Nur die schönsten Ansichten

Zwei Ausstellungen in Berlin widmen sich dem Sehen und Hören unbekannter Geschichten aus der deutschen Kolonialzeit. Von Jessica Zeller

In der Geschichte des deutschen Kolo­nia­lismus ist 1904 ein wichtiges Jahr: Der Aufstand der Herero und der Nama gegen die deutsche Expan­sions­politik in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, begann in diesem Jahr. Bis 1908 praktizierte das deutsche Militär dort mit Billigung des Kaisers eine Vernichtungsstrategie ge­gen die feindlichen Truppen und die zivile Be­völ­kerung. Die Bilanz dieses Vorgehens sah folgendermaßen aus: Lebten vor dem Krieg 80 000 Hereros unter deutscher Herrschaft, waren es 1911 noch 15 130. Die Hälfte von einst 20 000 Na­ma starb im selben Zeitraum.

Auf den Postkarten, die der Soldat Herrmann regelmäßig an seine Familie im norddeutschen Rendsburg schickte, finden sich Spuren dieses lange vergessenen Krieges. Mit dem Versprechen, »euch von hier nur die schönsten Ansichten zu schicken«, erhielten Bruder und Schwä­­gerin Fotos von der »Hinrichtung aufrührerischer Mör­der« in Gibron, von der friedlich da­hin­schlum­mern­den »Westlichen Kaiser-Wilhelm-Straße« in Windhuk und ein Abbild des »feigen Oberhäuptlings der Herero«, Samuel Maharero. Im Kontrast zu den ausgewählten Motiven muten Herrmanns schriftliche Grüße stets einsilbig und nichtssagend an. Die Kameraden seien freund­schaftlich, eine Krankheit habe er sich bislang noch nicht zugezogen, das Bier schmeck­te noch.

Die Ausstellung »Bilder verkehren«, die bis zum 17. Februar im Kunstraum Kreuzberg/Be­tha­nien in Berlin zu sehen ist, zeigt neben der ko­lonialen Soldatenpost 350 weitere Postkarten vor allem aus dem Kaiserreich, großteils aus dem Bestand des privaten Sammlers Peter Weiss. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Rolle das damals populäre Medium Post­karte dabei spielte, das koloniale Projekt zu le­gitimieren oder seine Widersprüche deutlich zu machen. »Nicht jede Postkarte, auf der sich ein schwarzer Mensch befindet, ist gleich eine koloniale Darstellung. Dazu muss eine bestimmte Bildsprache kommen, bei der die Weißen zum Beispiel für Zivilisation stehen und die Schwarzen für rohe Wildheit«, sagt Astrid Kusser, die gemeinsam mit drei anderen Historikern die Aus­stellung konzipiert hat. Oft ist diese Dichotomie nicht eindeutig oder wird sogar unterlaufen. So überwiegen insgesamt zwar diffamierende Porträts, zum Beispiel das des »verwegenen Hottentottenhäuptlings Hendrik Wittboi«, und Darstellungen einer lediglich von Löwen und Giraffen bewohnten wilden Natur, doch daneben finden sich erstaunlich viele Aufnahmen von schwarzen Künstlern aus dem Schausteller­gewerbe, dem Varieté oder der gerade entstehenden Filmindustrie. Angeheuert auf deutschen Schiffen, zur Ausbildung an hiesige Universitäten »versandt« oder als Darsteller einer »Völkerschau« auf Tournee, kamen sie um die Jahrhundertwende ins Land und blieben oft dauerhaft. Ihre Fotos, die sie selbst in Auftrag gaben, dienten als Visitenkarten oder dazu, auf bestimmte populäre Veranstaltungen aufmerksam zu machen.

»Es gab auch einen Import schwarzer Kultur nach Deutschland. Zur gleichen Zeit, als die kaiserlichen Soldaten in Namibia mordeten, tanzte die Zivilbevölkerung in den deutschen Großstädten den Cakewalk, einen von schwarzen Sklaven in den USA erfundenen Tanz, mit dem sie die Bewegungen ihrer weißen Herren spöttisch imitierten«, sagt Kusser. »Bilder verkehren« will auf diese Bruchstellen im vermeintlich linearen historischen Prozess aufmerksam machen. Was heute unweigerlich als Täter-Opfer-Beziehung erscheint, war einst ein umkämpftes Terrain. Die Akteure, die heute in Vergessenheit geraten sind, sollen wieder sichtbar werden – nicht zuletzt auf ihren eigenen Bildern.

Das Pendant dazu ist das Ausstellungsprojekt »The Making of … « von Philip Scheffner und Britta Lange, das gleichzeitig in den Nebenräumen des Ausstellungsgebäudes stattfindet. Hier steht nicht das Sehen, sondern das Hören bislang weitgehend unbekannter Geschichten im Vordergrund. Es sind die Stimmen »exotischer« Kriegsgefangener aus den Kolonialgebieten der Entente.

Inder, Tataren und Marokkaner waren während des Ersten Weltkriegs im »Halbmondlager« in Wünsdorf bei Berlin interniert und sollten dort mittels Stärkung ihres islamischen Glau­bens dazu bewogen werden, die Seiten zu wech­seln und für den Verbündeten des Deutschen Reiches, das Osmanische Reich, zu kämp­fen und zu sterben. Die Propaganda hatte wenig Erfolg, trotz feierlicher Einweihung der ersten Moschee auf deutschem Boden am 13. Juli 1915. Auf großes Interesse stießen die Gefangenen hingegen in der Wissenschaft. Die »Königlich-Preußische Phonographische Kommission« hielt in akribischer Forschungsarbeit die Sprachen und die Musik von 250 »Völkern der Erde« auf Schellack für die Nachwelt fest.

Die Tonaufnahmen befinden sich heute im Berliner Lautarchiv der Humboldt-Universität und bilden neben einigen Fotos die Grundlage für »The Making of … «. In mehreren, bis auf Pro­jektoren und Lautsprechern leeren Räumen hört der Besucher Zahlen oder Musterwörter, gesprochen in den verschiedenen indischen Sprachen, oder vernimmt das seltsam traurige Lied der Gurkha. Von Zeit zu Zeit ruft Kaiser Wilhelm II. die Deutschen zum Krieg auf und eine amtliche Registrierung mit Name, Aufnahmedatum, -zeit, -ort und »Rassenzugehörig­keit« oder ein Standbild aus dem heutigen Wünsdorf erscheint auf den vereinzelt aufgestellten Bildschirmen. »Ich widme mich den Leerstellen in unserer offiziellen Geschichts­schrei­bung«, sagt Ausstellungsmacher Philip Scheffner.

Dabei unterschätzen er und Britta Lange offensichtlich die Unzulänglichkeit alten Tonmaterials und sehen nicht die Notwendigkeit, den historischen Zusammenhang dem Besucher, der im Zweifel kein Experte auf dem Gebiet ist, zunächst zu erklären. Während »Bilder verkehren« an den richtigen Stellen von gut verständlichen Begleittexten mit ansprechender Grafik und zahlreichen Hörstationen ergänzt wird, bleiben die Fragmente von »The Making of …« oft unverständlich. Die kurzen Informa­tio­nen darüber, wer gerade spricht, und das Gesagte bzw. Gesungene befinden sich oft an unter­schiedlichen Orten und man ist als Betrachter stets versucht, von einem Raum in den anderen zu wechseln, um den Zusammenschnitt an­näh­ernd nachvollziehen zu können. Hinzu kommt der ziemlich ärgerliche Umstand, dass die kleinen Lautsprecher und Bildschirme der Größe des Ausstellungsgebäudes kaum angemessen sind. Während in historischen Ausstellungen oft die ästhetische Form zu kurz kommt und man von Schautafel zu Schautafel geht, wollten Schef­fner und Lange die vergessene Geschichte mit ganz neuen Mitteln erzählen. Das ist sicherlich gut gemeint, tatsächlich aber trimmen sie die Ereignisse und Akteure auf Kunst-Performance, ohne dass klar wird, warum dies geschieht. Leider bleibt so die Vermittlung des Inhalts auf der Strecke und man nimmt die zahlreichen Begleitveranstaltungen zur Ausstellung schon des­halb gerne in Anspruch.

»Bilder verkehren«/»The Making of…«. Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin, Mariannenplatz 2. Bis 17. Februar