»Das Ergebnis der Unabhängigkeit ist allgemeine Provinzialisierung«

Rastko Mocnik, Professor für Kultursoziologie

Rastko Mocnik ist der bekannteste materialistische Philosoph Sloweniens. Sein 1995 publiziertes Buch »Wie viel Faschismus?« behandelte die Frage, warum Politiker, Künstler und Intellektuelle in den postsozialistischen Staaten nach rechts drifteten, und löste in Slowenien heftige Debatten aus. Er war der prominenteste Gegner des EU-Beitritts Sloweniens, da er befürchtete, nur ein kleiner Teil der Gesellschaft werde davon profitieren. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität in Ljubljana ist er Kolumnist der Wochenzeitung Mladina und politischer Aktivist. interview: doris akrap

Ausgerechnet in dem Jahr, in dem über den Status des Kosovo entschieden werden soll, hat Slowenien die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Zu Zeiten Jugoslawiens gab es in Slowenien viele Arbeiter aus dem Kosovo, die oft rassistischen Vorurteilen begegneten. Wie ist das Verhältnis zu Leuten aus dem ­Kosovo heute?

Nach der Sezession Sloweniens von Jugoslawien wurden die meisten Gastarbeiter ausgewiesen. Diejenigen, die da blieben, wurden illegale Ausländer. Heute leben mindestens 30 000 Menschen in Slowenien, die keine slowenische Staatsbürgerschaft besitzen. Rassistischen Angriffen sind heute jedoch vor allem die Roma ausgesetzt.

Sie haben einmal gesagt, dass der Autonomie­status des Kosovo von 1974 den Anfang vom Ende Jugoslawiens einleitete. Was wären heute die politischen Folgen für die Region, wenn das Kosovo unabhängig wird?

Der Bund der Kommunisten war 1974 nicht in der Lage, anders auf die wachsende nationalistische Ideologie zu reagieren als mit der Aufteilung des Landes nach dem nationalistischen Schlüssel.

Heute sind die Handlungsspielräume ähnlich beschränkt. Alle, die über die Zukunft des Kosovo entscheiden werden, stellen die Frage nach der Stabilisierung der Region und glauben, das Problem mit der Entscheidung über die Unabhängigkeit lösen zu können. Es ist allerdings bereits ein Faktor der Destabilisierung, das Problem auf diese Weise zu betrachten. Denn die Frage nach der Staatsform bildet doch nur den legalen Rahmen für die kapitalistische Ausbeutung. Überall in den jugoslawischen Nachfolgestaaten hat diese identitäre Konstruktion von Gesellschaft zu ethnischer Säuberung, Depolitisierung und zu einem drastischen Anwachsen sozialer Ungleichheit und einer Verschlechterung des Lebens der Arbeiter geführt. Es sind die sozialen Spannungen, die Klassengegensätze, die die Region destabilisieren. Und um diesem Problem zu begegnen, muss die Perspektive radikal geändert werden.

Wird die slowenische Regierung die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützen?

Slowenische Unternehmen haben ein großes Interesse am Kosovo. Das Land soll stabil werden, damit man dort Profit machen kann. Die slowenische Regierung unterstützt dieses Interesse. Aber ansonsten wird sie das tun, was die EU ihr sagt, oder was die USA sagen.

Kurz vor dem Beitritt zum Schengener Abkommen Ende Dezember streikten die slowenischen Zöllner für eine Neuregelung ihrer Aufgaben. Sie haben Angst, dass sie nach dem EU-Beitritt Kroatiens ihre Arbeit verlieren. Denn in diesem Fall würde die letzte wirkliche Außengrenze Sloweniens wegfallen. Begrüßt die slowenische Gesellschaft die Öffnung der Grenzen, die sie vor 16 Jahren geschlossen hat?

Ja, das ist paradox. Die Meinungen zu Schengen sind sehr verschieden. Politiker und Medien begrüßten die Öffnung der Grenzen, weil Slowenien dadurch ein echtes Mitglied Europas geworden sei. Aber von der Bevölkerung wird Europa längst nicht mehr derart mythisiert, es ist längst nicht mehr so populär, wie es einmal war. Das liegt vor allem an den Lebensmittelpreisen, die seit der Einführung des Euro im vergangenen Jahr und dem EU-Beitritt enorm gestiegen sind. Allein in diesem Jahr soll Brot um 30 Prozent teurer werden.

Was hat sich in der slowenischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit 1991 verändert?

Die Entwicklung der slowenischen Gesellschaft beweist, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist, eine soziale Realität zu produzieren, die mit dem jugoslawischen Sozialismus konkurrieren könnte. Die sichtbarste Veränderung ist das Auftreten von Armut. Obdachlose gehören mittlerweile zur alltäglichen Normalität. Etwa 14 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Soziale Unterschiede werden immer größer. Prekäre Arbeitsverhältnisse bereiten vor allem jungen Leuten enorme Schwierigkeiten. Die intellektuelle Atmosphäre ist engstirnig, primitiv und trivial. Das Ergebnis der Unabhängigkeit ist allgemeine Provinzialisierung.

Warum wird Slowenien trotzdem gerne als politisches und ökonomisches Erfolgsmodell präsentiert?

Das Bild, das man sich in der EU und im eigenen Land macht, ist das Ergebnis historischer Amnesie. Denn der Grund für den so genannten Erfolg Sloweniens liegt fast ausschließlich in seiner sozialistischen Vergangenheit. Nach wie vor herrscht ein vergleichsweise hohes Maß an sozialer und geschlechtlicher Gleichheit, es gibt gute öffentliche Bildungseinrichtungen, soziale Dienste und ein gutes Gesundheitssystem. .

Die Regierung von Janez Janša will aber diese Grundlagen abbauen. Wie lange wird das soziale Erbe noch Bestand haben?

In Slowenien existiert immer noch eine politische Klasse, die, obwohl sie zum Liberalismus konvertierte, die Regierung daran hindert, radikale Maßnahmen durchzusetzen. Am 17. November demonstrierten 70 000 Leute in Ljubljana für bessere Löhne und gegen die Privatisierung des Gesundheits- und Bildungssystems. Am nächs­ten Tag erklärten die Arbeitgeber, dass sie zu Verhandlungen bereit seien, von denen sie bis dahin ein halbes Jahr lang nichts hatten wissen wollen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine ähnliche Demonstration dazu geführt, dass die von der Regierung geplanten Reformen, wie Wohnungssteuer, Privatisierung von Gesundheits- und Bildungssystem, Begrenzung der Rechte der Arbeiter, nicht weiter verfolgt wurden. Janša war sogar dazu genötigt, drei Minister zu entlassen, die trotz der offiziell geänderten Maßgabe weiter an neoliberalen Reformen festhalten wollten.

Die Demonstrationen wurden von allen großen Gewerkschaften organisiert und zeigen, dass diese die wichtigste politische Kraft im Land sind. Die Gewerkschaften übernehmen Aufgaben, die über den klassischen Syndikalismus hinausreichen, weil es in Slowenien keine linke politische Partei gibt, die alternative Ideen in das politische Establishment tragen könnte.

Zu Zeiten des sozialistischen Jugoslawien hatte aber gerade Slowenien eine prominente Alternativkultur mit Gruppen wie der Neuen Slowenischen Kunst, aus der die Band Laibach hervorging. Ist von dieser dissidenten Kultur nichts übrig geblieben?

Die Wochenzeitung Mladina und Radio Student, beide zu jugoslawischen Zeiten gegründet, bestehen noch heute und sind die progressivsten Medien in diesem Land. Aber beachten Sie den Unterschied zwischen dissidenter und alternativer Kultur, der in Jugoslawien sehr wichtig war. Die dissidente Kultur war mit den großen Institutionen der nationalen Kultur, Bildungseinrichtungen, große Verlage oder Museen, verbunden. Die alternative Kultur entstand aus der Studentenbewegung der sechziger Jahre, bestand aus den neuen sozialen Bewegungen, war pazifistisch, feministisch, ökologisch, schwul-lesbisch und war gleichermaßen mit der Massen- wie mit der Subkultur verbunden. Die dissidente Kultur war von Anfang an nationalistisch und folkloristisch und produzierte Ideologie. Während die Alternativ­kultur jugoslawisch war, materialistische Theorie produzierte und Avantgardemusik spielte.

Die dissidente Kultur wurde zum Juniorpartner der politischen Machthaber. Ihr Nationalismus wurde hegemonial und führte zu den bekannten Ergebnissen. Die ehemaligen Dissidenten sind heute die Verfechter des postmortalen Antikommunismus, der nicht dazu dient, die Geschichte aufzuarbeiten, sondern jede Form von Widerstand zu blockieren, insbesondere jenen aus der Alternativkultur.

Es gibt also noch eine alternative Kultur, in der materialistische Theorie produziert wird?

Selbstverständlich. In Slowenien bildet die »Arbeiter- und Punker-Universität Metelkova« in Ljubljana ein wichtiges Zentrum für solide kritische Theorie, die materialistisch orientiert ist.

Dabei werden politische und ideologische Fragen debattiert, wie der Antifaschismus und das sozialistische Vermächtnis zu verteidigen sind, wie eine produktive Kritik am jugoslawischen Modell der Arbeiterselbstverwaltung aussehen kann oder wie die Arbeiter in ihrem Kampf für mehr Lohn zu unterstützen sind, ohne dabei die fordistische Form des Kapitalismus oder das liberale Projekt der schlanken Regierung zu verteidigen.