Hoffen und bangen bis zur Rente

Die Zahl der Amerikaner mit Krankenversicherung sinkt, während die Zahl der Befürworter einer Gesundheitsreform steigt. von william hiscott

Michael Moore hat es selbst erkannt. Bei der US-Kinopremiere von »Sicko« im Frühjahr bemerkte er, seine Argumente für eine umfassende Gesund­heitsreform seien jetzt eindeutig »Mainstream« im Land. Denn kaum jemand bezweifelt noch, dass es Veränderungen in der Gesundheitspolitik geben muss.

In der vergangenen Woche votierte der Kongress für die Ausweitung des populären Schip-Programms, das künftig zehn statt 6,6 Millionen Kindern Zugang zur Krankenversicherung gewähren soll. Präsident George W. Bush droht allerdings mit seinem Veto. Er betrachte sich nach wie vor als einen »starken Gewinn« für die Republikaner im Wahljahr 2008, sagte Bush auf die Nachfrage eines Journalisten. Doch seine Drohung, er werde die Ausweitung des Schip-Programms durch sein Veto verhindern, gefällt vielen Repu­blikanern im Kongress überhaupt nicht, denn eine unpopuläre Gesundheitspolitik wäre eine Be­lastung im Wahlkampf.

Die Demokraten haben in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit. Um ein Veto des Präsidenten zu überstimmen, sind jedoch zwei Drittel der Stimmen nötig. Es ist möglich, dass sich eine ausreichende Zahl von Senatoren gegen Bush wen­det, um das Präsidentenveto zu überwinden. Doch bei der jüngsten Abstimmung über das Schip-Programm im Repräsentantenhaus wurde dieses Ziel verfehlt.

Der republikanische Senator Chuck Grassley merkte während der hitzigen innerparteilichen Debatte an, dass er, wenn er Demokrat wäre, künf­tig im Kongress »alle drei Monate Schip zur Abstimmung stellen« würde, so dass man bis zum Wahltag im November 2008 behaupten könne, die Republikaner seien »gegen die Kinder«. Es ist tatsächlich nicht zu erwarten, dass die Demokraten darauf verzichten werden, die gesundheits­politische Misere im Land zu Wahlkampfzwecken auszuschlachten, insbesondere wenn sie auf kranke Kinder verweisen können, denen die Hilfe verweigert wird.

Mindestens 47 Millionen US-Bürger, unter ihnen neun Millionen Minderjährige, haben keine Kran­kenversicherung. Auch die überwiegende Mehrheit der gut zwölf Millionen papierlosen Einwanderer hat keinen Versicherungsschutz. Weitere 20 Millionen Amerikaner leben entweder mit einer unzureichenden Krankenversicherung, oder sie haben eine Versicherungspolice, die ihnen im Ernstfall, etwa bei einer Krebserkrankung, nichts nützt. Die Zahl der nicht oder unzureichend Versicherten dürfte weiter steigen, denn Arbeitsverträge, die mit einer betrieblichen Krankenversicherung verbunden sind, werden immer seltener.

Wer seinen Versicherungsschutz verloren hat, muss gesund sein, um einen neuen Vertrag zu bekommen. Denn kaum ein Versicherungsunternehmen nimmt Menschen mit pre-existing con­di­tions wie angeborenen Herzfehlern und ähnlichen Risikofaktoren auf. Das musste jüngst selbst Sandra Day O’Connor, ehemalige Richterin am Supreme Court, erkennen, deren Enkel die Aufnahme in eine Versicherung verweigert wurde. Hoffen und bangen heißt es in der Regel, bis man 65 Jahre alt wird. Danach gibt es Medi­care für alle, eine durch Steuern und Sozialabgaben finanzierte öffentliche Gesundheitsversorgung.

Mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten in den USA leidet unter der derzeitigen Gesundheitspolitik. Rechnet man die Rentner hinzu, die von den Plänen der Republikaner, Medicare zu privatisieren, vergrault werden, ist das Potenzial für die Demokraten möglicherweise ausreichend, um mit dem Thema Gesundheitspolitik die Präsidentschaftswahl zu gewinnen.

Deshalb also propagieren die demokratischen Bewerber für das Präsidentenamt Pläne, um erst­mals in der Geschichte der USA ein universelles System der Krankenversicherung zu etablieren. Die Senatorin Hillary Clinton hat jüngst ihre Reformpläne vorgestellt. »HillaryCare« sieht vor, durch eine Verflechtung von privaten und gemein­nützigen Versicherungsunternehmen, die staat­liche Regulierung von Aufnahme- und Qualitätsstandards, eine Abkehr vom derzeit dominierenden Modell einer vom Arbeitsplatz abhängigen Krankenversicherung sowie eine Ausweitung der staatlichen Auffangprogramme ausnahmslos allen legal in den USA lebenden Menschen Zu­gang zu einer Krankenversicherung zu ermöglichen. Einige Demokraten sprechen sogar von der Einrichtung eines nationalen Gesundheitssystems wie in Großbritannien.

»Sozialistische Medizin« war 1993 ein wirkungsvoller Vorwurf der konservativen Gegner, als die damalige First Lady HillaryCare zum ersten Mal vorstellte. Zwar war ihr damaliger Plan in Teilen radikaler als die nun propagierte Version, doch die Pläne gleichen einander. Damals scheiterte der Plan am Widerstand der Republikaner und ihrer Verbündeten in den Unternehmerverbänden, insbesondere denen der Gesundheitsindustrie. Knapp ein Jahr später errangen die Republikaner zum ersten Mal seit gut 40 Jahren die Mehr­heit in beiden Kammern des Kongresses.

In der derzeitigen Debatte allerdings, nach der Niederlage der Republikaner bei der Wahl im Jahr 2006, wirken solche Warnungen vor dem »Sozialismus«, die jüngst von konservativen Kom­mentatoren wie Robert Novak wieder ausgegraben wurden, eher kurios. Zumal selbst ein gestandener Konservativer wie der republikanische Senator Bob Bennett, der Clinton 1993 heftig attackierte, seine damalige Haltung heute ausdrücklich bereut und für einen Plan zur Gesundheitsreform wirbt, der HillaryCare stark ähnelt. Und auch Newt Gingrich, der Organisator der »Republikanischen Revolution« des Jahres 1994, befürwortet nun die »Reform eines kaputten Systems«.

Wenn der rechte Ideologe Gingrich und der Links­populist Moore sich zu einem gemeinsamen Mainstream bekennen und an den Pragmatismus, das zentrale Überbauelement der ame­rikanischen Ideologie, appellieren, dann scheint der Moment für eine umfassende Gesundheitsreform gekommen zu sein.

Dass die Republikaner sich nun für Pläne erwärmen, die sie vor kaum mehr als zehn Jahren noch verteufelt haben, liegt nicht zuletzt an den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen. Durch Freihandelsverträge, die wirtschaftliche Öffnung, die Industrialisierung Asiens sowie die interne Deregulierungswelle hat sich die Anzahl gut bezahlter, mit einer Krankenversicherung verbundener Arbeitsplätze in den USA immens verkleinert. Die neuen Jobs im Dienstleistungsbereich werden in der Regel nur ohne Versicherungsleistungen angeboten.

Das System der betrieblichen Versicherung galt als Ersatz für ein staatliches Gesundheitssystem. Doch immer weniger Beschäftigte sind in dieses System integriert. Ganze Branchen entledigen sich auch der Verpflichtungen für ihre ehemaligen Beschäftigten, nicht nur der Rentenzahlungen, sondern auch der Gesundheitsversorgung im Alter, entweder durch den Gang zum Insolvenz­richter, erprobt in den vergangenen Jahren von vielen US-Fluggesellschaften, oder durch die Einrichtung von Voluntary Employee Benefits Associations (Veba), wie es in der vergangenen Woche zwischen der Gewerkschaft UAW und General Mo­tors ausgehandelt wurde. Das Management des Autokonzerns hatte mit Produktionsverlagerungen gedroht, wenn die Gewerkschaft nicht die Sozialversicherung gegen eine einmalige Zahlung und die Überlassung von Firmenanteilen für Veba selbst übernähme.

Mit dem Abschied von der betrieblichen Sozial­versicherung ging häufig auch ein Sinneswandel im Management einher, das sich um seinen Ruf und das Betriebsklima sorgt. Viele Unternehmen folgen dem Vorbild von General Electric und fordern eine Gesundheitsreform. Der Mainstream wird immer breiter.