Wertlose Scheinradikalität

Wenn von Klassen und gesellschaftlichen Konflikten, an denen sich radikale Kritik entzünden könnte, nicht die Rede ist, wird der Kampf »ums Ganze« zur Farce. von felix baum

Die Urkonstellation von linkem und reaktionärem Antikapitalismus lässt sich dem »Manifest der kommunistischen Partei« von 1848 entnehmen. Marx und Engels machen sich darin über einen »reaktionären«, genauer: »feudalen Sozialismus« lustig, der das Rad der Geschichte aufzuhalten sucht, weil er der Bourgeoisie vorwirft, »unter ihrem Regime entwickle sich eine Klasse, welche die ganze alte Gesellschaftsordnung in die Luft sprengen werde«. Spotten konnten die Kommunisten darüber, weil sie den Lauf der Geschichte auf ihrer Seite wähnten, auf die progressive Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise setzten, die ihren eigenen Totengräber, die Klasse der Proletarier, erzeugen werde. Deren historischer Beruf sollte es sein, ihre eigenen unerträglichen Existenzbedingungen – die Lohnarbeit – und damit die bestehende Gesellschaft aufzuheben.

Das historische Verschwinden dieser Perspektive – der Selbstaufhebung des Proletariats in die klassenlose Gesellschaft – hat tatsächlich linke Spielarten des Antikapitalismus hervorgebracht, die ihren reaktionären Antipoden oftmals zum Verwechseln ähnlich sehen. Wo nicht mehr die Basis der Gesellschaft, die Lohnarbeit, attackiert wird, blühen die Scheingefechte von Arbeit versus Geld, deutschem gegen amerikanisches Kapital, ehrlichen Investoren versus »Heuschrecken«. Was umgekehrt bedeutet, dass die einzige realistische Chance im Kampf gegen den reaktionären Pseudo-Antikapitalismus nicht in antifaschistischem Alarmismus besteht, sondern nur darin, den wirklichen Antagonismus der Gesellschaft theoretisch freizulegen und seine praktische Austragung zu befördern.

Dass die Konferenz einiger linker Gruppen, die sich im Anschluss an den Prozess gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm gewissermaßen nachträglich um theoretische Klärung bemühen will, einen Schritt in diese Richtung darstellt, muss nach Lage der Dinge bezweifelt werden. Der Aufruf jedenfalls zeugt von großer Konfusion: Wo es höchst allgemein und unverbindlich um die »Bestimmung politischer, sozialer, ökonomischer und struktureller Prozesse im Kapitalismus« geht – struktureller Prozesse! – und ein »Ansatz« den nächsten jagt, ist Aufschluss über die gegenwärtige Situation nicht zu erwarten. Zumal es sich bei einem der beiden zur Wahl stehenden »Ansätze« um den so genannten Postoperaismus von Toni Negri und anderen handelt, der die gesamte Kritik der politischen Ökonomie kurzerhand für veraltet erklärt und stattdessen einen stumpfen Manichäismus von produktiver »Multitude« und parasitärem »Empire« bedient. So dürfte die Konferenz eine weitere Illustration für den eigenartigen Umstand bieten, dass gerade die Linken, die sich die theoretische Reflexion auf die Fahnen schreiben, nur zur vollständigen Vernebelung der gesellschaftlichen Situation beitragen, da sie sich im Gestrüpp allerlei modischer Theorien verheddern.

Einer der Veranstalter, die Berliner Gruppe »Theorie. Organisation. Praxis« (TOP), hält es offenbar eher mit dem zweiten angebotenen Ansatz, der so genannten Wertkritik, und hat den auf der Konferenz hofierten Postoperaismus treffend als regressiven Kitsch zurückgewiesen (Jungle World 44/07). Dabei bleibt nicht nur die Frage offen, warum man diesen Kitsch überhaupt in den Rang einer diskussionswürdigen Theorie erhebt. Es zeigt sich vor allem, dass auch die Kritik dieser linken Regression noch keinen Anlauf zur Subversion begründet. Denn die Kritik des verkürzten Antikapitalismus begeht ihrerseits folgenschwere Verkürzungen, indem sie revolutionäre Bewegung zu einem Erkenntnisproblem verharmlost und einen großen Bogen um den Begriff der Klasse macht.

Verkürzte Kritik macht sich an Erscheinungsformen fest, radikale geht aufs Ganze. Ergo, so TOP, müsse man daran arbeiten, »die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen und den mit ihnen zwingend verbundenen Schaden für die zu vernutzenden Menschen aufzuzeigen«; die Gruppe will ihre Einsichten in die Verhältnisse »ins Bewusstsein der geschädigten Subjekte einschreiben«, zu welchem Zweck es »Irritationen und Störungen« zu erzeugen gelte, »in der Hoffnung, dass die Subjekte die Richtigkeit der sozialen Ordnung in Frage stellen«.

Nach Marx und Engels hing die Aufhebung des Kapitals vom Bewusstsein des Proletariats ab. Was die naturwüchsige Vorgeschichte beenden sollte, konnte nicht selbst bewusstloser Prozess sein. Radikales Bewusstsein wurde jedoch nicht so sehr als Frucht langwieriger Aufklärungsbemühungen verstanden, sondern als etwas, das von praktischen Assoziationsbemühungen der Lohnabhängigen untrennbar war und sich folglich nur in den Tageskämpfen entwickeln konnte.

Die akademisch geprägte Wertkritik dagegen denkt sich die subversive Bewegung als große Volkshochschule, in der den Subjekten zunächst die Bewegungsgesetze des Kapitals beigebracht werden müssen, bevor sie die bestehende Ordnung in Frage stellen können. Von gesellschaftlichen Konflikten, an denen sich die proklamierte radikale Kritik entzünden könnte, ist nicht die Rede. Die Subjekte treten als leere Blätter auf, die von den Kritikern mittels aufklärerischer Intervention mit den richtigen Inhalten beschrieben werden können.

So wird zwar darauf gepocht, dass die Verhältnisse nicht naturgegeben sind, aber weil der Begriff der Klasse vermieden wird, verschwendet man keinen Gedanken darauf, dass die Konstitution dieser Verhältnisse kein einmaliger Akt ist, sondern täglich von neuem vollzogen werden muss. Folglich fällt auch nicht auf, dass es dabei immer häufiger zu »Irritationen und Störungen« kommt – nicht durch das Wirken von Stoßtrupps der Aufklärung, sondern weil selbst das fragwürdige Versprechen von Glück, dessen sich die herrschende Ordnung lange Zeit gerühmt hat, mehr und mehr an der wirklichen Entwicklung in die Brüche geht. Für diese Spielart radikaler Kritik ist das unerheblich. Was ändert die massenhafte Durchsetzung von Leiharbeit schon an der Wertform?

Zu Lappalien wie der voranschreitenden Verelendung fällt derartiger Wertkritik dann auch nur die Belehrung ein, dass »einer radikalen Kritik des Bestehenden« mit »dem moralischen Verweis auf Ungerechtigkeit nicht geholfen« sei. Irgendwelche Anstalten, die in der Rede von den immer reicher werdenden »Reichen« und den mit ein paar Krümeln abgespeisten »Armen« in der Tat nur oberflächlich ausgedrückte Entwicklung genauer zu fassen, macht sie jedoch nicht. Noch unbestimmter als die Rede von Reichen und Armen ist aber die von »den Subjekten« schlechthin, die irgendwie alle einen Schaden haben.

So verstanden, gerät der Kampf »ums Ganze« zum scheinradikalen Gestus. Der revolutionäre Bruch mit den Verhältnissen wird gut existenzialistisch aus der revolutionären Subjektivität der Revolutionäre konzipiert, die sich vermutlich durch Aufklärungsarbeit exponentiell vermehren sollen. In genauer Umkehrung der verkürzten Kritik, die an den Erscheinungsformen hängen bleibt, werden pflichtgemäß die »Konstitutiva kapitalistischer Vergesellschaftung« von Wert bis Staat abgerufen, aber nicht mehr mit den Erscheinungen zusammengebracht. Gesellschaft zerfällt in belanglose Phänomene einerseits, Kernkategorien andererseits, die in Folge dieser Trennung – keine kleine Ironie – allem Bemühen um Fetischis­muskritik zum Trotz erstarren und geschichtslos werden.

Wenn alle begrenzten Klassenkonflikte dem Verdikt verfallen, sich bloß im Reich der Erscheinungsformen abzuspielen und nicht »aufs Ganze« zu gehen, wenn der Alltag der Proletarisierten – also vermutlich auch: der eigene – überhaupt nicht als das Terrain verstanden wird, auf dem allein sich eine wirkliche Bewegung bilden könnte, muss Praxis zu Kampagnenpolitik verkommen. Tatsächlich konnte man in Berlin bereits Demonstrationen beobachten, die den kritischen Seminarmarxismus zu handlichen Losungen wie »Just Communism« verwursten und mit elektronischer Musik untermalen, damit niemand einschläft.

Dass darin der gesuchte »way out« aus den Verhältnissen liegt, scheint höchst fraglich. Aber vielleicht findet ja der eine oder die andere, angeödet vom Durchkauen irgendwelcher »Ansätze«, zunächst wenigstens den Ausgang aus dem Universitätsgebäude.