Liebe ohne Staat und Herrschaft

Liebe besteht nicht nur aus Geschlechts­verkehr. Ein Plädoyer für die platonische Liebe, die den Staat und seine sozialen Verlängerungen von Herrschaft aus dem Leben heraushält. von roger behrens

Die Liebe gehört zweifellos zu den Grundantrieben menschlichen Lebens und steht im Zentrum jeder Utopie vom Glück. Noch bei Sigmund Freud bildet die »Macht der Liebe« eine der entscheiden­den Kräfte, nach denen Gesellschaft zusammengehalten wird und sich der Prozess der Zivilisation, die Kultur, formiert. Ihre Macht ist indes keine positive: Sie ist umso stärker, je mehr die Liebe in der Realität scheitert. Von daher ist es vollkommen nachvollziehbar, wenn Oliver Schott mit dem Dossier »Dem Leben Schönes schenken« (35/07) die Frage aufwirft, wie es um Liebes­beziehungen allgemein und im »linken Milieu« im Besonderen bestellt ist.

Es wurde an Schott kritisiert, dass er diese Frage allzu pragmatisch löse und doch zu sehr dem monogamen Modell verhaftet bleibe. Da­gegen sind in den Beiträgen verschiedene Formen von Polygamie, Polyamorie und Polysex verteidigt oder wenigstens vorgeschlagen worden. Die Kritik an Schotts Beziehungspragmatik sollte allerdings früher einsetzen, nämlich bereits dort, wo er die Frage nach Liebesbeziehungen mit Monogamie zusammenbringt. Monogamie heißt Ein­ehe und bezeichnet einen rechtlichen Zustand, mit dem Liebesbeziehungen in der Regel verhindert werden, auch wenn die bürgerliche Gesellschaft permanent suggeriert, dass die Ehe der Liebe Schutz bietet, dass Ehe der wahre Ausdruck wahrer Liebe ist und ohne Ehe Liebe gar nicht sein kann. Dagegen schwächere Formen der Beziehungsordnung zu verteidigen, verschiebt eigentlich nur die Pragmatik in einen mit liberaler Gesinnung oder promiskuitären Absichten erweiterten Bereich.

Das kann durchaus sinnvoll sein, hat aber eigent­lich nichts mit Liebe zu tun, auch wenn alle mög­lichen Fragen des Beziehungslebens – wer mit wem und wie vielen und wie offen, gleichzeitig und häufig? – immer wieder als Probleme des Liebeslebens deklariert werden. Tatsächlich geht es um Liebesbeweise, die immer an das Treueverhältnis von – wie viel auch immer – Geschlech­tern gekoppelt sind. Es geht, mit einem Wort, um Sex beziehungsweise »Vögeln« (39/07), »Poppen« (40/07) oder »Pimpern« (41/07). So wird auch in den Beiträgen dieser Disko-Reihe die Reduktion der Liebesbeziehung auf Geschlechtsverkehr fortgesetzt, einschließlich der Reduktion der körperlichen Liebe auf die Sexualität. Einzig Les Madeleines lösen sich davon und werfen wenigstens die Frage auf, »warum die Leute sich gegenseitig (…) zwanghaft das Leben zur Hölle machen«. Geht es im Interesse der kritischen Theorie, das heißt im Interesse einer kollektiven emanzipatorischen Perspektive und nicht im Privatinteresse der verletzten bürgerlichen Ge­fühls­welt, um die Liebe, dann muss man an diese Frage anknüpfen. Hierbei erkennen Les Ma­deleines radikal als Problem, was den anderen Texten gleichsam als fröhlicher Positivismus zugrunde liegt: Liebesbeziehungen sind – auch im »linken Milieu« – nicht wegen der Beziehung und dem ihr zugestandenen libidinösen Spielraum ungemein schwierig und schmerzvoll, sondern wegen der Liebe selbst, weil die Liebe nicht gelingt, beschädigt ist. In den Beiträgen von Schott, Winter (37/07), Blindow/Ommert (38/07) und vor allem Seeliger (39/07) wird jedoch von einer scheinbar unbeschädigten, positiven Instanz der Liebe ausgegangen, gerade so, als gebe es ganz viel Liebe in der Welt, nur nicht die richtige Beziehungsform, um sie auszuleben.

Die positive Vorstellung von Liebe changiert zwischen zwei Varianten, die immer wieder gegeneinander ausgespielt werden: die romantische Liebe und die platonische Liebe. Aufschlussreich ist dabei, was unter diesen beiden Begriffen verstanden wird – im Kontrast zu dem, was sie ursprünglich einmal bedeuteten.

Die romantische Liebe ist das Ideal, welches – »auch im linken Milieu« – in die Waagschale geworfen wird. Hier gelingt Liebe, bei Kerzenschein oder, für die aufgeklärten Typen, bei Neonbeleuch­tung. Es ist im Wesentlichen das bürgerliche Liebesideal, welches heute fest in der Popkultur verankert ist: die Liebe auf den ersten Blick, das erste Mal, schließlich die Verliebtheit, die übrigens schon Schopenhauer im »Geschlechtstrieb« verwurzelt sah. Eingelöst wird das Glücksversprechen der Liebe immer durch den Sex, und aufrechterhalten wird die Liebe stets in der Treue und der sexuellen Attraktion. Darin unterscheiden sich Hera Lind und Beyoncé, Wolfgang Petry und Mar­vin Gaye kaum voneinander. In der Kulturindus­trie verbindet sich diese Idee der Romantik mit dem Realismus der Warenproduktion, Liebe selbst wird zur Ware, die Liebesbeziehung zum Wertverhältnis. Doch historisch ist die roman­tische Liebe, auf die sich in den Beiträgen in der Jungle World affirmativ bezogen wird, negativ und romantisch im strengen Sinne des Wortes, weil sie den Fluchtpunkt des ständigen Scheiterns an und in der Welt markiert. Sie ist ein Frag­ment des auseinander -gebrochenen Systems namens »Leben«. Sie treibt einen in den Tod (»Wer­ther«) oder in den Wahnsinn (Hölderlin). Wurde für die romantische Liebe in ihrer verdinglichten Form ein ganzes Sprach- und Zeichenuniversum erfunden, so ist ihr unverdinglichter Ausdruck die Ausdruckslosigkeit, die Unfähigkeit der romantischen Liebe, sich zu formulieren. Deshalb hat Roland Barthes 1977 seine »Fragmente einer Sprache der Liebe« geschrieben, in denen die meis­ten Stichwörter vom Scheitern, Misslingen, Aufschub und unerfüllten Versprechen der Liebe han­deln.

Spätestens seit dem so genannten Summer of Love 1967 wurde das Ideal der romantischen Liebe zur quasi-politischen Waffe im linken Milieu erklärt: »Make Love, Not War« und »All You Need Is Love«, oder einfach nur »L.O.V.E« ergänzten das stumpfe »Ich liebe Dich«, um das Private politisch zu machen. Deshalb müsste Schotts Frage eben weniger lauten, warum auch im linken Mi­lieu, sondern vielmehr, warum gerade das »linke Milieu« die Formen von verdinglichter Liebe auch noch als politisches Kampfprogramm repro­duzierte. Einerseits wurde Liebe zur positiven Instanz universalisiert, andererseits wurde Liebe an den Sex gefesselt und somit am Ende die Gesellschaft sexualisiert: »Liebe machen« als Geschlechtsverkehr. Im Namen der »freien Liebe« kippte jedoch die sexuelle Revolution in eine emotionale Konterrevolution. 40 Jahre später weiß man vor allem im linken Milieu nur zu gut, inwiefern mit der offensiven Zurschaustellung der Sexualität, die dann popdiskursiv sogar noch als Sexyness verbrämt wurde, sich vor allem das moderne Geschlechterverhältnis als Gewaltverhältnis brutal reproduzierte: Homophobie, Sexismus, Vergewaltigungen gehören zur Normalität der Liebesbeziehungen im »linken Milieu« und werden häufig sogar noch als Normalität verteidigt.

Und gerade im linken Milieu gilt nun die so genannte platonische Liebe entweder als verpönt (asexuell und lustabweisend) oder als billig und harmlos (»Da läuft nichts zwischen uns, das ist rein platonisch«). Dabei wird unter platonischer Liebe jene Liebe verstanden, die nicht über das sexuelle Verhältnis ausgelebt oder bestimmt wird, eine Liebe ohne Körper und echte Zuneigung. Sie wird genauso verachtet oder hämisch belächelt wie etwa »Menschenliebe« oder »Nächs­ten­liebe«. Zwar ist es richtig, dass Platon diese Form der Liebe als theoretische Liebe bezeichnet, als Liebe zur Erkenntnis; doch ist diese Liebe – im Übrigen hier mit dem griechischen Wort erôs bezeichnet – eine die körperliche Zuneigung nicht abweisende, sondern übersteigende. Wenn es eine kritische Theorie der Liebe geben soll und mit ihr vor allem auch eine lustvolle Praxis der Liebe, die fähig wäre, als politische Instanz eingesetzt zu werden, dann ist es die platonische Liebe, die dann freilich nicht mehr diesen Namen trägt.

Solche Liebe ist dann nicht mehr die Enklave des kleinen, privaten Glücks, sondern die Vorstufe der kommunistischen Utopie der freien Assozia­tion. Statt Beziehung als autoritäres Verhältnis der Menschen zueinander, wäre die Liebe Vermittlung untereinander: Empathie und Sympathie. Sie wäre allein schon darin politisch, weil sie den Staat und seine sozialen Verlängerungen von Herrschaft aus dem Leben heraushält. Das ist ein Zustand von Liebe und Anarchie, der, wie in Lina Wertmüllers Film von 1973, unter den gegebenen Bedingungen allerdings scheitern wird. Deshalb ist die Liebe nicht nur ein Thema der Ge­sellschaftskritik, sondern umgekehrt ist die Ge­sellschaftskritik vor allem auch ein Thema der Liebe.