Rüttgers von der traurigen Gestalt

Der Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Jürgen Rüttgers (CDU), erklärt, wohin die Marktwirtschaft soll und muss: Zurück auf den Pfad der Tugend. von peter dierlich

Manchmal, wenn die ihn aufzehrende politische Arbeit ihm einen Moment der Muße lässt, der aber nicht lange genug dauert, um ihn im Fe­rien­haus in Südfrankreich zu verbringen, sitzt Jürgen Rüttgers in seinem Bungalow im Fichtenweg in Pulheim bei Köln, unweit des »Museums für Ho­lo­graphie und neue visuelle Medien« im Pletsch­mühlenweg (geöffnet freitags von 14 bis 20 Uhr, samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr), auf dem schwarzen Ledersofa im Kolonialstil und stellt sich Fragen. Vor ihm auf dem gläsernen Couch­tisch liegen eine Freehand aus Bruyère-Plateau (Normalbohrung) mit einem passenden Besteck und der reich illustrierte Band »Holographische Visionen – Bilder durch Licht zum Leben erweckt«.

Warum, fragt Jürgen Rüttgers sich dann, wohne ich eigentlich immer noch in Pulheim bei Köln, obwohl ich doch schon vor 50 Jahren die Volksschule in eben demselben Ort besucht habe? Die Antwort fällt ihm leicht: weil es in Pulheim bei Köln so schön ist! Und warum heißt mein jüngster Sohn nicht Matthäus oder Johannes, sondern Thomas, obwohl die beiden Älteren doch Marcus und Lucas heißen? Rüttgers beschließt, diese Frage bei Gelegenheit mit seiner Frau Angelika zu erörtern.

Woher man das alles weiß? Aus dem »Munzinger-Archiv«. Denn dessen biographischer Artikel über den amtierenden nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten schließt mit den schö­nen Worten: »R. ist verheiratet und hat mit seiner Frau Angelika drei Söhne: Marcus, Lucas und Tho­mas. Der passionierte Pfeifenraucher ist Liebhaber von Holographien und hält sich durch Radfahren fit.«

Als ehemaliger »Zukunftsminister« im fünften Kabinett Kohl scheint Rüttgers dazu berufen, auch die großen Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts noch einmal zu stellen und zu beantworten. Der deutschen Industrie, die sich über den Mangel an Computerspezialisten beklagte, versprach seine Kampagne »Kinder statt Inder« einst, wenn sie nur genug Geduld habe, werde ihr geholfen werden, denn »in deutschen Kindergärten liegen Begabungen brach«. Und wer sonst könnte uns sagen, wohin die Marktwirtschaft soll und muss, wenn nicht der Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung »Weiter sehen«?

Rüttgers ist optimistisch: »The glory days are now – die glorreichen Tage liegen erst vor uns.« So zitiert er zum pathetischen Schluss seines neuen Buchs einen namenlosen Bürger der Stadt Pittsburgh, der es in Zeiten der Not gelang, Kohle durch Kultur zu ersetzen: »Im Rahmen einer USA-Reise habe ich kürzlich Pittsburgh in Pennsylvania besucht. Pittsburgh ist – oder besser war – eine alte Industriestadt. Sie war geprägt von Kohle und Stahl. Die großen Stahlhütten und Kohlenzechen hatten ihr viele Jahre Wohlstand be­schert. Vor rund 30 Jahren erlebte die Stadt eine große Krise. Innerhalb weniger Jahre schloss eine Fa­brik nach der anderen. Statt rauchender Schlote präg­ten Industriebrachen die Stadt, statt wirtschaft­lichem Aufschwung regierte Depression. Heute hat Pitts­burgh den Wiederaufstieg geschafft. Meine erste Frage war: ›Was haben Sie getan, als die Depression über Pittsburgh hereinbrach?‹ Die Ant­wort lautete, man habe zuerst an der Universität fünf Lehrstühle für Modern Jazz eingerichtet.«

Für eine glänzende Zukunft soll nun die gute, alte soziale Marktwirtschaft sorgen, von deren Modell, so behaupten es die Parteienforscher, sich die CDU unter den neoliberalen Einflüsterungen beispielsweise eines Friedrich Merz abgewandt habe. Rüttgers propagiere spätestens seit dem Bundesparteitag in Dresden im Jahr 2006, als er verlangte, die CDU solle sich von ihren »neo­liberalen Lebenslügen« verabschieden, eine Rück­kehr zu den Werten der katholischen Soziallehre. In seinem Buch unternimmt er es, diese Lebenslügen, sieben an der Zahl, ein für allemal zu wider­legen. Mitnichten erzeugten Steuersenkungen automatisch neue Arbeitsplätze. Keineswegs seien die Steuern in Deutschland zu hoch. Nie im Leben werde die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen vom hiesigen Mitbestimmungsmodell beschädigt. Auf gar keinen Fall würden in Deutschland zu hohe Löhne gezahlt. Nimmermehr führten die deutschen Standortnachteile zum Export vieler Arbeitsplätze ins bil­lige Ausland. Nicht im Traum sei mehr Zuwanderung nötig, weil es an Fachkräften fehlt. Und die übermäßige Macht der Verbände könne man vergessen, denn sie schwinde beständig.

Rüttgers widerspricht den »Untergangsprophe­ten«, die mit ihren »Angstargumenten« daran arbeiteten, die deutsche Wirtschaft und die Gesellschaft im Sinne des Shareholder Value neu zu gestalten. In Wirklichkeit sei aber alles gar nicht so schlimm. Die soziale Marktwirtschaft hält Rüttgers trotz allem für ein Erfolgsmodell, seltsamerweise sogar für ein europäisches Erfolgsmodell. Sie müsse nur den Bedingungen einer richtig verstandenen Globalisierung behutsam angepasst werden. Die geläufigen Stichworte in diesem Zusammenhang lauten: Kombilöhne, Beschäftigungskonten, mehr Selbstverantwortung, geringere Lohnnebenkosten.

Dennoch gibt es Probleme, z. B. die Unterschicht. Sie leidet auf den ersten Blick bloß an Arbeitslosig­keit und Geldmangel. Aber »die Probleme liegen tiefer. Sie liegen u. a. in einer zu­nehmenden Individualisierung der Gesellschaft. Alte Bindungen lösen sich auf, Bindungen zu Vereinen, Verbänden, Parteien, aber auch ganz elementare Bin­dungen innerhalb der Familie oder im Freundeskreis.« Und wie lassen sich neue haltbare Bindungen stiften? »Der Ökonom Wilhelm Röpke hat das einmal sehr schön so formuliert: ›Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemein­sinn, Ach­tung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb mit­einander messen.‹« An diesen Tugenden fehle es heute überall. Rüttgers beklagt ihre Abwesenheit, wie alle konservativen Denker, verrät aber nicht, woher sie denn kommen sollen, da sie doch auf dem Markt nicht honoriert werden. Appelle von Päpsten, Bundespräsidenten, Ethiklehrern und anderen Wohlgesonnenen werden vermutlich nicht viel helfen.

Der Wertezerfall also, ein weites Feld. Darüber kann man jahrzehntelang und auf zigtausend Seiten trefflich sinnieren. Das »wichtigste Buch eines Unionspolitikers seit Beginn der gegenwärtigen großen Koalition« (FAZ) fügt dem Gerede vom Wertezerfall zwar nichts hinzu, aber immerhin lässt er sich an diesem Beispiel ganz gut be­obachten. Der neue Rüttgers scheint, solange er im Laden liegt, fast 18 Euro wert zu sein. In der Sekunde aber, da man ihn kauft, erlebt man einen Verlust von 100 Prozent. Jedenfalls blieb das Rezensionsexemplar bei Ebay, trotz des Startprei­ses von einem Euro, ohne Gebot. Kein Neffe, kein Kegelbruder, der es einem nordrhein-westfälischen Beamten zum Dienstjubiläum hätte schenken mögen. Nicht einmal »Holograph101« aus Pulheim bei Köln ließ sich herbei, es vor der Altpapiertonne zu retten.

Jürgen Rüttgers: Die Marktwirtschaft muss sozial bleiben. Eine Streitschrift. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007, 196 S., 17,90 Euro