Gesundheit, Herr Doktor!

Im medizinischen Betrieb gibt es strenge Hierarchien, die es bisher nicht in Frage zu stellen galt: der Arzt als unantastbare Autorität oben, das Pflegepersonal als dienstbare Geister unten. Doch diese Ordnung ist ins Wanken geraten. Von Dorothea Roth

Gemurrt haben Pflegevertreter schon seit längerem. Sie forderten mehr Befugnisse für ihren Berufsstand. Bisher wurden diese Forderungen jedoch kaum oder nicht gehört. Neben den mächtigen Ärzten und deren Lobby wurden die Potenziale der Pflege für die Versorgung meist ignoriert. Doch seit der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen kürzlich sein neues Gutachten vorgestellt hat, wird die Pflege anders wahrgenommen. Ärztefunktionäre sehen sie sogar als eine Bedrohung. Der Grund ist: Die Gutachter empfehlen, neue Modelle der Arbeitsteilung zu erproben und der Pflege mehr Verantwortung zu übertragen. Verantwortung, die bislang ausschließlich bei den Ärzten liegt.

Ein Beispiel: Patienten bekämen demnach Heil- und Hilfsmittel wie Krücken und Ergotherapie von Pflegekräften verordnet. Bei chronisch Kranken könnten diese auch die Folgeverordnungen von Arzneien übernehmen, heißt es. »Die Kluft zwischen dem, was die Pflege eigentlich leisten könnte, und dem, was sie selbständig in die Gesundheitsversorgung einbringt, wird immer größer«, betont Ratsmitglied Adelheid Kuhlmey. Sie glaubt, dass die Versorgung ohne eine größere Autonomie für die Pflege in Zukunft nicht verbessert werden könne. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.

Immer mehr alte Patienten kommen in die Krankenhäuser und Praxen. Von 1994 bis 2003 erhöhte sich beispielsweise bei den über 75jährigen die Zahl der Krankenhausfälle um 25 Prozent. Gleichzeitig steigt die Zahl von Menschen, die chronisch krank sind oder an mehreren Krankheiten gleichzeitig leiden, so genannte Multimorbide. Deren Betreuung ist besonders aufwendig. Und zu guter Letzt warnen die Mediziner selbst vor einem eklatanten Ärztemangel. Einer aktuellen Studie der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge gelten bereits 34 ost- und 30 westdeutsche Bezirke als medizinisch unterversorgt.

»Insbesondere in ländlichen Regionen funktio­niert das ausschließlich auf Ärzte ausgerichtete Versorgungssystem nicht mehr«, sagt Marie-Luise Müller, die Präsidentin des Deutschen Pflege­rats. Von Funktionären der Mediziner muss sie sich für diese nüchterne Feststellung von Tatsachen Selbstverwirklichungsträume unterstellen lassen. Ob Ärztekammer- oder Verbandschef, einhellig warnen dieser Tage alle Ärztevertreter davor, dass aus Pflegekräften keine »Ärzte light«, so die offizielle Kampfvokabel, werden dürften.

So viel Einigkeit gibt es selten bei den Doctores. Sie alle fürchten um den Verlust ihrer Macht in der Patientenversorgung. Denn nur zu gut wissen sie, dass die Forderungen der Pflegenden keine Phantastereien sind, sondern im Ausland bereits erfüllt wurden.

In anderen Ländern übernehmen akademisch weitergebildete Pflegekräfte immer mehr Verantwortung. In Schweden etwa macht die Bezirkskrankenschwester Hausbesuche und darf auch bestimmte Medikamente, die von Patienten häufig benötigt werden, verschreiben. In den amerikanischen »Minute Clinics«, die in Kaufhäuser integriert sind und leichte Erkrankungen behandeln, versorgen so genannte Nurse Practitioners sogar selbständig Patienten.

In Deutschland steckt die »Advanced Nursing Practice«, die fortschrittliche Pflegepraxis, zwar noch in den Kinderschuhen. Doch auch hierzulande erprobt man bereits erste Ansätze. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen entlasten speziell ausgebildete Krankenschwestern die Hausärzte. Die Projekte laufen unter dem Namen »Agnes«, was für »Ärzte-entlastende, gemeindenahe, E-healthgestützte, systemische Intervention« steht. Hinter diesen Vokabeln verbirgt sich ein Konzept, das die Aufgaben der Gemeindeschwester aus DDR-Zeiten an die heutigen Bedürfnisse anpasst. Insbesondere bei der Betreuung von chronisch kranken Patienten greifen die modernen Gemeindeschwestern den Hausärzten unter die Arme. Sie überwachen unter anderem den Gesundheitszustand der Patienten, schulen sie für den Umgang mit technischen Gerätschaften, koordinieren die Einnahme von Medikamenten und beraten auch die Angehörigen.

Eine sinnvolle Sache, so möchte man meinen, doch Ärzte wie Andreas Petri sehen das anders. Der Vorsitzende des Hausärzteverbandes aus Sachsen-Anhalt polemisiert im Ärztemagazin Der Kassenarzt, dass die Gemeindeschwestern so überflüssig seien wie eine »Rettungsweste aus Beton«. Eine deftige Wortwahl. Bei Revierstreitigkeiten wird erbittert gekämpft – und gerade im Gesundheitswesen sind die Lobbyisten alles andere als zimperlich. Dennoch muss es einen verwundern, mit welcher Vehemenz die Funktionäre gegen die Pflege zu Felde ziehen. Schließlich warnen sie selbst angesichts des sich ankündigenden Ärztemangels vor einer drohenden medizinischen Unterversorgung der Bevölkerung und beklagen gleichzeitig die permanente Arbeitsüberlastung.

Dass ihnen originär ärztliche Aufgaben ent­zogen werden sollen, steht ebenfalls nicht zur Debatte. »Wir plädieren nicht dafür, dass Krankenschwestern die Organstransplantation vornehmen«, versucht Eberhard Wille, der Vorsitzende des Sachverständigenrats, auf einer Tagung die Aufregung zu dämpfen, die das Gutachten ausgelöst hat. Was ist es dann, was die Ärzte so erbittert gegen eine pragmatischere Arbeitsteilung aufbringt?

Schlicht und einfach das Geld. Sie fürchten um ihr Honorar in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Angesichts der begrenzten Mittel der GKV herrscht nämlich folgendes Prinzip: Wer mehr Aufgaben übernimmt, bekommt mehr Geld – und zwar zu Lasten der anderen. Die anderen sind in diesem Fall die Ärzte. Nur wenige Funktionäre sprechen aus, dass schlichte monetäre Interessen hinter den Warnungen vor den vermeintlichen »Light-Ärzten« und der Sorge um das Patientenwohl stecken. Doch in der vergangenen Woche hat der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, auf einer Veranstaltung die Sorge vieler Ärzte auf den Punkt gebracht: »Die Pflege will an die Geldtöpfe der hausärztlichen Versorgung.«

Offenbar mit Unterstützung des Gesetzgebers. Dieser hat im aktuellen Entwurf des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes vorgesehen, dass die Vorschläge des Sachverständigenrats in der Praxis erprobt werden. In Rahmen von Modellprojekten sollen Pflegekräfte beispielsweise Verbands- und Hilfsmittel verordnen können. Über die Finanzierung dieser Modellprojekte dürften die ersten Verteilungskämpfe ausbrechen.

Ärzte müssen sich wohl oder übel mit dem Gedanken abfinden, dass im Gesundheitswesen keine Profession unter Artenschutz steht. Je eher sie sich dieser Erkenntnis stellen, desto besser – auch für den Patienten, zu dessen Lasten die Verteilungs- und Revierkämpfe nämlich auf keinen Fall ausgetragen werden sollten.