Der »Friedenskanzler« ist tot, es lebe die »Kanzlerin der Menschenrechte«!

Die deutsche Außenpolitik steckt voller Überraschungen. Gestern wurde mit Putin gekungelt, heute mit dem Dalai Lama, gestern war Deutschland »Friedensmacht«, heute ist es »Weltmacht«. von richard gebhardt

Wäre da nicht der Streit mit dem Vizekanzler gewesen, Angela Merkel könnte mit dem außenpolitischen Geschäftsbericht der Großen Koa­lition für das Jahr 2007 ordentlich prahlen. Der Gipfel der G8 in Heiligendamm und ein halbes Jahr EU-Ratspräsidentschaft gingen aus ihrer Sicht reibungslos über die Bühne, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wurde gegen die Widerstände aus der Linken verlängert. Für ihren »herausragenden Beitrag zum Fortschreiten der Integration und zur Überwindung der Krise der EU«, soll die Kanzlerin im Mai 2008 den Aachener Karlspreis erhalten.

George W. Bush empfing Merkel zu Hause auf seiner Ranch in Texas, und die US-amerikanischen Medien feierten das Ende des europäischen Antiamerikanismus, welcher von Gordon Brown, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel zurückgedrängt werde. Warb der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) noch für einen »deutschen Weg« als »Friedensmacht« und ein europäisches Gegengewicht zum »Unilateralismus« der US-Regierung, so setzt Angela Merkel offiziell auf die transatlantische Option.

Bei alledem vergaß die Kanzlerin keineswegs, sich für die Menschenrechte stark zu machen, etwa als sie den Dalai Lama im Kanzleramt empfing. Das empörte die Regierung in Peking und irritierte die Sozialdemokraten wie auch den Bundesverband der deutschen Industrie. Den bürgerlichen Medien nach zu urteilen, trug die Geste zu ihrer Beliebtheit bei: Der Empfang des geistigen Oberhaupts der Tibeter sei, »nach Jahren humanitärer Verdrucktheit die Rückkehr zum aufrechten Gang in der deutschen Außenpolitik«, schrieb etwa die Märkische Allgemeine.

Dass Merkel bei ihren außenpolitischen Reden klingt wie eine Wiedergeburt der grünen Symbolfigur Petra Kelly, verwundert nicht nur manchen deutschen Großunternehmer. Auch einige Linke wundern sich, dass Merkel sich partout nicht aufführen will, wie es der Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft empfiehlt, und die Union erhält Zustimmung von ungewohnter Seite. Zum Beispiel lobte die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Barbara Lochbihler, die China-Politik der Kanzlerin und ihre Kritik am zimbabwischen Präsidenten Robert Mugabe beim dem EU-Afrika-Gipfel. Dabei galten noch in den achtziger Jahren die Repräsentanten der CDU und der CSU als Garanten für die deutsche Kooperation mit lateinamerikanischen Militärdiktaturen oder dem südafrikanischen Apartheidregime. Die Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützte die antikommunistischen Contras in El Salvador und anderswo, um »Freiheit und Democracy« gewaltsam durchzusetzen. Im Jahr 1987 war selbst die Aufnahme von etwas mehr als einem Dutzend chilenischer Regimegegner für die deutschen Konservativen eine ernste Herausforderung der Staatsräson.

Die Worte »Freiheit« und »Menschenrechte« aus dem Munde eines Unionspolitikers galten der linken und liberalen Öffentlichkeit zu jener Zeit bloß als verbale Waffen im Rahmen der moralischen Aufrüstung gegen die Systemkonkurrenz. Die Wirtschaftspolitik der Union wiederum deckte sich mit dem schlichten Geschäftsinteresse des Exportweltmeisters BRD.

Dergleich will man sich heutzutage nicht mehr nachsagen lassen. Nachdem Außenminister Frank-Walter Steinmeier Merkels Menschenrechtspathos auf dem Hamburger Parteitag der SPD als »Schaufensterpolitik« bezeichnet und Gerhard Schröder die distanzierte Haltung der Kanzlerin gegenüber der chinesischen Regierung unter anderem mit ihrer »DDR-Biografie« erklärt hatte, führten Unionsabgeordnete die politische Komödie des Jahres auf. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch, ein Bewunderer des Dalai Lama, sagte der Bild-Zeitung, Deutschland habe eine »geschichtliche Verpflichtung, zu moralischen Fragen nicht zu schweigen. Wir haben kein Recht, die Wirtschaft vor die Menschenrechte zu stellen.« Der Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, nannte Steinmeier in der Frankfurter Rundschau einen »Stichwortgeber für ausländische Kritik«.

Besonders argwöhnisch wird in der Union Gerhard Schröder betrachtet. Als Aufsichtsratvorsitzender des Pipeline-Konsortiums NEGP Company gilt er als willfähriger Lobbyist des Mehrheitseigners, des russischen Erdgasunternehmens Gazprom. Der Transatlantiker Friedbert Pflüger nannte ihn »eine Art Pressesprecher Wladimir Putins und der chinesischen KP«. War der Spott über den »Genossen der Bosse« zu der Zeit von Rot-Grün noch Sache der Linken, sind sich heutzutage die bürgerlichen Medien weitgehend einig: »Die Konzerne müssen sich wohl erst noch daran gewöhnen, dass sie mit dem Abtritt von Gerhard Schröder ihren besten Vertriebsmitarbeiter verloren haben.« (Westdeutsche Zeitung)

Auf dem CDU-Parteitag teilte Angela Merkel im Rahmen der Debatte über die Managergehälter gegenüber Schröder kräftig aus. In Japan verdiene der Chef eines Unternehmens etwa das 20fache eines Arbeiters. »Das ist etwa das Doppelte eines deutschen Kanzlers – wenn er nicht gerade in der Schweiz Geschäfte für russisches Gas macht«, sagte Merkel. Der sozialdemokratische Altkanzler als vaterlandsloser Geselle und Knecht des Kremls – die lautstark applaudierenden Delegierten hatten den Appell an die noch nicht verkümmerten politischen Instinkte der deutschen Rechten verstanden.

Die künftigen Konfliktlinien zwischen der Union und der SPD zeichnen sich ab. Im Rahmen einer Feier zum 60. Jahrestag des Marshallplans im November forderte Angela Merkel in der Berliner American Academy einen »Transatlantischen Wirtschaftsrat« mit der Aufgabe, perspektivisch eine Freihandelzone zwischen Europa und den USA einzurichten. Das aktuelle Strategiepapier von CDU und CSU zu Asien schreibt die Führungsrolle der USA fest und setzt demokratische Werte gegen das chinesische System der autoritären Kapitalakkumulation. In der neuen Konkurrenz gegen die wirtschaftlich starken Schwellenländer kann die Kanzlerin irgendwie doch ein bisschen an alte Traditionen der Union anknüpfen.

Doch der Ruf der »Klima- und Menschenrechtskanzlerin« könnte gerade angesichts der neuen deutsch-amerikanischen Freundschaft auch schnell zu Schaden kommen. Die wachsende Rezession, die Abschwächung des Dollars, der Crash auf dem Immobilienmarkt, der Ruin weiter Teile der Mittelschicht sowie die Finanzlasten durch die Folgekosten des Irak-Kriegs für den US-Haushalt in der Höhe von geschätzten zwei Billionen US-Dollar bis zum Jahr 2010 dürften erhebliche Konsequenzen für die europäischen Handelspartner haben. Zudem ist der »Vierte Weltkrieg« (Norman Podhoretz) gegen das iranische Regime nicht nur eine rhetorisch-taktische Option der Regierung Bush, sondern ebenso fester Bestandteil des ideologischen Arsenals im Beraterstab des aussichtsreichsten republikanischen Präsidentschaftskandidaten, Rudolph Giuliani. Dagegen könnte ein neuer »Friedenskanzler« polemisieren und Merkels Union in Verlegenheit bringen.

Ein Gegenentwurf zur offiziell transatlantischen Ausrichtung Merkels, die mit ihrem Kurs auch auf Skeptiker in den eigenen Reihen trifft, wäre eine Neuauflage der geopolitischen Vorstellungen Gerhard Schröders. Darin bildet Europa (das heißt: Deutschland, Russland und Frankreich) die Gegenmacht zu Asien und den Vereinigten Staaten. Die schöne Rede von den Menschenrechten bliebe dann auf Festivitäten in der Leipziger Nikolaikirche und »kritische Dialoge« beschränkt.

Ob Merkels moralische Rhetorik reine Symbolpolitik bleiben wird oder ob sie sich künftig, wie etwa im Fall des Iran, in der tatsächlichen Einschränkung des Handelsvolumens niederschlägt, ist für die innenpolitische Profilierung der Kanzlerin nicht so wichtig. Auch dass ihre Worte von internationalen Konkurrenten vorgeführt werden könnten, wie Nikolas Sarkozy es kürzlich tat, ist ein abschätzbares Risiko für die Union.

Schon die rot-grüne Regierung konnte sich trotz der Bomben auf Belgrad, Schröders lupenreinem Menschenrechtszynismus und einem deutschen Spitzenplatz unter den waffenexportierenden Ländern als zivilgesellschaftliche Avantgarde der europäischen »Friedensmacht« verkaufen. Dieses aus außenpolitischem Realismus und pazifistisch-multilateraler Rhetorik bestehende Konzept liegt vorerst auf Eis.

Derzeit ist ein anderer, altmodischer Begriff wieder in der Debatte: 49 Prozent der Deutschen halten die Bundesrepublik nach einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung für eine Weltmacht. 46 Prozent sind überzeugt, dass ihr Land auch künftig eine Führungsrolle spielen werde. Zum Beispiel eine Rolle wie im Kosovo, wo deutsche Diplomaten in einem Musterfall von »europäischer Integrationspolitik« der Bundesregierung gegen die Wiederstände von Russland, Griechenland, Zypern, Slowenien und Spanien die »Autonomie« des ehemals jugoslawischen Teilstaats vorbereiten. Auch dort hat die moralische »Weltmacht« Deutschland angesichts ihrer Realpolitik erheblichen Bedarf an symbolpolitischen Gesten.