Who the fuck is Rudi Dutschke?

2008 tun die immer noch linken und die längst nicht mehr linken Veteranen so, als habe sich das Jahr 1968 nur in Deutschland abgespielt, als seien alle Menschen ausschließlich mit der Frage beschäftigt gewesen, ob sie zur Vietnam-Demonstration gehen oder lieber noch einen Joint rauchen sollten, so als habe die ganze Welt nur aus Revoluzzern und Blumenkindern bestanden. So war es nicht. von jörn schulz

Musik statt Mord

»Ich tötete einen Mann in Reno, nur um ihn sterben zu sehen«, sang Johnny Cash, der nie jemanden umbrachte, im »Folsom Prison Blues«. Am 13. Januar trat er im kalifornischen Folsom-Gefängnis auf, in dem organisierten sich Gefangene in einer Bewegung gegen die harten Haftbedingungen, viele Gruppen hatten auch sozialrevolutionäre Ziele. Bei einem Aufstand im Ohio Penitentiary wurden im August Wärter als Geiseln genommen, bei der Niederschlagung der Revolte tötete die Polizei fünf Gefangene.

Mord statt Musik

Im Rückblick urteilte der gescheiterte Künstler: »Ich glaube, ich und die Mädchen haben es versaut.« Doch im August 1968, als Gregg Jacobson ihm Studioaufnahmen ermöglichte, glaubte Charles Manson noch an seine Karriere als Musiker. Den Kontakt vermittelte Dennis Wilson von den Beach Boys, der zwei Mädchen aus Mansons Sekte kennen gelernt hatte. Manson war unter anderem Zuhälter, Mädchen aus seiner »Family« wohnten bei Wilson und bedienten ihn in jeder Hinsicht. Wilson ließ sich den Spaß rund 100 000 Dollar kosten, wurde aber vorsichtiger, nachdem er eine hohe Arztrechnung für die Behandlung der Geschlechtskrankheiten einiger Mädchen bezahlen musste. Er distanzierte sich von Manson. Ein Jahr nach den Aufnahmen begann die Mordserie der »Family«.

Die Frau im weißen Licht

Einst soll sich in Zeitoun Maria auf dem Weg nach Bethlehem ausgeruht haben. Knapp 2 000 Jahre später schaute sie noch einmal vorbei. Das glaubten jedenfalls unzählige Ägypter, die in Zeitoun eine Marienerscheinung hatten. Zuerst erschien die »Frau in weißem Licht«, wie die meisten Beobachter sie beschrieben, am 2. April über der Kirche, am 30. April ließ sie sich über zwei Stunden lang bewundern, und in den folgenden drei Jahren schaute sie immer mal wieder auf eine Stippvisite vorbei. Präsident Gamal Abdel Nasser persönlich beglaubigte das Wunder, das ihm recht gelegen kam. Es vereinigte koptische Christen und Muslime, zudem bezeugte es, dass Ägypten auch nach der verheerenden Niederlage im Krieg gegen Israel den Segen Gottes hatte. Ob über der Kirche eine Lightshow oder ein Alien zu sehen war, ob es sich um Massensuggestion handelte oder womöglich die altägyptische Göttin Isis sich beklagen wollte, dass man ihr so lange nicht geopfert hatte, ist bis heute ungeklärt.

Die Maus kommt zu früh

Viel zu früh stellten Douglas C. Engelbart und William English im Dezember eine Maus samt einem Computer mit grafischer Benutzeroberfläche vor. In diesem Jahr warb Hewlett-Packard zwar für den ersten »personal computer«, doch handelte es sich nur um eine Rechenmaschine. Noch waren Computer Geräte, die mehrere Räume füllten und von Männern in weißen Kitteln mit Lochkarten gefüttert wurden. In der Geschichte der Informatik gilt der gesellschaftliche Aufbruch dieser Zeit jedoch auch als Voraussetzung für einen Paradigmenwechsel. Rech­ner sollten nun nicht mehr allein der Berechnung von Flugbahnen von Atomraketen und ähnlichen Zwecken dienen, sondern für den persönlichen Bedarf konstruiert werden.

In allen Farben

»Ich fertige sie in allen Farben an, wenn sie nur zu den Vorhängen passen«, sagte Andy Warhol über seine Siebdrucke. Handelt es sich um den ironischen Kommentar eines Künstlers, dessen Werk in Wahrheit den manipulativen Charakter der Populärkultur erkennbar macht, oder um den Zynismus eines Geschäftemachers, der sich an die Bourgeoisie verkauft hat? Pop Art galt radikalen Künstlern schon wieder als etabliert. Die Eröffnungsveranstaltung der Documenta, die u.a. Warhols »Marilyn« zeigte, wurde Ende Juni von Protestierenden gestört, die Aktionskunst, Happenings und politische Kritik vermissten. Rabiater war Anfang des Monats Valerie Solanas vorgegangen, die Gründerin der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer. Sie verletzte Warhol mit drei Schüssen schwer. Bei dem Attentat beschädigte Kunstwerke erzielten später Spitzenpreise.

Gegen Kafka und den Frühling

Als die Truppen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten am 21. August in die CSSR einmarschierten, besetzten sie nicht nur strategisch wichtige Plätze. Ein Panzer wurde auch vor dem Geburtshaus Franz Kafkas postiert, denn die Debatten über dessen Werk gehörten zu den Auslösern des »Prager Frühlings«. Viele Tschechoslowaken fanden Kafkas Darstellung einer bizarren und übermächtigen Bürokratie durchaus aktuell, während die konservative Fraktion in der KP meinte, die Entfremdung sei eine im Sozialismus überwundene Angelegenheit. Im Januar hatten die von Alexander Dubcek geführten Reformsozialisten die Macht in der KP übernommen, sie versprachen Demokratisierung, die Zensur wurde aufgehoben. Im »Prager Frühlung« begann eine offene gesellschaftliche Debatte. Die KPdSU befürchtete eine Radikalisierung und ein Übergreifen der Forderungen nach Demokratisierung, auch in Polen gab es Proteste. Fünf Tage nach dem Einmarsch wurde das Moskauer Protokoll verabschiedet, die tschechoslowakische KP-Führung widerrief sämtliche Reformen und sagte zu, die »brüderliche Freundschaft mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten zu vertiefen«.

Virale Globalisierung

H3N2 ist nicht der Name eines Roboters aus »Star Wars«, sondern des letzten Erregers, der eine globale Grippepandemie verursachte. Der erste Ausbruch wurde am 13. Juli in Hongkong registriert. In den folgenden 18 Monaten starben mehr als 750 000 Menschen an der Hongkong-Grippe.

Tod und Spiele

Auch in Mexiko gab es eine 68er-Bewegung. Studenten hielten mehr als 100 Tage lang die Nationale Universität von Mexiko-Stadt (Unam) besetzt, dann räumten 10 000 Soldaten das Gelände. Zwei Wochen später, am 2. Oktober, demonstrierten Hunderttausende gegen den Militäreinsatz und für die Freilassung politischer Gefangener. Das Batallón Olimpia, eine Spezialeinheit, eröffnete das Feuer und tötete etwa 500 Menschen. Präsident Díaz Ortaz wollte vor der Eröffnung der Olympischen Spiele am 12. Oktober Ruhe erzwingen. Viele Linke folgerten aus dem Massaker, dass es keine legalen Möglichkeiten der politischen Veränderung gebe, und gründeten Guerillaorganisationen.

Eine Partei, viele Proteste

Im Februar wurde der senegalesische Präsident Léopold Senghor wiedergewählt, was nicht schwierig war, da es außer ihm keinen Kandidaten gab. Gegen sein autoritäres Einparteienregime, den Neokolonialismus und für höhere Stipendien protestierten jedoch im Mai die Studenten, sie blockierten die Universität. Als die Polizei angriff, solidarisierten sich Schüler und Gewerkschaften mit den Protesten. Senghor erwog, sich nach Frankreich ausfliegen zu lassen, doch es gelang der Polizei, durch Verhaftung der Gewerkschaftsführer einen Generalstreik abzuwenden.

Angriff am Neujahrsfest

Eigentlich hatte US-Präsident Lyndon B. Johnson schon Sorgen genug. Im Dezember 1967 musste er erfahren, dass 45 Prozent der Amerikaner den Vietnam-Krieg ablehnten, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Zum vietnamesischen Neujahrsfest begann dann am 30. Januar die Tet-Offensive, ein Großangriff der NLF (National Liberation Front) auf die US-Truppen und ihre südvietnamesischen Verbündeten in über 100 Städten. In militärischer Hinsicht waren die Erfolge dürftig. Doch die Offensive überzeugte die amerikanische Öffentlichkeit davon, dass es nicht zu dem versprochenen schnellen Sieg kommen werde. Es war dem Image des Krieges auch nicht förderlich, dass sich Polizeichef Nguyen Ngoc Loan in Saigon bei der Ermordung eines Gefangenen fotografieren ließ. Bald darauf stimmte die US-Regierung erstmals Friedensgesprächen zu.