Born in the GDR

Ganz Deutschland diskutiert aufgeregt über 1968. Ganz Deutschland? Nein. In der östlichen Hälfte hat dieses Jahr gar nicht stattgefunden. von rayk wieland

1968 war ich drei Jahre alt und ein passionierter Dreiradfahrer in der DDR-Provinz, und was ich über diese Zeit weiß, ist nicht viel mehr, als dass ein Text mit diesem Anfang vor 68 kaum möglich gewesen wäre, und selbst das stimmt nicht. Der egozentrierte Tunnelblick der Beatliteratur wurde schon in den fünfziger Jahren in den USA populär, wie eigentlich alle relevanten Protestgesten der so genannten Achtundsechziger eklektische Übernahmen früherer Epochen sind. Praktischer Dilettantismus, bekennender Dilettantismus, die x-te Wiederentdeckung der radikalen Subjektivität. Ein von heute aus schwer zu entknäuelndes Gewirr von Mythologien der Renitenz und der Regression. Hobbythek einer Synthese von Marxismus, Psychoanalyse, Anarchismus, Feminismus, Hedonismus und spirituellem Dingsbums. Was davon in anfänglich homöopathischen Dosen und Stille-Post-mäßig entstellt in die DDR diffundierte, das waren Nebeneffekte in einem Parallelkontext oder, sagen wir, Nebeleffekte und natürlich die langen Haare, langen Bärte und langen Gitarrensoli.

Hinterher ist man immer dümmer, und das Gerede über die DDR eignet sich besonders dazu, weil sie sich a) nicht mehr wehren kann und es b) mit Mauer, Mangelbürokratie und Marxismus von der Stange Zeit ihrer Existenz wahrlich darauf angelegt hat, noch den albernsten Platitüden mit realexistierenden Anekdoten zu dienen. Ich rede von einem Staat, in dem es noch nicht mal – Gott sei’s geklagt, Gott sei’s gedankt, je nachdem – so etwas wie Studentenrevolten gab. Für eine Hochschulreform, andere Prüfungsordnungen, Lehrinhalte etc. zu demonstrieren, zu streiken zu sit-in-zu-sitzen, wäre einem Studenten in der DDR niemals auch nur annähernd plausibel erschienen, und die Universitäten hier waren akkurater verschult als die im Westen. In den sechziger Jahren konnte man in der DDR durchaus noch für den zu laut erzählten Witz ins Gefängnis kommen. Auf Parteiversammlungen wurden Genossen, die sich scheiden oder nicht scheiden lassen wollten, zur Rede gestellt. Wer die falsche Musik hörte, auf die prekäre Fußnote verwies, zu früh den frühen Marx ins Spiel brachte, hatte Glück, wenn er sich anschließend in der Produktion bewähren durfte.

Nahezu alle Interventionen der Achtundsechzi­ger waren in der DDR tabuisiert oder ungültig oder irgendwie paradox-unhandlich. Gegen den Vietnam-Krieg – war man selber. Die Springerpresse – hätte man gern auch mal gelesen. Notstands­gesetze – waren umgekehrt reziprok Geschäftsgrundlage der DDR-Gesellschaft. Kommunen – da war der Bedarf gedeckt. Drogen – da war der Bedarf nicht zu decken. Frankfurter Schule, Feminis­mus – Schweigen im Walde. Stadtguerilla – linksradikaler Kinderkram. Antiautoritäre Erziehung – das hätte gerade noch gefehlt. Was blieb, waren wirklich nur Frisur, Musik und Mode, die als In­sig­­nien eines infantilen Blümchen-Anarchismus nach und nach in den Osten schwappten und lappten.

Die offizielle DDR begegnete den Achtundsechzi­gern mit der Herablassung, die ihr als Angehörige der Spitzengruppe der gesellschaftlichen Entwick­lung zuwuchs. Fortschritt, Frieden, Sozialismus, Revolution – man hatte das alles bereits erledigt und andere Sorgen. Gönnerhaft unterstützte man den SDS, die Friedenskomitees und die Anti-Sprin­ger-Aktionen, gab sogar Geld, lieferte Dokumente und Informationen. Benno Ohnesorgs Tod enthüllte auch für die DDR den »menschenfeindlichen und faschistischen Charakter des kapitalistischen Systems« und passte der Propaganda per­fekt ins Konzept. Die Solidarität hielt sich in Gren­zen, schließlich waren es nur Intellektuelle, Schrift­steller und Studenten, die aufbegehrten, vollkom­men abgeschnürt von den eigentlich revolutionä­ren Kräften, den Arbeitern und Bauern, ganz zu schweigen von der nicht gerade führenden Rolle der sowieso nicht vorhandenen Partei. Das stand so nicht im Lehrbuch, und deshalb war es auch prinzipiell falsch, objektiv unwissenschaftlich und im Grunde konterrevolutionär, was da geschah.

Intern regierten wie immer Schiss, Misstrauen und hölzerne Dogmatik. Die Frische, der Elan und die Attraktivität, der weltweite Schwung der Acht­undsechziger-Bewegung ließen die DDR so alt und eng und grau und verklemmt aussehen, wie sie ja leider in elf von zehn Fällen auch war. Die Acht­undsechziger mögen eine amorphe und diffuse Theoriekohorte gewesen sein, das ganze Spektrum ihrer kritischen Potenz stellte aber die Hierar­chien der Gesellschaft viel radikaler in Frage, als es die diversen kommunistischen und arbeiterbe­weglichen Ansätze je gewagt hatten. Die bürgerlichen Vorstellungen von Disziplin und Autorität, Ruhe und Ordnung, Sexualität und Familie, Freiheit und Bewusstsein, die in den Jahren 68 ff. im Westen pulverisiert wurden, waren in der DDR, zum Teil mit veränderten politischen Bewertungen, bis zum Schluss sakrosankt und starr verschraubt – ein Etepetete-Sozialismus mit dem Muff und der Paranoia eines Kaffs, das sich als Staat verkleidet hatte.

Dabei war das so genannte Private in der DDR von Anfang an politisch, d.h. jederzeit nach Bedarf politisierbar. Die Kinder landeten frühzeitig in Einrichtungen, in denen sie nicht unbedingt individuell gefördert, aber durchaus mit Herz und Liebe gedeckelt wurden. Um die Familien kümmerten sich Brigaden, Parteigruppen und Hausgemeinschaften. Ein Mensch ohne intakte Ehe, ohne Beruf und moralisch-konformen Alltagsverlauf galt in der DDR jener Jahre als »asozial«, und das war nicht nur strafbar, sondern wurde auch verfolgt.

Sicher, die Partei hatte wenig Spielraum. Mit dem Mauerbau 1961 waren weitere Gefängnisse innerhalb des Landes praktisch überflüssig geworden, und tatsächlich gab es in den ersten Jahren danach leichte Lockerungsübungen und Anzeichen von Vitalität: Das »Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft«, neue Lyrik, neue Filme und neue Mokkamilchbars sorgten für neuen Fun und Realismus im Realsozialismus. In einigen Kleinstädten kam es sogar zu fast echten Krawallen mit Halbstarken. Die nahm der Sicherheitsapparat zum Anlass, Engstirnigkeit zu demonstrieren. Auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 gewann das grobe Klassenfeindschema wieder Oberhand, und alles, was nicht einwandfrei spurlinientreu war, war plötzlich verboten: Wolf Biermann, Beat-Musik, Niethosen. Leute wurden von der Straße geholt und zwangsrasiert, Schüler in Jeans zum Umziehen nach Hause geschickt, und nach knapp zweieinhalb Jahrzehnten Zähneklappern und Rundum-Bespitzelung der eigenen Bevölkerung klappte die DDR dann wie ein falsch montiertes Chemieklo aus Versehen zusammen.

Natürlich ließen sich die Restriktionen nicht permanent aufrechterhalten. Zwei Drittel der DDR-Bevölkerung waren Kombattanten ihrer Westverwandtschaft. Rockmusik und Jeans wurden in Folge dieser stur albanischen Verbotsorgie auf eine unerhörte Weise fetischisiert, und man muss nur einmal Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« (1972) lesen, um die quasi religiöse Erleuchtung zu ermessen, welche die heilsbringende Kraft der Jeans bei ihren glücklichen ostdeutschen Besitzern erzeugte. Verblödung durch Verzückung, mag sein, ist nichts DDR-Spezifisches, aber das Fatale war, dass die Ostdeutschen von der Achtundsechziger-Revolte nur die völlig subalternen Accessoires übernahmen und ansonsten weiterhin versuchten, ihren Staat mittels Opportunismus auszutricksen.

Es wird gern darauf verwiesen, dass die DDR ihr eigenes, ganz anderes, traumatisches 68 hatte, nämlich im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die CSSR, welcher alle Hoffnungen auf einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« stornierte, bis Gorbatschow kam, der erst 20 Jahre später zeigen konnte, was damit gemeint war. Die zeitliche Parallelität aber besagt nicht so viel, denn die Panzer in Prag vertrieben keine Haschrebellen aus dem Stadtpark, sondern richteten sich gegen die kommunistische Opposition, die sich vorwiegend innerhalb der Partei gebildet hatte. In der DDR betraf das ein paar hundert Leute, darunter die Jugendlichen Florian Havemann und Thomas Brasch, die nach ihrem harmlosen, schülerhaften Protest gegen den Einmarsch ins Gefängnis kamen. Von Brasch stammt auch einer der wenigen, marginalen Versuche, die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration zu forcieren (»Vor den Vätern sterben die Söhne«, 1977), allerdings bezog er sich auf seinen Vater, einen jüdischen Antifaschisten. Die Generation der normalen Nazi-Mitläufer und -macher genoss auch in der DDR einen geruhsamen Lebensfeierabend und hatte von ihren Söhnen und Töchtern nicht die geringsten Vorhaltungen zu erdulden.

Um es kurz zu sagen: 1968 gab es in der DDR nicht. Dass es im Kalender steht, besagt wenig, denn nach Egon Fridell gibt es ganze Jahrhunderte, die im Kalender vermerkt sind, ohne dass es sie tatsächlich gegeben hätte. Wer will, kann das, was dann 1989 passierte, als eine späte Quittung dieses Nicht-68 verstehen, denn 89 – man muss die Zahl nur auf den Kopf stellen – war ja nichts anderes als ein verballhorntes, umgedrehtes, von links nach rechts gewendetes 68. Kurz vor dem Ende der DDR bei einem Konzert von Bruce Spring­steen sangen jedenfalls 250 000 geborene DDR-Bürger aus voller Kehle mit: »Born in the USA2.«