Im freien Fall

Die Northern Rock Bank wurde durch einen Notkredit der britischen Notenbank vor dem Kollaps gerettet. Der Ansturm auf das britische Kreditinstitut zeigte jedoch, wie instabil Finanzmärkte in Krisen sind. von michael r. krätke

Bei ihrem Treffen in Porto übten sich die Finanzminister und Zentralbankpräsidenten der EU in Optimismus: Das Schlimmste sei vorbei, die Krise schon überstanden, der Aufschwung in Europa habe nicht mehr als einen kleinen Dämpfer abbekommen. Die Zentralbanken hätten alles im Griff. Wie üblich in solchen Situationen, gefallen sich die Ministerialen von Geld und Finanz in Naturanalogien: Finanzkrisen seien wie »Turbulenzen« beim Fliegen, unangenehm, unvermeidlich, aber rasch überstanden.

Einen Tag davor hatte Großbritannien zum ers­ten Mal seit Jahrzehnten wieder einen panikartigen Ansturm auf die Schalter einer großen Bank erlebt. Die Northern Rock Bank, einer der größten britischen Baufinanzierer und die achtgrößte börsennotierte Bank des Landes, wurde von der US-amerikanischen Hypothekenkrise voll erwischt, ihr drohte die Zahlungsunfähigkeit. In kürzester Zeit brach der gefürchtete Run auf die Bank los – in Panik versuchten Tausende, ihr Geld in Sicherheit zu bringen. Die Aktien von Nor­thern Rock stürzten ab. Innerhalb weniger Tage wurde der Bank fast ein Drittel ihrer Einlagen ent­zogen. Das quasi bankrotte Kreditinstitut wird nur fortbestehen, wenn sich bald ein Käufer findet.

Die Bank von England hatte sich zunächst zurück­gehalten. Statt dem Beispiel der Europäischen Zentralbank zu folgen und Hunderte Milliarden in den Geldmarkt zu pumpen, um die Kreditklem­me zu lösen, in die sich die Banken seit Beginn der Finanzkrise selbst manövriert haben, hüllte sie sich in vornehmes Schweigen und signalisierte, sich aus der Krise heraushalten zu wollen. Es sei, so war zu vernehmen, schließlich nicht die Aufgabe der Bank von England, Pleitiers und Spe­kulanten aus der selbst verschuldeten Patsche zu helfen. Schließlich musste sie aber eingreifen. Ohne einen Notfallkredit in Höhe von etlichen Milliarden Pfund wäre die Northern Rock Bank zusammengebrochen; eine Reihe weiterer Hypothekenfonds und -banken wären ihr gefolgt. Es ging vordergründig nur um diese eine Bank, aber es steckte viel mehr dahinter. Selbst die Regierung Ihrer Majestät beeilte sich, allen neoliberalen Glaubensbekenntnissen zum Trotz, eine Garantieerklärung für die Einlagen der Bank abzugeben. Alle werden von der Angst vor weiteren Panikwellen geschüttelt, denn alle wissen, dass Northern Rock nicht der einzige Hypothekenfinanzierer ist, der sich gewaltig verspekuliert hat. Dem Ansturm auf die Bank könnte rasch eine allgemeine Panik folgen, in die alle britischen Groß­banken hineingezogen würden.

Den drohenden Bankrott der ersten Großbank vor Augen, konnte die britische Notenbank nicht mehr auf Zeit spielen und sich, wie in den Wochen davor, darauf verlassen, dass britische Banken sich kurzfristige Kredite bei der Europäischen Zentralbank besorgen konnten. Schließlich wartet auch in Großbritannien fast jeder darauf, dass die in Jahren aufgebaute Immobilienblase im Lande bald zum Platzen kommt. An den europä­ischen Börsen sackten Bankaktien ab, während die EU-Finanzminister in Porto das Ende der »Tur­bulenzen« verkündeten, schüttelten diese noch die europäischen Finanzmärkte ordentlich durch.

Das Treffen in Porto war eine Krisensitzung. Es ging tatsächlich um Krisenmanagement auf kurze und längere Sicht. Intern wurden Krisenszena­rien erörtert, natürlich auch der schlimmste Fall einer lang andauernden Finanzkrise, die vom Platzen immer weiterer Spekulationsblasen in Gang gehalten wird. Diskutiert wurde über mehr Transparenz für die Märkte, klare Spielregeln für Hedgefonds, ein wachsames Auge auf Rating-Agenturen – das übliche Wunschkonzert. Zum ersten Mal wurde dort eine zentrale Aufsicht über die Finanzmärkte auf europäischer Ebene vorgeschlagen. Und wieder einmal kamen staatliche Finanzhilfen für die angeschlagenen Banken auf den Tisch – selbst in der Form eines von den Mitgliedsstaaten zu finanzierenden europä­ischen Hilfsfonds. Das Vorbild der US-amerikanischen Zentralbank, die bisher noch in jeder Finanzkrise der jüngsten Zeit die Spekulationsverluste der Banken und Fonds auf Kosten der Steuerzahler ausgeglichen hat, hat offenbar gewirkt. Zumindest die Rhetorik hat sich leicht geändert.

In Europa, in Nordamerika, in Asien haben Zentralbanken seit Mitte August fast unablässig Hunderte von Milliarden Euro oder Dollar in die Kreditmärkte gepumpt, in den USA hatte man Verstand genug, um einige Zinsen zu senken. Die Art der Zentralbankinterventionen, die in der vergangenen Woche einen neuen Höhepunkt erreichten, zeigt die Ausbreitung der Kreditkrise. Zuerst waren es nur kurzfristige Tagesgelder, die die Zentralbanken den privaten Kreditinstituten anboten – als Ersatz für die Interbankkredite, die nicht mehr oder nur noch zu extrem hohen Zinsen zu bekommen waren. Zwei Wochen später waren es bereits Zwei- bis Dreimonatskredite, die nachgeschoben werden mussten, um die Kreditklemme zu lösen. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es da schon im ganz normalen Interbankgeschäft zu erheblichen Stockungen ge­kommen war.

Mit weiteren Ausfällen darf gerechnet werden. Die Krise im US-amerikanischen Hypothekenmarkt ist noch lange nicht ausgestanden, die nächsten Spekulationsblasen dürften bald zum Platzen kommen. Faule Kredite stecken nicht nur in den verbrieften und hypothekenbesicherten Wertpapieren, sondern überall. Faule Konsumentenkredite aller Art sind in den USA in ganz ähnlicher Weise wie die Hypotheken des Subprime-Segments verbrieft und weiter verkauft worden – als strukturierte Finanzprodukte hübsch verpackt, sind sie inzwischen in den Portefeuilles zahlloser Banken und Investmentfonds in Europa und Asien angekommen. In Europa darf mit dem baldigen Ende des spanischen und britischen Immo­bilienbooms gerechnet werden, die Symptome sind die gleichen wie beim Ausbruch der US-ame­rikanischen Subprime-Krise, die ersten Hypothekenfinanzierer sind schon ins Schlingern geraten.

Der Ansturm auf Northern Rock war der Auftakt zur britischen Hypothekenkrise, der mit knapper Not eingedämmt wurde. Nun steht die Bank von England unter Druck, denn alle Welt erwartet von ihr das Unmögliche: dass sie erneut als Retterin in der Not einspringt, wenn die nächsten Banken und Hypothekenfinanzierer in Geldnot geraten.

Reihenweise sind inzwischen auch in Europa Hedgefonds eingebrochen, die sich mit allerlei »strukturierten Finanzprodukten« verspekuliert haben. Milliardenverluste, die ihre Finanziers und Kreditgeber dabei erlitten haben und noch erleiden, werden bald, in einigen Wochen und Monaten, in den Bilanzen erscheinen. Die Orgie an kreativer Buchführung, auf die wir uns gefasst machen dürfen, wird das Ausmaß der Verluste nur verschleiern, aber diese nicht aus der Welt schaffen können.

Natürlich gibt es auch Krisengewinnler unter den Hegdefonds. Einige US-amerikanische Fonds, die die Krise im Subprime-Markt kommen sahen, haben darauf spekuliert und gewonnen, einige besonders schlaue Fondsmanager haben auch den Kursverfall der Finanztitel, insbesondere von Bank- und Fondsaktien kommen sehen, und rechtzeitig darauf spekuliert. Einige wenige Fonds haben so Milliardengewinne gemacht und ihren Börsenwert fast verdreifacht.

Die gegenwärtige Finanzkrise lässt sich verzögern und abschwächen, vermeiden lässt sie sich nicht. Um ihr zu begegnen, könnte auch eine ganz andere Geld- und Finanzpolitik in Europa angebracht sein. Die Europäische Zentralbank könnte ihren von der Deutschen Bundesbank ererbten Dogmatismus aufgeben und sich zu einer konsequenten Zinssenkungspolitik in der Euro-Zone entschließen.