Ural brutal

2007 haben russische Neonazis mehr Gewalttaten begangen und mehr Menschen ermordet als je zuvor. Der aggressive Na­tio­na­lis­mus und die Hinnahme der Gewalt in der russischen Gesellschaft verschaffen ihnen weiterhin Zulauf. von ute weinmann, Moskau

Alle rassistischen Gewalttaten, die in den vergangenen zwölf Monaten in Russland verübt wurden, sind zwar noch nicht statistisch erfasst. Eines steht aber bereits fest: Im Jahr 2007 wurde ein neuer, unrühmlicher Höhepunkt erreicht. Bereits Mitte November entsprach die Zahl nach Angaben des Moskauer Zentrums SOVA, das Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund dokumentiert und analysiert, der vom Vorjahr. 2006 kamen 54 Menschen infolge so genannter Hate Crimes ums Leben, insgesamt registrierte das SOVA 539 rassistische Angriffe, die Vergleichszahlen für Mitte November 2007 liegen bei 55 Toten und 529 Attacken. Bis Jahresende fielen noch weitere Menschen nichtrussischer Herkunft dem andauernden Terror russischer Neonazis zum Opfer.

Das Ausmaß an rassistischer Gewalt, die haupt­sächlich von organisierten rechtsextremen Gruppen und Einzeltätern verübt wird, dürfte jedoch deutlich größer sein, als es sich in Zahlen fassen lässt. Die Informationslage ist schlecht, Meldungen in regionalen Medien und Weblogs erfordern eine Überprüfung, die aber oft nicht gewährleistet werden kann. Außerdem ist davon auszugehen, dass sich nicht alle von der Gewalt Betroffenen an einschlägige Organisationen wenden, geschwei­ge denn eine Anzeige bei der Miliz erstatten.

Allerdings nehmen in Russland nicht allein die rassistischen Straftaten zu. Frauenorganisationen haben bereits in den neunziger Jahren auf eine eklatante Zunahme der Gewalt in Familien hingewiesen. Sie machten dafür vor allem den sozialen Zerfall nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verantwortlich. Unter den Ländern der Welt mit einer hohen Mordrate nimmt Russland seit Jahren einen Spitzenplatz ein. Generell lässt sich in der russischen Gesellschaft eine hohe Gewaltbereitschaft und eine weit verbreitete Akzeptanz von Gewalt feststellen.

Der seit Ende 1994 andauernde bewaffnete Konflikt in Tschetschenien hat zu diesem Zustand sicherlich einen nicht unwesentlichen Teil beigetragen. Schließlich haben tausende russische Soldaten, Wehrpflichtige und Angehörige zahlreicher Sondereinheiten ihre Kriegserfahrungen nach Russland mitgebracht.

Dass sich die Angriffe hauptsächlich gegen Menschen nichtrussischer Herkunft richten, ist auch ein Ergebnis des letztlich gescheiterten sowjetischen Modells der Völkerfreundschaft. Die formale Gleichstellung aller Völker in der Sowjet­union bedeutete alles andere als die Überwindung völkischer Stereotype. Russlands eigene Vergangenheit als faktische Kolonialmacht wurde überdies nie kritisch aufgearbeitet. Infolge des Auseinanderbrechens der Sowjetunion 1991 ging Russland zunächst als Verlierer hervor. Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird häufig zugute gehalten, dass er durch seine »Politik der Stärke« den Russen ihr Selbstvertrauen zurückgegeben habe. Tatsächlich jedoch geht die Rückeroberung der Macht Russlands im globalen Kontext mit einem gezielt geschürten nationalistischen Überlegenheitsgefühl einher.

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es in Russland nach wie vor mehr Verlierer als Gewinner der neuen Ordnung. Doch wo sich die weit verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung vor Putins Amtsantritt noch im politischen Kampf diverser Gegner untereinander und gegen den Kreml offenbarte, so ist am Ende seiner zweiten Amtsperiode von einer wirklichen Opposition beinahe nichts mehr übrig geblieben. Die Dispute der Neunziger zwischen den Befürwortern der politischen Liberalisierung und den Anhängern der rot-braunen Vorstellung von einem mächtigen Vielvölkerimperium wurden in einen aggressiven Nationalismus kanalisiert, der beispielsweise im Herbst 2006 zur Ausweisung von über 5 000 Georgiern führte. Ausländischen Staatsbürgern wurde der Markthandel per Gesetz untersagt. Darüber hinaus nimmt die Ethnisierung des Politischen und Sozialen vor dem Hintergrund einer von Fremdenfeindlichkeit gekennzeichneten Migrationsdebatte immer deutlichere Formen an. Selbst der Begriff »ethnische Muslime« taucht inzwischen in den Medien auf. So wird auf völkische Weise vor einer neuen Gefahr, dem Islam, gewarnt.

Diese Voraussetzungen sorgen bei der extremen Rechten für regen Zulauf. Russlands gewaltbereite rechtsextreme Szene umfasst nach Schätzungen mittlerweile nicht weniger als 70 000 Anhänger, wobei sich der Großteil in und um die Metropolen Moskau und St. Petersburg konzen­triert. Ihr Organisationsgrad wird nicht selten durch örtliche Fußballvereine bestimmt, unter deren Fans immer das gesamte Spektrum von gemäßigten Rechten bis zu überzeugten Neonazis vertreten ist. Oftmals lassen sich rechtsextreme Schlägerbanden von Sicherheitsfirmen als Wachkommandos vermitteln. So nahm beispielsweise die dem Kreml und Putins Partei nahe stehende Jugendbewegung Naschi (»Unsere«) mehrfach die Dienste der rechten »Gladiatoren« des Moskauer Fußballclubs Spartak in Anspruch, die für die Sicherheitsfirma »Weißes Schutzschild« arbeiten.

Direkte und indirekte logistische Unterstützung aus dem Umfeld des Staatsapparats erhält die extreme Rechte auch von so genannten militärpatriotischen Clubs. Diese dienen vordergründig zur Vorbereitung auf den Wehrdienst und zur Vermittlung »patriotischer Grundwerte«. In den teils sogar von der orthodoxen Kirche betriebenen Clubs erlernen Jugendliche den Umgang mit Waffen. Im Fernsehen brüstete sich der Anführer der Neonaziorganisation »Slawischer Bund«, Dmitrij Djomuschkin, gar damit, dass ihm das »Einige Russland«, die Partei des russischen Präsidenten, einen Sportsaal zum Training zur Verfügung stelle.

Mit der Anzahl an Gewalttaten nehmen auch die eingeleiteten Strafverfahren zu. Allerdings wird im Regelfall selbst bei Todesfällen nur wegen Hooliganismus und Körperverletzung ermittelt. Zu den wenigen bislang vom Staat als extremistisch eingestuften und verbotenen rechten Organisationen gehören drei regionale Abteilungen der vormals größten paramilitärischen Vereinigung »Russisch-Nationale Einheit«. Aus ihr sind die meisten derzeit aktiven Neonaziverbände hervorgegangen. Eine langfristig wirksame Strategie, die über Verbote hinausginge, wäre nötig, um die rechtsextreme Gewalt zu bekämpfen. Die Forderung nach einer solchen Vorgehensweise findet indes kein Gehör.