Wo Frauen Blech jagen

Ein kleines Lexikon liefert, was Reportagen, Schulbücher und historische Abrisse nicht ermöglichen: einen aufschlussreichen Blick auf Polen. von anne haeming

Zum Glück ist das Z der letzte Buchstabe im Alphabet. Ein Eintrag über Zwillinge am Schluss eines Lexikons ist demnach nur konsequent. In diesem Fall heißen sie Jacek und Placek, sie sind die Protagonisten des polnischen Jugendbuchklassikers »Von Zweien, die den Mond stahlen«.

Das letzte Stichwort im »Alphabet der polnischen Wunder« ist sehr gut gewählt, da es einen feinsinnigen Schlenker zum derzeitigen Polen zulässt. Diese Strategie gehört zum Grundprinzip des Wörterbuchs. In der Filmversion des Jugendromans von 1962, so steht es unter dem Stichwort »Zwillinge«, übernahmen ausgerechnet die Brüder die Hauptrollen, die mit ihren Mondgesichtern nun seit zwei Jahren das Bild Polens in der Welt prägen: Lech und Jaroslaw Kaczynski, der Präsident und der Ministerpräsident des Landes.

Herausgeberin des polnischen Alphabets ist Stefanie Peter, die zwischen 2004 und 2006 das deutsch-polnische Kulturprojekt »Büro Kopernikus« leitete, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes. Während ihrer Begegnungen mit der Kunstszene Polens erkannte die Ethnologin Peters: Diese Facetten kennt in Deutschland niemand. Das »Alphabet der polnischen Wunder« ist somit Teil einer Politik, die bemüht ist, das für Deutsche mit allerlei Ressentiments besetzte Thema Polen anzusprechen.

Sie habe keine Prioritäten setzen, keine Hie­rarchie der Schlagworte erstellen wollen, sagt Stefanie Peter. Mit Zeich­nungen von Maciej Sien­czyk versehen, von deren schlichter Collagenhaftigkeit etwas Phantastisches ausgeht, feiert im »Alphabet der polnischen Wunder« die »bloße Agglomeration« fröhliche Urständ.

So findet sich etwa ein kurzer Eintrag zu »Bla­chara«, in dem der Verleger Pawel Dunin-Wasowicz eine Spezies Frauen beschreibt, die auf Männer mit Autos aus ist – »je teurer, desto besser«. »Blacha« heißt Blech, und »die Blachara A.D. 2007 ist von ihren häufigen Solariums­besuchen gewöhnlich leicht gebräunt, trägt ei­ne Baleyage-Tönung im Haar und weiße Stiefel, auch im Sommer«. Dem schließen sich zwei Seiten über »Blokersi«, Hochhausbewohner, an. So entsteht durch dieses Nebeneinander ein eindringlicheres Bild, als es jede Zeitungsreportage auf Seite Drei liefern kann. Zwischen einem Eintrag über die Sirene, der Wappenfigur von Warschau, und einem Text von Diedrich Diederichsen über polnischen Soul steht S wie Solidarnosc, Solidarität. Kein historischer Schul­buch­abriss, stattdessen: Szenen aus den überfüllten Bussen, in denen in den Solidarnosc-Wochen 1981 ein Oppositionsschlager nach dem anderen geschmettert wurde; und Anekdoten über die Galionsfigur der Bewegung, Lech Walesa, den gelernten Elektriker und späteren Staatspräsidenten, der bei einem Besuch im Buckingham Palace die Queen auf ihre schadhaften Steck­dosen aufmerksam machte. Kurz darauf ging ein Palastflügel in Flammen auf, wegen kaputter Elektroleitungen.

Es braucht schon einen inspirierten Herausgeber, der Ideen und Texte zusammenhält – und Stefanie Peter hat bewiesen, dass sie ein exzellentes Gespür für Autoren und Themen hat, die sich abseits des Offensichtlichen befinden. Neben hierzulande eher unbekannten polnischen Autoren schreiben auch bewähr­te Berliner Glossatoren wie Ronald Düker oder Helmut Höge. Dass ausgerechnet der ausgewiesene Polen-Experte der taz, Uwe Rada, nicht dabei ist, verblüfft dann aber doch.

In Kombination mit den überragenden Illustrationen des Prothesensammlers Sienczyk schafft es das »Alphabet der polnischen Wunder«, die Drehscheibe Europas zu umkreisen, ohne ihr zu nahe zu kommen. Die Anekdoten und Fakten reihen sich aneinander wie in einem gut geschnittenen Episodenfilm: Die einzelnen Szenerien werden einem stets zu einem gewissen Grad vertraut, dann folgt die nächste Geschichte, die Details verdichten sich, und man möchte am liebsten noch eine Episode und noch eine. Derjenige erkennt eben am meisten, der auf die ausgefransten Ränder der Sonne blickt. Und um sie drehe sich schließlich alles, erklärte uns der Pole Nikolaus Kopernikus vor einer ganzen Weile überzeugend – und nicht um zwei Mondgesichter.

Stefanie Peter (Hrsg.): Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 340 S., 24,80 Euro