Siebzehn Jahr, kein blondes Haar

Udo Jürgens, Judith Butler und die Debatte um das Schimpfwort »Scheißdeutscher«. Von Tom Holert

Ach, der fehlte noch. Udo Jürgens, anerkannter Experte für Jugendgewalt, Migration und Strafvollzug, bat Bild zur Audienz. »Einfach ich« heißt das neue Album des 74jährigen Sängers mit österreichisch-schweizerischem Doppelpass. Im Rahmen einer Pressekonferenz im Adagio am Potsdamer Platz, laut Eigenwerbung »Berlins schönster Club«, verdeutlichte der »Hit-Gigant« (Bild) am 15. Januar dieses Jahres, was er zu den laufenden Debatten beizutragen hat. Aus Gründen des Timings wartete Bild noch ein paar Tage ab und hievte Jürgens’ Äußerungen (»Kriminelle Ausländer haben hier nichts zu suchen«) schließlich als brisante Wochenendlektüre auf Seite eins der Samstagsausgabe vom 19. Januar.

»Udo Jürgens – Der große Star ist besorgt über kriminelle Ausländer«, unter diesem Titel stand am gleichen Tag auf der Homepage des Springerblatts auch ein durchaus bizarrer Clip zum Down­load bereit. Als handelte es sich um einen arabischen Potentaten oder um Nicolas Sarkozy im Elysee-Palast, sieht man das einfache Ich des Sängers in einem pseudobarocken, vergoldeten Thronsessel des Adagio-VIP-Bereichs versinken. Von dort sagt er: »Eine Gesellschaft muss schon in der Lage sein, sich gegen solche unglaublichen Schweinereien massiv zu wehren.« Oder: »Das ›Scheißdeutscher‹ ist für mich fast der noch schlimmere Satz als die Handlung der Gewalt.«

Damit dokumentierte Jürgens nicht nur ungeahnte Formulierungskünste und seine Unterstützung für den populistischen Debatten-Kurs, auf dem sich Bild, FAZ, CDU-Wahlkämpfer Roland Koch, der SPD-Bezirksbürgermeister von Neukölln oder die CSU in Bayern bewegen, sondern auch interessante politologische, sprachphilosophische und handlungstheoretische Neigungen. Unter »Gesellschaft« fasste der singende Ideologe keine soziologische Kategorie, sondern unzweifelhaft die Nation als Volksgemeinschaft, die sich durch ihre Wehrhaftigkeit gegenüber dem Fremden auszeichnet. Natürlich bezieht er sich auf den brutalen Angriff, der am 20. Dezember im Zwischengeschoss einer Münchner U‑Bahn-Haltestelle von zwei jungen Männern (in der Berichterstattung stets beflissen mit »Migrationshintergrund« ausgerüstet) auf einen 76jährigen ehemaligen Realschul­direktor (von den Medien obsessiv auf einen »Rentner« reduziert) verübt wurde. In dieser Angelegenheit teilte Jürgens mit, dass verbale Gewalt, die sich in abwertender Absicht gegen die ­Nationalität eines anderen richtet, auf der Skala des Schlimmen höher ­rangiere als die körper­liche Tat.

Einerseits gründet sich diese Einschätzung offenbar auf der angeblichen Beleidigung eben jener nationalen »Gesellschaft«, die durch die Schmähung des Einzelnen in ihrer Gesamtheit getroffen sei und sich nun endlich – als Mehrheit, die sie ist – wehren müsse. Andererseits könnte man bei dieser differenzierenden Behandlung von körperlicher und verbaler Gewalt fast den Eindruck gewinnen, hier habe jemand bei Judith Butler, Elaine Scarry oder Shoshana Felman nachgeschlagen. Im Zusammenhang der Diskussionen um hate speech, also drohender, herabwürdigender, »verletzender« Rede, haben diese und andere Autorinnen in den neunziger Jahren über das Verhältnis von Sprache und Körper nachgedacht, das heißt: über die Art und Weise, wie beides »in inkongruenter Weise aufeinander bezogen ist«. In »Hass spricht. Zur Politik des Performativen« (1997) stellt Butler fest, dass die körper­liche Handlung, die jedes Sprechen auch sei, wie der blinde Fleck des Ge­­sag­ten funktioniere. Es gebe eine körperliche Weise des Sagens, die nicht im Sagen aufgeht, sondern dieses permanent überschreitet. Der Paradefall einer solchen Sprach-Tat ereignet sich auf der »Szene der Benennung«. Butler schreibt: »Einige Personen richten ihr Sprechen an andere und entleihen, verschmelzen und prägen einen Namen, den sie von einer verfügbaren sprachlichen Konvention ableiten, wobei sie diese Ableitung im Akt der Benennung zur passenden oder ›geeigneten‹ erklären.« Die Pointe dieser sprechakttheoretischen Argumentation, auch und gerade in Hinblick auf die Benennung »Scheißdeutscher«, liegt nun darin, dass »die Möglichkeit, andere zu benennen, erfordert, dass man selbst bereits benannt worden ist«.

Derartige Benennungen sind im Falle der beiden Täter, so ist zu vermuten, vielfältig. Ein gewisses Gespür für diese Reziprozität zeigt ein – inzwischen bereits unfreiwillig kultiger, weil sowohl ungelenk inszenierter als auch gegen die herrschende Opfer-Optik gerichteter – Kommentar des Zeit-Feuilletonchefs Jens Jessen in dessen Video-Blog vom 11. Januar.

Jessen verortet die kriminellen Handlungen junger Migranten, offenbar weil er debatten­strategisch aus der Reihe tanzen will, nicht in ihrer ethnischen, religiösen oder genetischen Identität, sondern in der Mentalität des deutschen Rentner-Spießers. Damit kehrt er die Täter/Opfer-Relationen, wie sie vom Bild/Koch-Main­stream gefeatured werden, um. Die Aufforderung des ehemaligen Lehrers an die beiden jungen Männer, das Rauchen in der U-Bahn einzustellen, die einer der Auslöser des späteren Übergriffs gewesen sein soll, steht Jessen zufolge in »einer Kette einer unendlichen Masse von Gängelungen, blöden Ermahnungen, Anquatschungen«, die »der Ausländer, nament­lich der jugendliche, hier ständig zu erleiden hat«.

Trotz der dünkelhaften Fixierung auf die Figur des »Spießers« besaß diese Inversion einen durchaus rassismuskritischen Kern. Sie entsprach überdies der Struk­tur der Benennung oder Anrufung, wie sie Butler in ihrem Essay über hate speech herausarbeitet. Die Subjekte stehen nach Butler grundsätzlich in einem »Verhältnis des Anredens und des Angeredet-Werdens zueinander«. Sprachliche Haltung und Verletzbarkeit seien den sozialen Verhältnissen nicht äußerlich, sondern gehörten vielmehr zu deren ursprünglichen Formen. Eine Anrufung wie »Scheißdeutscher« soll gar nichts beschreiben, es geht nicht um deren »Inhalt«. »Ihre Absicht«, so Butler, »ist vielmehr, ein Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen und einzusetzen sowie seine gesellschaftlichen Umrisse in Raum und Zeit hervorzubringen.«

Dieses Zeigen der Unterwerfung setzt eine Position und eine Benennung des sprechhandelnden Subjekts voraus. Aber weder die anredende noch die angeredete Person kann als Urheber des Diskurses gelten, den sie aufführen. »Scheißdeutscher« als Umkehrung etwa von »Scheißtürke« ist der Effekt einer letztlich ortlosen Macht, die sich eben unter anderem darin äußert, Namen zu verteilen. Dieses Verteilen von Namen wiederum ist symptomatisch für eine ideologische Ordnung, in der, wie Mark Terkessidis in »Die Banalität des Rassismus« (2004) formuliert, nicht mehr über den Zustand der Gesellschaft gesprochen wird, sondern nur mehr über die (zumeist männlich kategorisierten) Menschen, die darin leben, wie »Türke«, »Deutscher«, »Hartz-IV-Empfänger«, »Migrant«, »Top-Manager«.

Die Zwanghaftigkeit, mit welcher der Begriff »Scheißdeutscher« in den Tagen und Wochen nach seinem erstmaligen Auftauchen in den Medien aufgeschrieben, abgedruckt und aus­gesprochen wurde, lässt zudem auf einen perversen Genuss am Trauma der nationalen Erniedrigung durch diesen »Satz« (Udo Jürgens) rückschließen. Indem man sich als »Gesellschaft« (Udo Jürgens) dieser Bezeichnung durch die in vieler Hinsicht als nicht-integriert oder nicht integrierbar geltenden Subjekte erinnert und damit vergewissert, versichert man sich auch der jederzeit möglichen Umkehrbarkeit dieser Unterwerfung durch Sprache und körperliche Handlung. Mehr noch, die Möglichkeit der demonstrativ ausagierten Überlegenheit im Überspringen der blanken Umkehrung zeichnet sich ab: als Überlegenheit einer gesellschaftlichen Ordnung über das Verhalten Einzelner im vermeint­lichen Durchbrechen der Logik eines wechselseitigen Anredens und Angeredetwerdens.

Weil Udo Jürgens keinesfalls als ausländerfeindlich oder sonstwie intolerant dastehen will, erwähnt er (im abgedruckten Teil des Interviews auf »Bild.de«) seine »türkischen Freunde«; außerdem wünscht er sich, dass Barack Obama die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen möge. Jedoch, weggesperrt werden sollten jugendliche Kriminelle schon, obwohl er den Begriff »Erziehungscamp« nicht so mag. Und wenn es sich um »Ausländer« handelt, müsse man sie auch loswerden können. Denn das »Land« sei wie eine »Wohnung«. Wer dort randaliere, werde eben rausgeworfen.

Im Video-Clip geht in diesem Moment ein kleiner Ruck durch den Körper des Entertainers. Aus den Tiefen der Polsterung seines grotesken Throns reckt er sich dem unsichtbaren Interviewer vom Massenblatt entgegen, das Mikro mit dem »Bild.de«-Schaumstoff-Mützchen fest umklammernd, und raunt: »Wir könnten das in der Türkei oder in Ägypten, wenn wir so ’ne Aktion setzen würden, da würden wir nicht nur des Landes verwiesen, sondern wir würden da in einem Gefängnis sitzen, aber wie – das kann man sich gar nicht vorstellen.« Die vormodernen, drakonischen Bestrafungen in Nicht-EU-Gesellschaften, die entsprechende deutsche Übeltäter nicht nur postwendend ausweisen, sondern in einer erstaunlichen Simultaneität zugleich einkerkern würden, lassen die eigenen rechtsstaatlichen Verhältnisse lax und milde erscheinen. Interessant an dieser Vorstellung ist, dass sie in mindestens zwei Richtungen instrumentalisiert werden kann: So lässt sich aus ihr die Forderung nach strengerer Bestrafung ebenso ableiten wie die Überzeugung, in einer im Vergleich zu den orientalisierten Beispielländern fortschrittlichen Rechtsordnung zu leben.

Da Udo Jürgens mit der »Aktion« ja vor allem den von Ausländern verübten Sprech-Akt »Scheißdeutscher« meint – in instinktiver Anerkennung von dessen symbolpolitischen und ideologischen Funktionen im Verein mit den Videobildern der Überwachungskamera in der Münchner U-Bahn –, sei an einen seiner größten Hits erinnert: »Griechischer Wein« von 1975. Zwei Jahre nach dem bundesdeutschen Anwerbe­stopp für Arbeitsmigrant/innen veröffentlicht, romantisiert der Text dieses Schlagers die Entwurzelung des männlichen Gastarbeiters: »Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar,/und aus der Jukebox erklang Musik, die fremd und südlich war./Als man mich sah, stand einer auf und lud mich ein.« Welche Identität das lyrische Ich hier haben soll, lässt Jürgens weitgehend im Unklaren. Ist es selbst einer der Männer mit braunen Augen und schwarzem Haar? Oder bloß ein Besucher ihrer Welt? So oder so richtet sich sein Blick fasziniert auf die Szenerie des Fremden, das womöglich das Eigene ist: »Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde. / Komm’, schenk dir ein, und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, / dass ich immer träume von daheim; du musst verzeih’n. / Griechischer Wein, und die altvertrauten Lieder. / Schenk’ nochmal ein! Denn ich fühl’ die Sehnsucht wieder; / in dieser Stadt werd’ ich immer nur ein Fremder sein, und allein.«

Die Einsamkeit des griechischen Gastarbeiters wird hier zu einem phantasmatischen Raum. Allein und fremd in der Stadt bleibt nur die Flucht in die Nostalgie und in Mythen der mediterranen Scholle. Diese ethnisierende Verklärung bildete immer die Kehrseite der realen sozialen Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten. Sich einzufühlen in die traurigen Träume von der verlassenen Heimat, war im bundesdeutschen Schlager zudem eine effektive Methode, touristische Seelenreisen zu unternehmen. Das archaische Blut der Erde beförderte das westdeutsche Hitparadenpublikum in diesem Sommer 1975 in einen Zustand rausch­hafter Teilnahme am Schicksal der exotischen Fremden, deren Anwesenheit politisch schon gar nicht mehr gewollt war. Gefragt war allenfalls die Vitalität und Emotionalität der fremden Männer, ihre psychologisch und sexuell vielversprechende Kultur. Diese konnte von allen konkreten politischen und materiellen Ansprüchen der Migranten abstrahiert und konsumiert werden. Heute, über 30 Jahre später, ist von dieser frühen Multikulti-Empathie nur noch wenig zu spüren. Die Män­ner mit braunen Augen und schwarzem Haar übernehmen im nationalen Affekthaushalt inzwischen andere Rollen. Entweder sie werden als musterhafte Vertreter einer Repräsentationskultur der gelingenden Integration gehätschelt wie Fatih Akin; oder sie avancieren zu schemenhaften Chiffren der Gewalt auf Überwachungskamerabildern und auf Fahndungsfotos.

So wie im 19. Jahrhundert die »gefährlichen Klassen« zur Bedrohung des Volkskörpers erklärt wurden, sind es jetzt die gefährlichen jungen Männer mit Migrationshintergrund und islamischen Glaubens, die einen zunehmend pathologischen öffentlichen Raum bevölkern. Die Kommentatoren warnen, diese Individuen, die ja keine »Klasse« mehr bilden (dürfen), betrachte­ten einen Staat wie die Bundesrepublik Deutsch­land egoistisch als »Beutegesellschaft«. Bei all den ordnungs- und einwanderungspolitischen Versäumnissen der vergangenen Jahrzehnte dürfe man sich nicht wundern über die Eskalation der Gewalt auf den Straßen der »Brennpunkt«-Viertel und in den Angsträumen des öffentlichen Verkehrssystems. Dass die Überwachungstechnologie in diesen Räumen vor allem dazu dient, Snuff-Videos für die Ideologiemaschine zu produzieren, geht angesichts der alarmistischen Rhetorik gern einmal unter.

Ähnlich voyeuristische Aspekte wie die Prügel-Pornos der Sicherheitsdispositive hat das Spektakel der so genannten Rapper-Kriege. Die Schießereien in Berlin-Neukölln, die Inszenierung von Gangsta-Lifestyles im Umfeld von Massiv, Bushido oder Bözemann sowie die damit einhergehende Über-Erfüllung des Bildes des kriminellen »Prototyp-Kanacken« (Massiv) aktualisieren und radikalisieren ungewollt jene vitalistischen Entwürfe migrantischer Subjektivität, wie sie von Udo Jürgens und anderen in den siebziger Jahren präsentiert worden sind.

Heute sagt der »Hit-Gigant« Jürgens, sichtlich gekränkt ob der Beschädigung seiner Phantasie vom sexy-melancholischen Migranten: »Menschen, die sich so benehmen und solche Dinge, solche Akzente setzen, müssen auch wissen, dass eine Gesellschaft sich wehrt.« Ja, wer solche »Akzente« setzt und sich damit allen Wunschbildern entzieht, ist eine Enttäuschung und eine nützliche Gefahr zugleich, weil sie Gegenkräfte mobilisiert. Die Intensivtäter, je jünger und je weniger »deutsch« sie sind, erleichtern es, die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft wieder einmal dahingehend zu modifizieren, dass sie sich lesen wie Kranken- und Polizeiberichte. Die Karriere des Begriffs »kriminogen« (zu Verbrechen führend, sie hervorrufend) im gesamten politischen Spektrum deutet bereits an, worauf die sozialtechnologischen Regulierungen künftig zielen sollen: auf die Ersetzung von Politik durch Polizei und Justiz. Dabei ist es letztlich gleichgültig, ob Roland Koch oder Udo Jürgens sich mit ihren Auffassungen durchsetzen oder nicht. Denn so viel haben sie mit ihren Einlassungen schon jetzt erreicht: Die Chancen, mit der politischen Kritik der Verhältnisse statt mit der Ethnisierung, Kriminalisierung und Individualisierung des Sozialen öffentlich Gehör zu finden, haben sich weiter verschlechtert.

Hier kann man sich Udo Jürgens’ Interview ansehen: www.bild.t-online.de/BILD/news/vermischtes/2008/01/19/juergens-udo/gewa….

Hier gibt’s die Gegenposition von Jens Jessen: www.zeit.de/video/­player?videoID=20080111713707