Freilassung der Fragen

Auch nach dem 30. Jubiläum des Deutschen Herbstes ist eins klar: Nur die Öffnung der Archive kann das Spekulieren beenden. Kommentar von oliver tolmein

Nun ist es bald vorbei – das traurige 30. Jubiläum des Deutschen Herbstes, und wenig ist anders als zuvor. Wieder wurde spekuliert, ob der BND, der Verfassungsschutz oder das baden-württembergische LKA die Zellen in Stuttgart-Stammheim abgehört haben. Noch einmal durften wir rätseln, wie genau Pistolen in den Hochsicherheitstrakt geschmuggelt werden und wie sie die verschiedenen Zellenumzüge unentdeckt überstehen konnten. Manche Fragen, die schon lange offen sind, wurden zwar erstmals mit Nachdruck gestellt – blieben aber auch unbeantwortet: Wer feuerte die Kugeln auf Hanns Martin Schleyer und Siegfried Buback tatsächlich ab? Die Wissenden verhielten sich zumeist, als seien nun gerade sie gar nicht gemeint, die Fragenden schrieben in der Regel, als wüssten sie die Antworten bereits. Alle – bis auf Angehörige der Opfer, von denen viele in diesem Jahr erstmals, zumeist bemerkenswert differenziert und gar nicht rachsüchtig, ihre Geschichten erzählten – wirkten sehr routiniert, und im Fernsehen grüßte täglich Stefan Aust, der in seiner Kombirolle als Zeitzeuge, Zeitgeschichtler und Zeitkritiker so gar nicht murmeltiermäßig rüberkommen wollte. Historisch, das machten die Allgegenwart des Themas, aber auch die wieder aufgenommenen Ermittlungen der Bundesanwaltschaft in Sachen der Ermordung Siegfried Bubacks deutlich, sind RAF, Krisenstab und Deutscher Herbst einerseits noch lange nicht. Die Gegenwart prägen sie andererseits aber doch allenfalls nur noch als Erinnerung an eine ziemlich weit zurückliegende Zeit und dadurch, dass mit Christian Klar, Eva Haule und Birgit Hogefeld noch immer Gefangene aus der RAF inhaftiert sind.

So sehr man es sich also leisten kann, keine neuen Gedanken an diese spezielle Form des politisierenden Gedenkens zu verschwenden, so erfreulich ist andererseits der Luxus, sich mit dem Thema auch anders befassen zu können, als es in den letzten Jahren möglich war: Zusammen­legung der Gedanken, Freilassung der Fragen jetzt sofort und sofortige Öffnung der Archive aller Beteiligten – am liebsten mit der Zusicherung von freiem Geleit für die, die es brauchen können. Da weder die Ehemaligen der RAF noch die wohl immer noch in der Illegalität lebenden Verfasserinnen und Verfasser der RAF-Auflösungserklärung noch die einstigen und gegenwärtigen Herren der Inneren Sicherheit an der großen Öffnung bislang ein großes Interesse gezeigt haben, bleibt es Aufgabe der verschiedenen Fraktionen der Öffentlichkeit, nachdrücklicher als bisher Fragen zu stellen und auf Antworten zu drängen, damit es wenigstens nicht dabei bleibt, dass wir alle fünf Jahre die offenbar unvermeidlichen neue Dokufictions und Sciencefactions in allen Medienformaten ertragen müssen.