Karl-Heinz Dellwo: »Die Waffen im 7. Stock waren von uns«

Das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo war 1975 an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt, bei der zwei Geiseln ermordet wurden. Ziel der Aktion war die Freipressung von 26 RAF-Gefangenen, darunter jenen in Stammheim. Dellwo zählt zu denen, die sich seit Jahren zur Geschichte der RAF äußern, u.a. in dem gerade erschienenen Buch »Das Projektil sind wir«. Insgesamt hat er 21 Jahre im Gefängnis verbracht. Sein Bruder Hans-Joachim war ebenfalls Mitglied der RAF und nahm 1977 die Kronzeugenregelung in Anspruch. interview: ivo bozic
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Es wird viel über den Deutschen Herbst geredet in diesen Tagen. Nähert sich die Erzählung über die Nacht von Stammheim der Wahrheit?

Vielleicht. Bei meiner eigenen Analyse habe ich mir unsere Implausibilitäten angeschaut. Eine davon ist, dass diese Frage in der Gruppe tabuisiert war. Eine andere hat eher mit meiner persönlichen Mentalität zu tun: Wäre ich 1977 draußen gewesen und hätte gewusst, dass meine Genossen im Gefängnis ermordet worden sind, hätte ich alles dafür getan zu versuchen, das ans Tageslicht zu ziehen. Davon auszugehen, dass die eigenen Freunde ermordet worden sind, und nichts dergleichen zu machen, grenzte für mich an einen Verrat, den ich niemandem unterstellen wollte. Deswegen, so hatte ich mir damals gesagt, stimmt etwas an dieser Geschichte nicht.

Dann: Die Politik der Bundesrepublik Deutschland in den siebziger Jahren war davon bestimmt, einen modernisierten Kapitalismus zu etablieren und der Welt zu vermitteln, dass ihr Staat ein normaler, bürgerlicher Staat ist wie die anderen auch. Vor diesem Hintergrund war es für mich nicht plausibel, warum die Bundesregierung die Gefangenen hätte umbringen und zurückfallen sollen in etwas, was eine eindeutige faschistische Dimension hat. Sie hatten doch gerade einen Sieg errungen. Vor dieser Ausgangslage hat sich bei mir der Eindruck verdichtet, dass die Gefangenen nicht vom Staat umgebracht worden sind, sie haben es selbst getan. Es entsprach auch dem Bild, das ich von ihnen hatte: egal was kommt, darauf zu bestehen, sich selbst zu bestimmen.

Sind Sie dieser Frage weiter nachgegangen?

Es war ein Prozess der Auseinandersetzung über viele Jahre. Heute denke ich, dass ein Teil des Staatsapparats über die Existenz der Waffen im 7. Stock von Stammheim Bescheid wusste. Dass die Waffen von uns waren, steht außer jedem Zweifel. Ich kenne die Leute, die sie besorgt haben. Und wenn sie im Gefängnis gefunden wurden, dann nicht, weil der Staat sie dort untergeschoben hat, sondern weil sie von den Illegalen dorthin geschickt wurden.

Was begründet Ihre Annahme, dass der Staat von den Waffen gewusst hat?

Vieles deutet darauf hin, dass Volker Speitel noch während der Kontaktsperre diesbezüglich Aus­sagen gemacht hat. Beim Selbstmord zuzuschauen, spricht davon, dass man den Tod der Gefangenen gewollt hat. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann hatte damals für die Todesstrafe plädiert, Franz-Josef Strauß dafür, die Gefangenen in einen Geiselstatus zu überführen, der NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn drohte offen der RAF damit, dass der Staat über die Gefangenen verfüge. Da zeigten sich doch die Phantasien. Auch wenn es Selbstmord war, so verwischt sich auf anderer Ebene die Frage Mord oder Selbstmord. Die Mentalität auf Seiten des Staats war: Gegenüber der RAF bleibt nur eine Strategie der Unterwerfung oder Vernichtung. Das sagte unter anderem schon der Tod von Holger Meins.

Haben Sie den Eindruck, dass mit zunehmendem Abstand das Bild jener Zeit genauer wird?

Eigentlich müsste es so sein. Ich hatte bereits beim 25. Jahrestag darauf gehofft, dass eine neue junge Generation von Historikern die Geschichte der siebziger Jahre jenseits aller Stereotypen analysiert. Stattdessen ist etwas anderes eingetreten: eine emotionale und entpolitisierte Betrachtung. Je klarer die Niederlage wird, desto größer wird das Bedürfnis ehemaliger Linker, sich davon abzusetzen. Die Vorgabe hat der ehemalige Trotzkist Jan Philipp Reemtsma gemacht. Die Diskussion ist von Abrechnung mit der RAF bestimmt. Gesucht wird ein Bild, das die RAF als Ergebnis irrationaler und individueller Entscheidungen zeichnet. Die postfaschistische Gesellschaft, die Unmittelbarkeit des Nazismus hinter uns, der Krieg in Vietnam, der Kolonialismus, Entfremdung und Ausbeutung, die Hoffnung, aus der Revolte eine Revolution machen zu können, existiert da nicht mehr. Stattdessen als Erklärung: eine individuelle Lust auf Gewalt. Deshalb ist die Erzählung heute verlogener als in den siebziger Jahren.

Das geht aber auch auf die Kappe der RAF bzw. der ehemaligen RAF-Mitglieder. Eine inhaltliche Kritik ihrer politischen Ansätze hört man von ihnen kaum.

Ich kann dem nur zustimmen und halte es für falsch, dass so viele schweigen. Wir sind mit dem Anspruch angetreten, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen Tabula rasa zu machen. Wir haben auch Tatsachen geschaffen, die die ganze Gesellschaft betrafen. Andere haben das Recht, von uns Begründungen und Schlussfolgerungen zu verlangen. Ich verstehe auch nicht, wieso uns das selber nicht antreibt.

Wo bleibt beispielsweise die Aufarbeitung des Antisemitismus? Von den ehemaligen RAF-Mitgliedern kommt dazu so gut wie gar nichts.

Antisemitismus bedeutet, den Juden und dem Judentum ein pauschales Ressentiment anzuhängen, um alles Elend der Welt und den eigenen schlechten Charakter auf sie abzuladen. Da wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die sich über ihren Antisemitismus keine Gedanken machte, muss auch die Linke davon gekennzeichnet gewesen sein. Das linke Projekt war aber ein eman­zipatorisches und keines, welches Ressentiments ausleben wollte. Sätze wie die von Ulrike Meinhof, nach denen »das Volk« für Auschwitz nicht verantwortlich ist oder der Vergleich von Moshe Dayan mit Himmler, drücken meiner Meinung nach eher ihre Verwurzelung in der alten KPD aus, in deren Politik das Volk per se etwas gutartiges und unschuldiges war, im schlimmsten Fall missbraucht und manipuliert. Ich war, auf den Nationalsozialismus bezogen, immer Anhänger der Kollektivverantwortung. Die Masse hat vom Antisemitismus und den daraus resultierenden Verbrechen profitiert und wollte sie.

Wie kamen Sie darauf, das sozialdemokratische Deutschland der siebziger Jahre als faschistisch zu bezeichnen?

Die Gesellschaft war in der Hand von Alt-Nazis. Nachdem deren Hegemonie im Widerstand der sechziger Jahre wankte, trat die Sozialdemokratie in der Rolle der modernisierten Verteidiger des Kapitalismus auf. Dagegen hat uns die aus Frankreich kommende Analyse des Neuen Faschismus einen radikalen Erklärungsrahmen gegeben. Sie basierte auf der Annahme, dass sich der Faschismus nicht mehr über die Straßen entfaltet, sondern im System der Institutionen schon angelegt ist. Das war Teil der Begründung, den Marsch durch die Institutionen zu verwerfen. Die Alt-Nazis sind für uns in den siebziger Jahren in den Hintergrund getreten. Unser Problem war das »Modell Deutschland«, die Modernisierung des Kapitalismus zum totalitären System, in Verbindung mit einem ungeheuren Repressions­apparat gegen alle potentiell auftauchenden Widersprüche.

Während die RAF vom Faschismus in Deutschland sprach, wütete in China Maos Kulturrevolution, bei der Hunderttausende gewaltsam umgebracht wurden. Auf den Massenmörder Mao hat sich die RAF positiv bezogen.

Die ganze Linke hat sich positiv auf Mao bezogen. Wir haben die Kulturrevolution über unsere Wün­sche wahrgenommen. Für uns war das vor allem die Infragestellung der etablierten Ordnung auch innerhalb einer kommunistischen Partei. Dass kommunistische Systeme nicht unschuldig sind, wissen wir seit den stalinistischen Säuberungen. Wir dachten, Mao macht das anders. Die Übernahme des Staats durch eine Gesellschaftsfraktion scheint aber immer mit massiver Unterdrückung und Verbrechen einherzugehen.

Der Antisemitismus der antiimperialistischen Linken war aber auch ein ganz praktischer. Angefangen mit dem Überfall auf die israelischen Sportler bei der Olympiade 1972 in München, den Ulrike Meinhof begrüßt hat, über die Selektion jüdischer Geiseln in Entebbe – oder die Zusammenarbeit der RAF mit arabischen antisemitischen Gruppen …

Die PFLP jener Zeit, mit der die RAF hauptsächlich zusammen gearbeitet hat, war ein sozialistischer Flügel der PLO, den ich nicht als antisemitische Gruppe sehe. Ich weiß nicht, wo die heute sind und was im Zuge dieser allgemeinen Islamisierung aus ihnen geworden ist, aber damals gab es diese islamistische Ausrichtung nicht. Zu Entebbe haben Gruppen der Revolutionären Zellen Stellung bezogen. Ich war froh, als Gudrun Ensslin schrieb, dass die RAF sich beinahe von der Aktion distanziert habe.

Die PFLP hat gewaltsam die Existenz Israels bekämpft.

Der eine bekämpft den anderen, weil er im System gefangen ist, dass der andere angefangen hat. Ich finde aber auch, dass die RAF hier versagt hat. Wir dachten damals, dass wir keine Verantwortung für die deutsche Geschichte haben und bei uns alle Platz haben, die sozialistisch, solidarisch, kollektiv und antinational sind. So eine Art Weltgemeinschaft, in der alle sich finden können. Das war ein Idealismus. Die RAF und die gesamte Linke hätten eindeutig auf dem Existenzrecht Israels bestehen und das bei ihren Außenkontakten auch zum Kriterium machen müssen. Das verteidigt nicht die Politik des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern.

Hätte es die RAF ohne diese Kontakte überhaupt gegeben?

Die RAF hätte es auch so gegeben. Die RAF hatte ihre Bestimmung aus den Widersprüchen in der Metropole und dem imperialistischen Terror in der Welt. Die Kontakte zu den Palästinensern waren Bündniskontakte zu Gruppen, die ebenso eine antiimperialisitsche Ausrichtung hatten.

Neben der Ausbildung in den Camps gab es auch eine ganz konkrete Zusammenarbeit, etwa bei der Landshut-Entführung.

Ich habe diese Flugzeugentführung von 1977 immer schon kritisiert. Sie ist Teil dessen, woran die RAF gescheitert ist. Zum Schluss sind ihre Ziele privat geworden. Es drehte sich nur noch darum, wie bekommt man die Gefangenen raus. Sie hat darin ihre gesellschaftliche Bedeutung verloren.

Es wird immer deutlicher, welche wichtige Rolle Horst Mahler beim Aufbau der RAF gespielt hat. Heute ist er ein lupenreiner Nazi, aber er hat als Anwalt auch schon 1966 einen KZ-Aufseher verteidigt.

Ich kann diese Wandlungen nicht erklären. Ich wusste davon nichts. Die RAF hat sich früh von Mahler getrennt. Das wird in der Diskussion darüber heute geflissentlich übersehen. Für Mahler gab es auf Dauer keinen Platz in der RAF. Als er bei uns rausgeflogen ist, hat die KPD-AO ihn aufgenommen. Danach war er bei der FDP.