Aufstand der Liberalen

Zumindest derzeit muss man sich daran gewöhnen: Ein rassistischer Wahlkampf zieht nicht mehr. von jesko bender

So eindeutig das Wahlergebnis erscheint, so ratlos macht es zugleich. Eindeutigkeit suggerieren die Zahlen, weil sie deutlich machen, dass Roland Koch vor allem mit seiner rassistischen Kam­pagne kläglich gescheitert ist. Zwar liegt die CDU mit 36,8 Prozent dem amtlichen Endergebnis zufolge immer noch etwas mehr als 3 500 Stimmen und 0,1 Prozent vor der SPD. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die CDU im Vergleich zur Landtagswahl 2003 über zwölf Prozent der Stimmen einbüßen muss­te und sich damit auf ganzer Linie als Verlierer fühlen darf.

Betrachtet man die Umstände der Niederlage der Union näher, beginnt die Ratlosigkeit. Lange Zeit schien es am Sonntagabend, als hätte die SPD aus eigener Kraft die Regierungszeit Kochs beendet. Doch das Endergebnis machte deutlich: Es waren nicht die Sozialdemokraten, die Kochs bis­heriger Regierungskoalition den Garaus machten, sondern »Die Linke«. Deren Wahlergebnis von 5,1 Prozent macht es der CDU und der FDP unmöglich, in Hessen weiter zu regieren. Angesichts der unfreiwilligen Zusammen­arbeit von SPD und »Linken« konnte man Andrea Ypsilanti nur beipflichten, als sie am Wahlabend verkündete: »Die Sozialdemokratie ist wieder da!« – Auch wenn sie dies freilich nur auf die SPD bezog.

Statt der Einsicht in die politischen und programmatischen Realitäten herrschte am Wahl­abend und am Tag nach der Wahl vor allem bei der SPD das Bedürfnis nach identitärer, wenn auch strategischer Abgrenzung von den bei Bedarf auch »Kommunisten« genannten anderen Sozialdemokraten. Auf einmal sah die SPD-Linke Ypsilanti, die ihren Wahlkampf vor allem mit einer Unterschriftenkampagne für die Einführung des Mindestlohns und Plädoyers für die Abschaffung der Studiengebühren und eine Reform des Schulsystems bestritten hatte, ausgerechnet größere Gemeinsamkeiten mit der FDP als mit der Linkspartei. Die FDP schloss eine Koalition mit SPD und Grünen kategorisch aus. Jörg-Uwe Hahn, der Spitzenkandidat der FDP, erklärte, dass seine Partei »nicht das Stützrad für Rot-Grün sein« wolle.

Und weil erst einmal alle bei ihren im Wahlkampf getätigten Aussagen zu möglichen oder eben unmöglichen Koalitionen bleiben, wird die Frage der kommenden Wochen die sein: Wer fällt zuerst um? Oder andersherum: Wer schafft es, sich nicht unter Wert zu verkaufen? Denkbar scheinen im Moment zwei Alternativen. Entweder lässt sich die FDP auf eine Koalition mit der SPD und den Grünen ein, oder die SPD bildet zusammen mit der Union eine große Koalition. Die erste Möglichkeit klang in Äußerungen aus den Reihen der FDP durch. »In einem Mehrparteiensystem müssten die Liberalen in der Lage zu sein, mit allen demokratischen Parteien zu koalieren«, sagte etwa der frühere Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Burkhard Hirsch, im Gespräch mit Spiegel online.

Eine große Koalition favorisierte die CDU am Tag nach der Wahl. Generalsekretär Ronald Pofalla sprach erstaunlicherweise von einem »klaren Regierungsauftrag« für Koch, den dieser, so die Hoffnung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, »in einer großen Koalition« wahrnehmen werde. Allerdings dürfte es für die SPD einem politischen Debakel gleichkommen, sich an einer Koalition unter Roland Koch als Ministerpräsident zu beteiligen.

Die so genannte Jamaika-Koalition erscheint vor allem angesichts des Verhältnisses zwischen der hessischen CDU und dem Fraktionsvorsitzenden der hessischen Grünen, Tarek al-Wazir, ausgeschlossen. Aus der CDU kamen in der Vergangenheit mehrfach rassistische Attacken auf Al-Wazir, zuletzt im Wahlkampf, als die Union mit seinem und Ypsilantis ausländisch klingenden Namen Panik zu erzeugen versuchte: »Links-Block verhindern! Ypsilanti, al-Wazir und die Kommunis­ten stoppen!« prangte auf den Plakaten. Al-Wazir verwies auf den rassistischen Gehalt dieser Plakate, indem er fragte, ob die CDU den Slogan auch gewählt hätte, wenn Andrea Ypsilanti ihren Mädchennamen und er den Namen seiner deutschen Mutter trüge. »Würde die CDU dann plakatieren: Dill, Knirsch und die Kommunisten verhindern?« Bei einer Podiumsdiskussion verweigerte er Koch sogar den Handschlag.

Es scheint, als hätten der Wahlkampf und die Wahl in Hessen grundlegende Koordinaten verschoben, die zumindest die Linke in Deutschland als unveränderlich angesehen hatte. Bisher, so konnte man mit absoluter Gewissheit sagen, ließ sich in Deutschland noch jeder Wahlkampf mit dem Appell an das Ressentiment gewinnen, sei es das rassistische oder das antiamerikanische. Dies bewiesen die Bundestagswahl 2002 und die rot-grüne Agitation gegen die US-amerikanische Außenpolitik ebenso wie Roland Kochs Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft im Jahr 1999. Als Koch zum Jahreswechsel den Überfall auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn dazu nutzte, um gegen ausländische Jugendliche zu hetzen, schien bereits alles gelaufen zu sein. Auch wenn es als billiger Trick durchschaubar war, zweifelte doch kaum ein kritischer Mensch daran, dass Koch damit Erfolg haben würde.

Diese Nummer zieht also nicht mehr? Ja, diese Nummer zieht nicht mehr. Zumindest derzeit nicht. Wer in den vergangenen Wochen die mediale Auseinandersetzung um Kochs Kampagne verfolgt hat, wird festgestellt haben, dass dort zumeist aus einer liberalen Perspektive gegen den hessischen Ministerpräsidenten angeschrieben und angeredet wurde. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist die Zeit, die sich ansonsten nicht gerade durch Spritzigkeit und Meinungsfreudigkeit auszeichnet. Kochs Wahlkampf sei »eine Schweinerei« und seine Wiederwahl wäre eine »Katastrophe für die politische Kultur«, hieß es. Mehr noch, sein Politikstil könne eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie werden. Der verantwortliche Redakteur des Feuilletons, Jens Jessen, fragte in seinem Videoblog auf Zeit.de, »ob es nicht auch zu viele besserwisserische deutsche Rentner gibt, die den Ausländern hier das Leben zur Hölle machen, und vielen anderen Deutschen auch«.

Aber auch die Süddeutsche Zeitung, Spiegel online und selbstverständlich die Frankfurter Rundschau kritisierten unablässig Kochs Kampagne. Am Sonntag vor der Wahl wartete sogar die Frankfurter Allgmeine Sonntagszeitung mit einem ganzseitigen Artikel über eine türkische Deutschlehrerin auf. Darin hieß es: »Wir brauchen keine Debatten über kriminelle Ausländer, sondern Menschen wie die Deutschlehrerin Nurgül Altuntas, die mit Optimismus und Strenge Einwanderer-Kindern die Chance für ein gutes Leben gibt.«

Das Ganze erinnert ein bisschen an den »Aufstand der Anständigen« im Sommer 2000, als sich entgegen aller vermeintlichen Gewissheiten auf einmal Bundesregierung, Justiz, Wirtschaft, Medien und Teile der Bevölkerung als bessere Antifa in Szene setzten. Vergessen war Gerhard Schröders Ausspruch, der auch von Koch hätte stammen können: »Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell!« Der Antifa-Sommer war bekanntlich schnell vorbei.