Vier Leute und eine Leiter

Ulrich Peltzer hat einen großartigen Roman über das linksradikale Milieu in Berlin-Kreuzberg geschrieben. Von Cord Riechelmann

Um es gleich am Anfang zu sagen: Ulrich Peltzer stellt in seinem Roman »Teil der Lösung« die Organisationsfrage in einer Weise, wie das seit Hans Jürgen Krahl und Adam Michnik niemand getan hat. Krahl, der 1970 bei einem Autounfall ums Leben kam, hatte 1969 angesichts der Zerfaserung der politischen Praxis durch den Protest gegen den Krieg in Vietnam davor gewarnt, die Organisationsfrage zu vernachlässigen. Organisationsunfähigkeit sei, so Krahl, »chaotisierend und demoralisierend«.

Michnik riet der polnischen Solidarnosc ­Anfang der Achtziger, auf bestimmte Organi­sa­tions­formen der kommunistischen Parteien zu verzichten, weil diese Organisationsmuster so einfach von den Nazis und den italienischen Fa­schis­ten kopiert und übernommen werden konnten.

Peltzer, 1956 in Krefeld geboren, kam 1975 nach West-Berlin, also gerade rechtzeitig, um das Organisationselend der K-Gruppen und die beginnende Punk- und Tunix-Bewegung mitzuerleben. Er hat eine Affinität zu jenen französischen Intellektuellen, die wie Michel Foucault 1978 den Berliner Tunix-Kongress unterstützten und später offen für die Solidarnosc politisch Partei ergriffen. Nur hat es seitdem nicht nur einmal kurz geregnet. Es ist viel geschehen in der Zeit bis zum Jahrhundertsommer 2003, in dem Peltzers Roman spielt. Der Wind, der durch die Stadt weht, ist rauer geworden, und manchen bläst er an Orten wie dem Potsdamer Platz härter ins Gesicht als vor dem Mauerfall.

Rund um das Sony Center können sich keine Gammler versammeln, wie das in den sechziger Jahren auf symbolträchtigen Plätzen wie dem vor der Gedächtniskirche möglich war. Das verhindern heute Leute wie Kremer und Fiedler. Sie hocken vor ihren Überwachungsbildschirmen und registrieren jede Abweichung vom Regelkreislauf wie ein kybernetischer Überpolizist. Trotzdem sind manchmal alle vier Kameras eines Bahnhofs mit schwarzer Farbe zugesprayt.

Dazu braucht man mindestens vier Leute, und wegen der Höhe, in der die Kameras angebracht sind, mindestens auch noch eine Leiter. Oder die Sprayer haben sich von anderen hochstemmen lassen. Dann sind noch mehr als vier Leute beteiligt, und das ist dann schon eine Gruppe.

Die, die so denken, sind sozusagen von der anderen Seite. Sie gehören zu den Sicherheitsorganen. »Dass es die letzten Jahre ruhiger war, hat meines Erachtens etwas mit dem Umbruch in den Generationen zu tun, einer Neudefinition der globalen Lage, von Angriffszielen und Hemm­schwellen, die sie mental überwinden müssen. Bis die Einsicht, militant zu werden, nicht mehr abzuweisen ist. Für die gegenwärtige Situation ist die Namenlosigkeit der Gruppe bezeichnend, die Weigerung, sich irgendwie eine Identität zu geben«, analysiert einer der mit den Ermittlungen gegen die »Gruppe« befassten Spezialisten.

Es gehört zu den vielen grandiosen Einfällen Peltzers, dass er die Organisationsfrage nicht bei denjenigen, die die Autos abfackeln, ansiedelt, sondern in den Köpfen der Sicherheitsbeamten. Die wissen, dass die Bewegung nach wie vor ziemlich diffus ist, »von Klimaschutz bis Frauenrechte, Schuldenerlass für den Trikont, Initiativen gegen Genmanipulation und dazwischen immer noch unsere alten Bekannten aus dem Westen, Knasthilfen et cetera«. Aber sie wissen auch, dass sie ohne die Konstruktion einer Organisation nur lauter kleine Einzeltaten in der Hand haben, keinen großen Wurf gegen den Gegner. Das mutet nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Anwendung des Paragrafen 129a gegen Stadtsoziologen und Politologen gespenstisch an. Es ist auch leicht irritierend, wenn Kriminalisten reden wie Hans Jürgen Krahl: Was würdest du denn tun, sagt einer, »wenn du jung wärst, unzufrieden darüber, wie die Welt ist, empört über Armut und Hunger, grassierende Arbeitslosigkeit, und es dir dämmert, dass du eigentlich keine legalen Mittel hast, etwas zu verändern. Keine Massenbewegung, keine Partei, der du dich anschließen kannst.«

Im Visier haben die Beamten eine Gruppe von jungen Leuten, die mal was kaputtmacht und mal was an die Wand malt. Die Gruppe ist alles andere als organisiert. Es gibt keine Kader, kein Strategiepapier, nur ein paar Leute, die eine Wut umtreibt gegen den ewig gleichen Gegner, der die Verhältnisse zu verantworten hat. Es sind Leute wie Nele, eine junge Studentin, die an einer Arbeit über Jean Paul schreibt.

Vordergründig erzählt Peltzer eine Liebes­geschichte zwischen einem Lohnschreiber Mitte Dreißig und einer jungen Studentin. Die Art und Weise, wie Peltzer Nele und den Autor Christian zusammenführt, ist paradigmatisch für die großartige Schnitttechnik des Romans. Nele ist eine Art Lieblingsstudentin von Jakob, einem gefeierten Privatdozenten, der auf die richtige Professur wartet, und steht in dessen Büro, als Christian ohne anzuklopfen, die Tür aufreißt und sie Nele in die Seite rammt. Christian sucht seinen Freund Jakob auf, um ihn um eine Kontaktvermittlung zu einem angesehenen Romanisten zu bitten, der in den siebziger Jahren in Italien war und Verbindungen zu den Roten Brigaden hatte. Christian plant, in Frankreich lebende Veteranen der Roten Brigaden zu interviewen.

Damit sind die Protagonisten des Romans und das Milieu, in dem die Geschichte spielt, vorgestellt. Es sind weiße Intellektuelle unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, die alle nach einer Lebensform suchen, die es ihnen ermöglicht, gemeinsam zu wohnen. Jakob, Christian und Nele bilden sozusagen die Kerntrias, um die der Roman seine Beziehungsnetze spinnt. Wobei die Trennung in Haupt- und Nebenfiguren von Peltzer immer wieder aufgehoben wird. Er lässt allen Figuren ihre Eigenheiten und zeichnet sie mit so exakten Strichen, dass auch eine kurze Schilderung zum plastischen Porträt gerät.

Nachvollziehen kann man das an der Figur des Walter Zechbauer. Zechbauer ist Schauspieler und wohnt in einer Villa am westlichen Stadtrand. Er verdient sein Geld vor allem damit, dass er in amerikanischen Filmen den deutschen Schurken spielt. Er liest Paul Valéry im Original, übersetzt französische Philosophen, geht mit großen Schriftstellern wie William Gaddis auf Lesereise, sammelt alte Handschriften und Film- und Tonaufnahmen. Und weil er das alles nicht allein bewältigen kann, beschäftigt er manchmal Studentinnen wie Nele als Assistentinnen. Es sind nur ein paar Worte, die die beiden miteinander wechseln, aber die sind so genau gewählt, dass man den äußerst sympathischen Zechbauer sofort vor sich zu sehen glaubt. Genauso plastisch schildert Peltzer das Kreuzberger Milieu und geht der alten Frage nach der Organisation nach. Die Antworten wird man allerdings selbst finden müssen. Peltzer ist kein Ideologe, er hat nur einen grandiosen Roman geschrieben.

Ulrich Peltzer: Teil der Lösung. Amman, Zürich 2007, 460 S., 19,90 Euro