40 Jahre sind genug

Nach dem vorläufigen Ende des Eisenbahnerstreiks geht es in den laufenden Verhandlungen darum, ob sich die Eisenbahner grundsätzlich darauf einlassen, vierzig Jahre zu arbeiten, um ihre Pension zu erhalten. Wenn im Gegenzug die Wochenend-, Feiertags- und Nachtzuschläge auf ihre Rente angerechnet werden, sind viele Eisenbahner dazu bereit. von bernhard schmid, Paris

Die von manchen Beobachtern befürchtete historische Niederlage der französischen Gewerkschaften ist in der jüngsten Streikbewegung vorerst ausgeblieben. Aber ob die Eisenbahner die Erfahrung gemacht haben, dass Widerstand »sich lohnt«, bleibt abzuwarten.

Dies wird nicht zuletzt von den konkreten Ergebnissen der Verhandlungen abhängen, die am Mittwoch vergangener Woche bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und diesen Montag bei den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) eröffnet worden sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach kann sich die konservative Regierung zwar mit dem Kernpunkt ihres Reformvorhabens durchsetzen und die, für die Rentenkasse relevante, Lebensarbeitszeit auch für die Transportbediensteten auf 40 Jahre ausdehnen. Doch auf die Eisenbahner und andere betroffene Berufsgruppen wird dies aufgrund von Kompensationen und Anrechnungsmodalitäten zunächst kaum Auswirkungen haben.

Die Gewerkschaften der Eisenbahner verlangen unter anderem eine stärkere Anhebung des Grund­lohns. Bislang beziehen die Eisenbahner einen gewichtigen Teil ihres Lohns in Form von Gehaltszusätzen und Prämien wie etwa Nacht- und Wochenendzuschlägen, die aber für die Rente nicht angerechnet werden. Deshalb fallen die Pensionen der Eisenbahner auch niedriger aus als die anderer Berufsgruppen.

Verhandelt wird nun darüber, ob zumindest ein Teil dieser Zuschläge – wie seit langem gefordert wird – in den Grundlohn einberechnet wird. Diese Forderung entspricht der Realität der Arbeitsbedingungen eines Eisenbahners, zu dessen Job die Wochenend‑, Feiertags- und Nachtarbeit gehört. Erreichen die Transportbediensteten dieses Zugeständnis tatsächlich, dürften die Eisenbahner die Strafbeträge für fehlende Rentenbeitragsjahre kaum stören. Denn sie könnten weiterhin relativ früh in Rente gehen, wenn ihre Pensionsverluste durch die Anhebung ihres Grundgehalts aufgefangen würden.

Daneben versucht die CGT, die für die Eisenbahner bedeutendste Gewerkschaft, auch für andere Gruppen von Beschäftigten Anrechnungsmodalitäten auszuhandeln. Bestimmten Lohnabhängigen sollen wegen ihrer erschwerten Arbeitsbedingungen drei oder fünf Beitragsjahre zusätzlich anerkannt werden. Die konservative Regierung lieferte dazu die Vorlage: Um die Berufsgruppengewerkschaft der Lokführer (FGAAC) vom Streiken abzuhalten, wurden den Lokomotivführern Anfang November fünf Anrechnungsjahre zugestanden. Die FGAAC war in der Folge auch die erste Gewerkschaft, die den unbefristeten Streik nicht unterstützte.

Im Fall der Eisenbahner sind Regierung und Bahndirektion zu ähnlichen Zugeständnissen bereit, um die Bereitschaft zum Arbeitskampf zu senken und das zentrale Symbol der Reform – die obligatorischen 40 Beitragsjahre – zu retten. Doch sie müssen befürchten, dass auch andere Lohnabhängige auf die Idee kommen, Ähnliches für sich zu fordern. Denn bereits im nächsten Jahr werden aller Voraussicht nach die Beitragsjahre auf 41 Jahre und im nächsten Jahrzehnt auf 42,5 Jahre erhöht.

Es war vor allem die CGT, die in der vergangenen Woche für das Ende des Streiks gesorgt hat. Die Beteiligung am Streik hatte allerdings ohnehin abgenommen. Kampagnen gegen die streikenden Beschäftigten, die als »Beschützer überkommener Privilegien« angegriffen wurden, sorgten für eine Spaltung der Lohnabhängigen. Hintergrund ist, dass die Regierung für andere Berufsgruppen bereits im Jahr 2003 drastische Ver­schlech­terungen durchgesetzt hat. Nur etwa ein Drittel der französischen Gesellschaft sprach sich für den Ausstand bei der Bahn aus. Für den Fall eines andauernden Streiks hatte die Regierung in der vorigen vergangene Woche sogar schon Gegenmaßnahmen angekündigt. So sollten die Rathäuser der Regierungspartei UMP private Ersatzbusse zur Verfügung stellen, um den Transportarbeiterstreik ins Leere laufen zu lassen.

Doch man kann auch eine positive Bilanz des vorläufig beendeten Eisenbahnerstreiks ziehen, wenn man die Beteiligung der Basis und die Abstimmungen in den Vollversammlungen als Maßstab nimmt. Tatsächlich konnten die Gewerkschaftsapparate eine Woche lang die Entwicklung des Streiks nichts kontrollieren. Allerdings kam ihnen dieser Kontrollverlust auch gelegen, da sie in der Öffentlichkeit nicht für die Entscheidung zum Fortgang des Streiks verantwortlich gemacht werden konnten. Nach Angaben der linken Basisgewerkschaft SUD-Rail haben 20000 Bahnbeschäf­tigte tagtäglich an den rund 200 Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen.

Doch die Vollversammlungen sahen nicht überall gleich aus. An manchen Orten verlasen die Vertreter der unterschiedlichen Gewerkschaften lediglich ihre Erklärungen, man arbeitete die Redeliste ab und danach gingen alle Teilnehmer ihrer Wege. Andernorts hingegen entwickelte sich eine kollektive Dynamik. Das Bahndepot von Melun östlich von Paris etwa, wo SUD Rail stark verankert ist, wurde besetzt. Auch nach dem Ende der Redebeiträge und der Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten Ölfeuer in gelben Fässern neben den Streikposten. In Melun fiel es den Beschäftigten laut diverser Berichten sehr schwer, die Arbeit wieder aufzunehmen.

Bei den Studierenden sieht die Lage ein wenig anders aus. Auch nach dem Ende des Ausstands der Transportarbeiter halten die studentischen Koordinationen den Streik an den Universitäten aufrecht. Zwar kann es der Regierung im Prinzip egal sein, ob und wie lange die Studierenden streiken, da sie nicht über ökonomische Druckmittel verfügen. Doch die Koordinationen setzten sich damit gegen die sozialdemokratisch geführte, größte Studierendengewerkschaft UNEF durch, die am vergangenen Wochenende gegen die Fortführung des Streiks votierte. Zu einem solch klaren Bruch zwischen etablierter Gewerkschaft und Selbstorganisierungsdynamik war es bei den Eisenbahnern und anderen Beschäftigtengruppen nicht gekommen. Die Vertreter der UNEF zogen aus der in Lille versammelten nationalen Streikkoordination aus, nachdem einigen ihrer Delegierten ihre Mandate aberkannt worden waren. Dies war erfolgt, um die Versuche der UNEF, die Koordination zu dominieren, abzuwehren. Die UNEF hatte es zuvor geschafft, im Sprecherausschuss der Streikkoordination eine Mehrheit ihrer Leute unterzubringen. Dazu trug auch die Naivität der dogmatischen Vertreter der Basis­organisierung bei, die jeglichem Delegiertenprinzip misstrauten.

Während die Medien die studentischen Proteste gegen die Einschränkung des Kündigungsschutzes (CPE) im Jahr 2006 noch wohlwollend begleiteten, hatten sie in den vergangenen Wochen kein gutes Wort für sie übrig. So sprach etwa die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde davon, die studentische Koordination sei eine »Manipulation der radikalen Linken«.

Neben ihrem Apparat hat auch die UNEF kein Interesse an einer starken studentischen Streikkoordination. Dort sind es libertäre Kommunisten und undogmatische Trotzkisten, die den Ton angeben, während die UNEF und die mit der Wahl von Delegierten durch die Vollversammlungen unzufriedenen Autonomen die Koordination lähmen. Die Autonomen fetischisieren das imperative Mandat, was aber de facto einen politischen Willensbildungsprozess innerhalb der Streik­koordination unmöglich macht.

Die UNEF hat es allerdings verstanden, den Streik für sich zu nutzen, indem sie ihn als Druckmittel in den Verhandlungen mit der Hochschulministerin Valérie Pécresse benutzte. Anders als die von der Vollversammlung gewählten Delegierten der Streikkoordination, forderte die UNEF keinen Rückzug der »Loi LRU«, des »Gesetzes über Freiheit und Verantwortung der Universitäten«, das ihren Rektoren eine finanzpolitische Autonomie verschafft und den Rückgriff auf Mittel der Privatwirtschaft ausweiten wird. Sie fordert nur die »Verbesserung« des Gesetzes.