs von Herrschaft. Die oberste Schicht besteht aus der Supermacht USA, einer ausgewählten Gruppe von Nationalstaaten, verschiedenen Clubs wie dem Pariser oder Londoner Club, dem World Economic Forum in Davos sowie einem vielfältigen Netz wei­terer informeller Vereinigungen.

Die mittlere Schicht wird durch die trans­natio­nalen Konzerne bestimmt. Sie organisieren die Kapitalflüsse, technologische Entwicklungen und Bevölkerungsbewegungen; die Konzerne teilen sich diese Aufgaben mit einer größeren Gruppe von Nationalstaaten sowie vielfältigen lokalen und regionalen Organisationen. Die unterste Schicht des globalen Herrschaftszusammenhangs bilden die Mechanismen der Repräsentation der Interessen der globalen Bevölkerung: die politischen Systeme der Nationalstaaten, die Vereinten Nationen, Nichtregierungsorganisationen und vielfältige Basisbewegungen, Initiativen usw. Doch so leichthändig wie die Theorie ist die Praxis selten.

Beschwingt machen sich die Besucher der Bien­nale auf den abenteuerlichen Weg zum »Istanbul Manufaturacilar Carsisi« (Basar der Hersteller und Handwerker), kurz IMC, um die dort aus­gestellte Kunst zu finden. Unter dem Titel »Welt­fabrik« geht es dort um Realität und Zukunft der Arbeit in einer globalisierten Wirtschaftswelt. Das IMC ist eine aus sechs Blöcken bestehende Anlage aus den Sechzigern und steht an der stark befahrenen Unkapani-Straße, über die sich 100 Meter weiter ein Aquädukt spannt und an antike Zeiten erinnert, als Istanbul noch Byzanz hieß. Umgeben ist das Handelszentrum von Teilen der historischen Altstadt, die von der eingewanderten Landbevölkerung bewohnt wird.

Etwa 1 000 kleine Läden beherbergt das IMC, die über Terrassen, Wendeltreppen und überdachte Übergänge miteinander verbunden sind. Hier surren Nähmaschinen, zischen Bügeleisen, rattern Textildruckanlagen, stehen Schaufenster­puppen in langen Kleidern und mit Kopftüchern dicht an dicht. Die hier untergebrachten Kunstprojekte gehen unter: Fotos und Töne aus einem Slum nahe des Tiananmen-Platzes in Peking, auf­genommen von dem 38jährigen Ou Ning; Nancy Davenports Video­arbeit über die Folgen der Baku-Ceyhan-Pipeline, die den Betrachter unberührt lässt, obwohl die verdrängte Land­bevölkerung ihr Elend überzeugend schildert. Die Kunst versinkt in der viel kurioseren Realität. Besucher und Einheimische beäugen sich neugierig. Ohne Türkischkenntnisse sind die Besucher in der unübersichtlichen Anlage verloren, denn der Orientierungsplan trägt nur zur Desorientierung bei. Der Kebabladen im obersten Stockwerk macht ein Riesengeschäft, denn jeder zweite Besucher lässt sich dort erschöpft auf den nächsten Stuhl fallen.

Der Chinese Qu Ning sieht ebenfalls, wie Kurator Hou Hanru, Parallelen zwischen der Entwicklung Chinas und der der Türkei. Die Chin-Dynastie in China endete etwa zur selben Zeit wie das Osmanische Reich. Danach folgte eine rapide Modernisierung durch eine revolutionäre, aber autoritäre Elite. Heute leiden beide Gesellschaften vor allem unter den sozialen Unterschieden und einem schleppenden Demokratisierungsprozess. Das Nebeneinander von unterschiedlichsten Lebensentwürfen, politischer Organisation und ihrer Korrumpierung im globalen Wettkampf um Geld, Macht und Ressourcen mündet in Unübersichtlichkeit. »Chaos« ist das Zauberwort auch von Kurator Hou Hanru. Die Istanbul-­Biennale will die Brüche thematisieren und gleichzeitig durch den Diskurs mehr Transparenz schaffen. Das gelingt zuweilen, schlägt aber oft in ungewollte Komik um. Immer wieder kolportieren die Is­tanbuler den kontextbezogenen Anspruch des Kurators. In der linken Tageszeitung Radikal schreibt Cem Erciyes, Hou Hanru habe »seine Schulaufgaben gut gemacht«. Mit paternalis­tischer Geste wird der sich als Weltbürger verstehende Chinese zum Kumpel im Kampf gegen die westliche Hemisphäre erklärt. Auf der Pressekonferenz sitzen die Unternehmer und Hauptsponsoren Sakir Eczacibasi und Mustafa Koç neben Hou Hanrou auf dem Podium. Der Koç-Konzern wurde unter dem Schutz protek­tionistischer Handelsgesetze durch die Herstellung von Reproduktionen europäischer Automodelle reich. Koç baute unter dem Markennamen »Tofa« alte »Fiat«-Modelle nach, zum Großteil solche aus den siebziger Jahren. Das funktioniert, weil bis heute hohe Steuern, etwa 30 bis 50 Prozent des Werts, auf Importautos gezahlt werden müssen. Sakir Eczacibasi ist Chef eines großen Pharmakonzerns, er lobt den Kurator als jung, fleißig und tüchtig. Hou Hanru gefriert das Lächeln, aber er bleibt sachlich, wie es sich für einen international arbeitenden Kurator gehört.

Die Istanbul-Biennale will ein Projekt sein, das mit seinem Umfeld korrespondiert. Das gelingt im IMC auch ganz gut. Auf der Anlage »Santral«, einem in einem ehemaligen Elektrizitätswerk entstehenden Zentrum für Neue Medien und Kunst der Bilgi-Universität, wirken die meisten künstlerischen Arbeiten fehl am Platz. So wirkt das in einem anderen Kontext funktionierende »Apartman Projesi«, ein von der Istanbuler Künstlerin Selda Asal initiiertes Projekt, in den drei kleinen Kammern am Rand des großen Campus banal. Nur die futuristisch-schiefen Modelle und Ausschreibungen der »­Fiji-Biennale«, einer witzigen Persiflage auf das globale Biennale-Fieber, funktionieren hier.

Die Hafenhalle Antrepo in Karaköy am Bos­porus ist das Herz der Biennale. Sie wird von einer Retrospektive im benachbarten Museum Istanbul Modern begleitet, die sich mit den Biennalen der vergangenen 20 Jahre beschäftigt. Gleich in der Eingangshalle trifft der Besucher auf eine Arbeit des in New York lebenden Österreichers Rainer Ganahl, die sich auf die politische Situation in der Türkei bezieht. Ganahl dokumentiert eine Tour durch Istanbul und zeigt Orte, an denen Journalisten ermordet wurden. Letztes Opfer ist der im Januar erschossene Chef­redakteur der türkisch-armenischen Tageszeitung Agos, Hrant Dink. Der Amerikaner Michael Rakowitz dokumentiert den Raub und die Zerstörung von Artefakten aus dem Archäologischen Museum von Bagdad. Vor allem aus arabischen Zeitschriften werden die Artefakte kunst­voll reproduziert. Der Leiter des Museums – privat spielt er in einer arabischen Deep-Purple-Cover-Band – schildert die Plünderung des Museums, im Hintergrund ist die Band zu hören, aufwendig konzipiert und schön in die Tat umgesetzt.

Der in Paris lebende Algerier Adel Abdessemed formt eine symbolische »Axe One« aus Messern, der Chinese Huang Yong Pin erinnert mit einem raketenförmigen Minarett aus Aluminium daran, dass die chinesische Wirtschaft dabei ist, die Weltmärkte zu erobern.

Zwar wird Hou Hanru in der Türkei als kleiner Bruder aus China etwas missverstanden. Doch ist es ihm gelungen, Spannung zu erzeugen. Die alten Prachtgebäude als Ausstellungsorte und die ewige Thematisierung der Brücken­funktion Istanbuls zwischen Orient und Okzident hat man jedenfalls nicht vermisst.