Rechtsstaat hinterm Busch

Ab dem 5. Oktober versucht der Bundesgerichtshof im Verfahren gegen Andrej H. beispielhaft zu klären, ab wann eine Brandstiftung Terrorismus ist. Von Christoph Villinger

Nächtelang lagen sie auf der Lauer. Doch als die Beamten des Bundeskriminalamts (BKA) und des Mobilen Einsatzkommandos des Berliner Landeskriminalamts aus den Büschen stürmen wollten, griffen sie ins Leere. Offenbar hatten vermeintliche Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) im letzten Augenblick die Gefahr gewittert. So blieb die Zentrale des Energiekonzerns Vatten­fall in Berlin Ende Juli von einem Anschlag verschont.

Doch offenbar ahnten die verhinderten Brandstifter nicht das Ausmaß der Observationen. Presseberichten zufolge war es staatlichen Behörden gelungen, ein internes Forum im Internet zu entdecken, über das die Tatverdächtigen anonym kommunizierten. Wenige Wochen später griffen die Ermittler schließlich zu. Unbemerkt waren sie Ende Juli den drei Berlinern Florian­ L. (35), Oliver R. (35) und Axel H. (46) nach Brandenburg gefolgt. Sie geben an, die Verdächtigen beim Versuch, Fahrzeuge der Bundeswehr anzuzünden, beobachtet zu haben.

Die Ermittler schlugen zu. Einer Presseerklärung des »Bündnisses für die Einstellung der 129 a-Verfahren« zufolge wurde Florian L. noch im Auto »angeschnallt sitzend schwer verprügelt«. Dabei erlitt er »Prellungen im Gesicht und an den Rippen«. Gegen alle drei in dieser Nacht Festgenommenen erließ der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof Haftbefehl, nicht nur wegen Brandstiftung, sondern auch wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der MG. Am nächsten Tag verhafteten die Fahnder überdies den 36jährigen Stadtsoziologen Andrej H. und durchsuchten die Wohnungen von drei weiteren Männern. Auch diese vier werden beschuldigt, Mitglieder der Militanten Gruppe zu sein.

Doch mit dem Haftbefehl gegen Andrej H. hatte die Bundesanwaltschaft überzogen. In einer beispiellosen Kampagne solidarisierten sich weltweit Hunderte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem Inhaftierten, darunter so bekannte Personen wie der Soziologe Richard Sennett. Am 22. August wurde der Haftbefehl gegen Andrej H. gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt. Als angebliche Beweise für seine vermeintliche Mitgliedschaft in der MG galten die Umstände, dass er sich mit ähnlichen Themen wie die Gruppe beschäftige, Begriffe wie »Gentrification« benutze und sich zweimal mit einem der in Brandenburg Verhafteten unter »konspirativer Kontaktaufnahme« getroffen habe. Was bei diesen Spaziergängen besprochen wurde, kann oder will das Bundeskriminalamt bisher nicht sagen.

»Nun will der 3. Strafsenat beim BGH ab dem 5. Oktober am Beispiel von Andrej H. prüfen, ob in seinem Fall der Paragraph 129 a überhaupt greift«, erzählt H.s Anwältin Christina Clemm der Jungle World. Denn relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte die rot-grüne Bundesregierung auf Druck der EU im Jahr 2002 den Paragraph 129 a verändert. Nun reicht nicht mehr nur das Begehen von Brand- und Sprengstoffanschlägen aus, diese müssen auch dazu bestimmt sein, »die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, die verfassungsrechtlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates (…) zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen«. Dazu reicht wohl alleine das Anzünden von drei Bundeswehrlastwagen nicht aus. Dagegen verweisen Fahnder auf die rund zwei Dutzend Anschläge, zu denen sich die MG in den vergangenen Jahren bekannt hat, und ihre Rhetorik von einer »weltweiten sozialen Revolution« und einer »revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft«.

Die Arbeitshypothesen der Ermittler gehen nach Angaben der Berliner Morgenpost sogar so weit, dass »eine Gruppe dieses Namens gar nicht existiere, stattdessen würden unter diesem Namen verschiedene Gruppen Straftaten begehen«. Damit eröffnen sich die Fahnder selbst die Möglichkeit, nach jedem aus dem autonomen Milieu stammenden Brandanschlag nach Paragraf 129 a ermitteln zu können, was neben ihrer eigenen Zuständigkeit vor allem auch den umfassenden Einsatz von Telefonüberwachungen und Observationen erlaubt. »Bei der MG stand der Paragraf 129 a am Anfang«, empört sich auch Wolfgang Kaleck, der einen der in Brandenburg Verhafteten als Anwalt vertritt. »Vor dem eigentlichen Verfahren wird mit dem Paragraf 129 a der Stempel des Terrorismus aufgedrückt, die Polizei schafft damit Fakten, hinter denen die Richter hinterherhinken«, sagt er zur Jungle World. Nicht mehr das Strafrecht sei die zentrale Schaltstelle, sondern die so genannte staatliche Gefahrenabwehr. »Zentrale rechtsstaatliche Kriterien wie Transparenz des Verfahrens, Gewaltenteilung und unabhängige Justiz verschwinden immer mehr hinter dem Motto, das Ergebnis rechtfertige doch die Mittel.« Diese Entwicklung weise weit über den jüngsten Fall der Ermittlungen rund um die MG hinaus.

So bleiben die Ermittler bis heute jeden Beweis schuldig, warum es sich bei den sieben Beschuldigten um Mitglieder der MG handeln soll. Vielmehr rühren die Fahnder drei zunächst getrennte Komplexe zusammen: die MG als solche, die angeblich versuchte Inbrandsetzung der Bundeswehrfahrzeuge in Brandenburg und die wissenschaftliche Beschäftigung mit Themen, mit denen sich auch die MG beschäftigt. Zudem gibt es im deutschen Strafrecht keine Kontaktschuld.

Auffällig ist auch, wie gegensätzlich die nun an­gelaufene Solidaritätskampagne und die Handlungsweisen der MG sind. Diese hatte sich zumindest vor Jahren positiv auf Gruppen wie die spanische Grapo und die italienische BR/PCC (Brigate Rosse/Kämpfende Kommunis­tische Partei) bezogen. Im Jahr 2003 schrieben die MGler, dass sie »es für eine politisch hilflose Geste halten, auf vermeintliche ›Verstöße‹ gegen einzelne ›bürgerliche Rechtsgrundsätze‹ aufmerksam machen zu wollen«. Weiter heißt es in dem Papier zum zehnten Todestag des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams, Linksliberale seien »in letzter Instanz ApologetInnen der herrschenden Ordnung und deren gesellschaftskritische Fassade«. Doch davon unbeeindruckt mischt sich ein großes Bündnis in die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Auslegung des Paragrafen 129 a ein.

Die Anwältinnen und Anwälte der insgesamt sieben Beschuldigten konnten bisher »nur einen Bruchteil der gesamten Akten« einsehen, sagt Anwältin Clemm. Die Geschichte mit dem versuchten Anschlag auf Vattenfall kenne auch sie nur aus der Presse, in »den mir vorliegenden Akten gibt es dafür keinen Anhaltspunkt«. Keiner wisse, »was in den Hauptakten steht und gegen wen sonst noch ermittelt wird«, meint auch Kaleck. So halten diese Akten wohl noch einige Überraschungen bereit, und man darf gespannt sein, hinter welchen Büschen noch Polizisten lauern.