Sozialdemokratisches Supertheater

Kurz vor ihrem Parteitag in Hamburg tobt in der SPD ein heftiger Streit über die Reformpolitik. Warum eigentlich? Von Paul Urban

Die SPD. Ach, die SPD. Was wäre Deutschland, die deutsche Innenpolitik, die Große Koalition ohne diese Partei, die einzige, die in ihrer Geschichte nie ihren Namen ändern musste, wie der frühere Kanzlerkandidat Björn Engholm sie einst charakterisierte? Langweilig wäre es hierzulande, öde und ereignislos. Mit der SPD aber ist Zunder drin, da ist was los, denn sie ist die lustigste Partei Deutschlands.

Seit zwei Jahren regiert sie nun bereits in einer neuen, der Großen Koalition, aber ihren Protagonisten fällt nichts Besseres ein, als über ein Thema zu streiten, an dem die alte Koalition, die rot-grüne, zugrunde gegangen ist.

Die Agenda 2010 erregt die sozialdemokratischen Gemüter heute fast noch mehr als zu Zeiten Gerhard Schröders. Das ist, als bräche in der Vor­stands­etage des Volkswagenkonzerns ein Streit über das Modell des VW-Käfers aus. Die Agenda 2010 ist Wirklichkeit, die meisten Betroffenen in Deutschland haben sich mit ihr arrangiert, lavieren sich durch, tricksen rum, schuften für einen Euro in der Stunde oder verarmen so vor sich hin. Aber es gibt auch wieder ein paar Arbeitsplätze mehr als unter dem ehemaligen Kanzler Schröder, ein Aufschwung der Wirtschaft ist zu verzeichnen, und die Stimmung war auch schon mal schlechter. Proteste gegen die Sozialpolitik der Großen Koalition gibt es jedenfalls kaum; auf einer bundesweiten Demonstration gegen den »Abbau von sozialen und demokratischen Rechten« versammelten sich am Samstag in Berlin gerade mal 3500 Teilnehmer.

Die SPD könnte also ein bisschen Werbung in eigener Sache machen. Man könnte sich als eine Partei zeigen, die sich einig ist, die zwar durch das tiefe Tal des Sozialabbaus musste, nun aber auf dem Weg nach oben ist: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! Man könnte sich wieder mit den Gewerkschaften vertragen und irgendein Profil schärfen. Stattdessen aber streitet man sich. Weil die SPD anders ist als die anderen Parteien. Weil sie eine lustige Partei mit lustigen Politikern ist.

Der Vorsitzende Kurt Beck zum Beispiel. Er ist so einer. Kaum einer kennt ihn, und die ihn kennen, mögen ihn nicht besonders. Noch vor einigen Monaten ist ihm zum Thema Arbeitslosigkeit nicht allzu viel eingefallen. Wenn er sich rasieren würde, bekäme er auch einen Job, raunte er einem Arbeitslosen damals zu. Dieser rasierte sich und – bekam einen Job. So weit, so gut. Das Problem der Massenarbeitslosigkeit war damit allerdings nicht behoben, das war selbst Kurt Beck nicht entgangen. Also ließ er sich, nach einiger Zeit, denn gut’ Ding will Weile haben, noch einmal etwas einfallen. Er wollte eine Regelung, die die alte Regierung erlassen hatte, verändern: Das Arbeitslosengeld I sollte an ältere Arbeitslose wieder länger ausbezahlt werden. Eigentlich nichts Besonderes, keine revolutionäre Idee, die die Partei in eine Krise stürzen oder – andersrum – wieder zur 40-Prozent-Partei machen könnte, aber immerhin ein Vorschlag, den man machen kann, durchaus.

Nur gibt es einen in der Partei, der das ganz anders sieht. Er lebt geistig noch in der alten Koalition, die er mithalf zu beenden, zusammen mit Gerhard Schröder, damals, im Mai 2005, nach dem Desaster bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Müntefering ist Arbeitsminister unter der neuen Kanzlerin Angela Merkel, er fiel seit Amtsantritt der Regierung nicht weiter auf. Jetzt aber scheint er erwacht und stellt sich – gegen den eigenen Parteivorsitzenden. Das Chaos, das daraufhin entstanden ist, lässt sich am besten in Schlagzeilen erzählen: »Müntefering will an Agenda 2010 festhalten«; »Hessische SPD steht hinter Beck«; »SPD-Rechter Kahrs widerspricht Beck«; »Jusos hinter Beck und Seeheimer Kreis für Münte­fering«; »Arbeitgeberverbände kritisieren SPD-Chef Kurt Beck«; »Müntefering will unabhängig von Parteitagsbeschluss im Amt bleiben«; »Münte­fering weist Spekulationen über Rücktritt zurück«; »Steinmeier verteidigt Müntefering«; »Beck bleibt auf Konfrontationskurs«; »Steinbrück: Beck und Müntefering nicht gegeneinander ausspielen«; »Beck bleibt im Streit mit Müntefering hart«; »SPD-Rechte gegen Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld«; »Machtkampf droht die SPD zu spalten«; »NRW-SPD stellt sich hinter Beck-Vorschlag für Arbeitslosengeld I«; »Keine Annäherung bei Richtungsstreit in SPD«; »SPD-Spitze bemüht sich um gemeinsame Linie zu ALG I«, »Müntefering schlägt Kompromiss vor« usw. Am Dienstag trafen sich Müntefering und Beck und berieten das Desaster hinter verschlossenen Türen. Ergebnislos.

»Richtungsstreit« ist wohl eines der schlimmsten Worte, das über eine Partei in den Zeitungen stehen kann, fast so schlimm wie »Führungskrise«. Und was ist von einem Minister zu halten, der dementieren muss, dass er an Rücktritt denkt? Dass einer »hart« bleibt, zeugt das nicht eher davon, dass er in der Partei hartnäckige Widersacher hat? War dieses Erscheinungsbild von den Protagonisten des heißen Herbsts in der SPD beabsichtigt? Wollte man sich so wieder ins Gespräch bringen, in die Schlagzeilen, in die Tagesthemen und in die Talkshows?

Schlechte Botschaften gab es zuletzt schließlich genug für die SPD. Da war etwa jene, dass die NPD die Partei in Sachsen in den Umfragen überholt hat. Auf Bundesebene trabt die Union den Meinungsforschern zufolge davon, die SPD hingegen verharrt unter der 30-Prozent-Marke. Und da gibt es auch noch den Mitgliederschwund. »Die SPD blutet aus«, hieß es im vergangenen Jahr auf Spiegel-online. Damals wurde eine interne Analyse der SPD bekannt, derzufolge von 9 300 Ortsvereinen 1 600 in den fünf Jahren zuvor kein einziges neues Mitglied aufgenommen haben sollen. Der Anteil der Arbeiter in der Partei habe sich in den zehn Jahren zuvor halbiert, hieß es. Der Anteil der Frauen betrage nur noch 30 Prozent. Seit dem Jahr 1990 habe die Partei 30 Prozent ihrer Mitglieder verloren.

Aber kann diese Entwicklung eher von Beck oder von Müntefering gestoppt werden? Muss einer von beiden aufgeben? Geht es gemeinsam? Gibt es einen »Kompromiss« im Streit um das ALG I, wie er nun angestrebt wird? Kann das ALG I gleichzeitig länger gezahlt werden und nicht länger gezahlt werden?

So wie derzeit geht es jedenfalls nicht weiter. Die Rechnung, die von wem auch immer gemacht wurde, ging nicht auf. Denn nach einer am Mittwoch der vergangenen Woche veröffentlichten Umfrage des Magazins Stern rutschte die SPD in der Gunst der Wähler angesichts des Streits noch einmal ab, und zwar auf traurige 24 Prozent. Nur zehn Prozent der Befragten trauten den Sozial­demokraten noch zu, mit den politischen Problemen im Land fertig zu werden. Liegt das nun an Müntefering oder an Beck? Sollen die Jusos endlich den Mund halten oder der konservative Seeheimer Kreis? Und was soll eigentlich auf dem Parteitag geschehen, der vom 26. bis zum 28. Oktober in Hamburg stattfinden soll? Fragen über Fragen. SPD, ach SPD.