Bühne frei für den Katastrophentouristen!

Das Berliner Ensemble will in Teheran das Stück »Mutter Courage und ihre Kinder« von Bertolt Brecht ­aufführen. tjark kunstreich beschreibt die Botschafter deutschen Kulturschaffens und ihren Fundamentalismus der Gegenaufklärung

Vorhang auf in Teheran! »Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ! / Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. / Und was noch nicht gestorben ist / Das macht sich auf die Socken nun.« An drei Abenden der kommenden Woche wird Mutter Courage ihren Karren über die Bühne der Vahdat-Halle ziehen, die mit 1 200 Plätzen eines der größten Aufführungshäuser Teherans ist. Das Berliner Ensemble ist zu Gast beim Fadjr-Theaterfestival, einer jährlichen Veranstaltung mit internationalem Renommee. Ausgerechnet »Mutter Courage« – Claus Peymann, der Intendant des Theaters, hat sich etwas dabei gedacht, das zwei­felhafteste von Brechts Stücken in diesem Jahr in Teheran auf die Bühne zu bringen. Bei der Vorstellung der Spielzeit 2007/08 behauptete er, er wisse, dass sein Vorhaben von der Bundes­regierung nicht gewünscht werde. »Man sollte Teheran besuchen, bevor es zerbombt ist«, fügte Peymann hinzu. Das Stück, das Bertolt Brecht kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb, soll geschichts- und pu­bli­city­trächtig kurz vor Ausbruch des von dem Theatermacher prophezeiten Kriegs zur Aufführung kommen.

Brecht formulierte vor dem Beginn des deutschen Vernichtungskriegs die Botschaft, dass es im Krieg nur um Geld gehe und die einfachen Leute die Betrogenen seien. Deswegen wurde das Stück vom Publikum bei der Uraufführung 1939 in Zürich als Mutterhymnus und Feier des Überlebenswillens dieser einfachen Leute verstanden. Brecht sah sich gezwungen, nach 1945 einen Kommentar und einige Änderungen hinzuzufügen, die aber nach dem deutschen Vernichtungskrieg erst recht die ursprünglich falsche Botschaft noch verstärkten. »Solange die Masse das Objekt der Politik ist, kann sie, was mit ihr geschieht, nicht als einen Versuch, sondern nur als ihr Schicksal ansehen«, schreibt Brecht, »sie lernt so wenig aus der Katastrophe, wie das Versuchskarnickel über Biologie lernt.« Im nationalsozialistischen Deutschland war die Masse nicht einfach das Objekt der Politik – das wusste auch Brecht. War es ihm 1939 darum gegangen, ganz im Sinne der Linie der kom­munistischen Parteien, den kommenden Krieg als die Eskalation innerimperialistischer Widersprüche zu begreifen, in dem man nicht Partei ergreifen sollte, entlastete er nach 1945 »die Masse«, in diesem Falle die deutsche, die die Katastrophe, in der der Vernichtungskrieg endete, ja nur allzu gern als ihr Schicksal begreifen woll­te.

Das Lob des Zynismus der kleinen Leute kam in der Gründerzeit der DDR gut an, lieferte es doch künstlerisch die Rechtfertigung dafür, die Frage nach dem Mitmachen nicht zu stellen: Man hatte nämlich keine Wahl, so wie Mutter Courage im Stück. Kein Zweifel, die Botschaft vom Krieg als Schicksal wird in Teheran so gut ankommen wie in Berlin. Dass Peymann Tehe­ran, das er schon 2002 mit seiner Inszenierung von Shakespeares »Richard II.« heimsuchte, noch einmal besuchen will, bevor es »zerbombt ist«, weist ihn als Katastrophentouristen vom Schlage der Mutter Courage aus, die der Armee hinterherzieht, um Geschäfte zu machen. Von der Marketenderin unterscheidet sich der Intendant aber dadurch, dass die Geschäfte, die er macht, ideologischer Natur sind. Die Behauptung, im Krieg gehe es nur um Profit, lenkt zudem davon ab, warum unter Umständen ein Krieg unvermeidbar werden könnte, indem sie alle Gründe, die in der Sache selbst liegen, zu Vorwänden für das Eigentliche, nämlich die pekuniären Interessen, macht. Das funktioniert bekanntlich nach diesem Schema: Die iranische Führung droht mit der Vernichtung Israels – den USA geht es nur um das Erdöl des Landes; der Iran bastelt an einer Atombombe – den USA geht es um die Kontrolle der Straße von Hormus; islamfaschistische Rackets terrorisieren Frauen – den USA geht es um die Vormachtstellung in der Region. Am Ende steht also immer der Profit.

Peymann behauptet zwar, sein Besuch in Teheran sei seitens der Bundesregierung unerwünscht. Diese Behauptung erspart ihm jedoch, darauf einzugehen, was im Iran geschieht und welche Haltung er dazu einzunehmen gedenkt. Selbstverständlich hat die Bundes­regierung nichts gegen die Reise des Berliner Ensembles, der Kulturaustausch ist von den Sanktionen ausgenommen – jenen Sanktionen, mit deren Einhaltung es die Bundesregierung ohnehin nicht sehr genau nimmt. Aber es ist dieser Hauch von Subver­sion, ohne den Peymann und mit ihm andere, die dem iranischen Publikum deutsche Kul­tur nahebringen wollen, nicht auskommen können. Zugleich empfinden diese Botschafter der Kultur es ebenfalls als subversiv, im Iran aufzutreten. Zum Regime, das von ihren Auftrit­ten pro­fitiert, pflegen sie ein Verhältnis der ent­politisier­ten Distanz, als gingen sie die Verbrechen der Mul­­lahs nichts an – die kleinen Leute müssen eben, bevor sie zerbombt werden, wenigstens noch in den Genuss eines Brecht-Stücks kommen.

Der Schleier des Respekts vor dem »Anderen«, den sich die beteiligten Schauspielerinnen stellvertretend für die Nation überziehen, lässt, weil die Augen frei bleiben, noch ein Augenzwinkern zu; eine postmoderne Ironie, die sich nicht entscheiden will, wie ernst sie es meint. »Mutter Courage« in Teheran ist deswegen ungeheuer pragmatisch: Einige Bemerkungen sind zwar sehr anzüglich, aber von der Sorte, wie sie im Iran noch zugelassen wird; doch alle Frauen tra­gen schon ein Kopftuch und kommen reichlich verhüllt daher, so dass kaum eine Veränderung der Inszenierung nötig ist. Um außerhalb des Aufführungsraums keine Probleme zu bekommen, können die Schauspielerinnen ihre Kostüme der Einfachheit halber anbehalten.

Dass das Berliner Ensemble ein großes Herz für Juden hat – für tote Juden, wie einschränkend gesagt werden muss –, ist bekannt: Die Dramatisierung des Tagebuchs der Anne Frank steht auf dem Spielplan, und kaum eine deutsche Gedenkbetriebsnudel ist noch nicht in dem Theater aufgetreten. Die Drohung des Iran, Israel zu vernichten, befördert jedoch nicht die Solidarität mit den Bedrohten, sondern die Hinwendung zu denen, die einen weiteren Massenmord vorbereiten. Das war in Deutschland noch nie ein Widerspruch, und im Hinblick auf die abnehmende Konjunktur des Gedenkens ist es folgerichtig, dabei mitzuhelfen, dass es wieder tote Juden und erneute deutsche Schuld gibt. Dass Peymann lieber nach Teheran fährt als nach Tel Aviv, bevor es zerbombt wird, ist aber nicht nur eine erinnerungsökonomische Notwendigkeit, es ist auch die biografische Konsequenz eines Unverbesserlichen. So wie große Teile der Linken in den siebziger Jahren die scheuß­lichsten Massenmörder unterstützten, sofern diese nur gegen Amerika waren (und sie sich darin eben nicht von ihrem Hauptfeind unterschieden, der ebenfalls jeden Massenmörder unterstützte, solange er irgendwie für Amerika war), gerierte sich Peymann auch damals schon als beständiger Fundamentaloppositioneller zum Bestehenden und war doch nichts anderes als einer der frühen Protagonisten der deutschen Restauration der Jahre seit 1989.

Im Jahre 2002 spekulierte er im »Philosophischen Quartett« des ZDF darüber, dass es doch ­einen »wahrhaftigen Grund« geben müsse, »dass alle Welt die Amis hasst«. Wie könnten die Deut­schen »Vasallen eines neuen Roms sein, das Dres­den und jetzt auch Afghanistan platt gemacht hat und uns derzeit an den Rande eines Vierten Weltkriegs bringt, nachdem es den Dritten als Kalten mit den Kommunisten ausgetragen hat«, fragte er sich. Auch damals war er schon sicher: »Mit Bush und Sharon ist die Finsternis gekommen.« Dass niemandem auffällt, wie ähn­lich die Sprache Peymanns der Horst Mahlers ist, mutet schon erstaunlich an; aber wer von allen und vor allem von sich selbst für den größ­ten Theatermann im deutschsprachigen Raum gehalten wird, der darf es sich offenbar leisten, zu reden wie ein Neonazi. Und so nimmt es wenig wunder, dass mit dem iranischen Präsidenten dem Intendanten eine Lichtgestalt erschienen ist, um die Finsternis zurückzudrängen.

Das Problem, welchem sich jede Kritik zu stellen hat, ist also nicht, dass hier die Kunst vereinnahmt wird, sondern dass alles so gut zusammenpasst. Die Unschuld des Kunstgenusses, mit dem die Botschafter deutschen Kulturschaffens ihre Reisen legitimieren, harmoniert aufs Beste mit der Kultur öffentlicher Hinrichtungen. Denn nur dann ist der Kunstgenuss wahrlich unschuldig, wenn er den Verhältnissen scheinbar diametral entgegen und in einem unüberbrückbaren Widerspruch zur grässlichen Wirklichkeit steht – davon lebt die Faszination für die Kunst in totalitären Verhältnissen. Dass Kunst im Iran, im Gegensatz zum Westen, in dem alles der Beliebigkeit unterworfen sei, noch so etwas wie Bedeutung und Funktion besitze, scheint bestimmten Kulturschaffenden gerade aufgrund der islamfaschistischen Herrschaft bewiesen. Dort sei noch ein Auftrag, eine Mission zu erfüllen. Es ist, als brauche der Künstler Unterdrückung, nicht Freiheit, als sei ein bestimmter Grad von Unglück notwendig, um überhaupt zu spüren, was Glück sei: Das ist die Kunstvariante der Verelendungstheorie.

Dass man mit Kunst gegen die Freiheit der Kunst zu Felde ziehen kann, ist den Apologeten des deutsch-iranischen Kulturaustauschs nicht begreiflich zu machen: Völkerverständigung ist das hehre Ziel, dem die Freiheit der Kunst – und ganz allgemein die ins Deutsche nicht korrekt übersetzbare »freedom of expression« – untergeordnet wird. Denn schließlich handelt es sich beim Iran um eine andere Kultur, es geht nicht um den Austausch von Kultur, sondern von »Kulturen«, um »die Erfahrung des Anderen«, wie die Sprechblasen auch immer gefüllt werden mögen. Und Ahmadinejad ist der größte Kultur­botschafter des Iran, von seiner Kleidung und seinem Auftreten bis zu seinen abstrusen Bemer­kungen vermittelt er jenes »Andere«, das sich irgendwie so vertraut anfühlt, aber weil es anders ist, Respekt erheischt. Er pocht auf das Recht der Differenz in der Wahrnehmung, auf die entscheidende Rolle des Sprechorts und der eigenen Erfahrung. ­Auschwitz ist in seinen Augen eine säkulare Religion des Westens mit dem einzigen Zweck, Israel zu legitimieren. Und hier trifft er sich mit vielen, die es vielleicht nicht so scharf ausdrücken würden, aber den Erinnerungsdiskurs ebenso ernsthaft »dekonstruieren«, weil er ihrer Meinung nach die Kritik an der israelischen Politik verhindert.

Was für Peymann und die Antiimperialisten des Kulturbetriebs einst den »bolshevic chic« der RAF ausmachte, wurde auf den Islam übertragen, es ist die gleiche antikapitalistische, autoritäre Sehnsucht, die sie immer noch umtreibt. Der Islam mit dem Propheten, der es viel besser als jeder reale Führer vermag, auch sich bekämpfende und konkurrierende Gruppen unter einem Ziel zu vereinen, ist allerdings noch einige Schwundstufen der Regression unterhalb der RAF anzusiedeln: Das politische Korsett ist weg, die Rhetorik von Kommunismus und Proletariat abgeschafft, übrig bleibt die Einfachheit, die Gerechtigkeit und der Hass auf die Juden und Amerika. Der »islamic chic« muss gerade diesen Kulturschaffenden wie eine Befreiung vorgekommen sein. Einfach ist die Macht des esoterischen Führers, gerecht die Herr­schaft der Rackets, und schön ist es, einen Feind zu haben, der immer schon der gleiche war.

Dass es gar nicht notwendig ist, in den Iran zu fahren, um die gleiche Botschaft zu verbreiten, zeigt das Berliner Theater Hebbel am Ufer (Hau), das derzeit seinen 100. Geburtstag mit Performances, Lesungen und einem Kurzfilm-Wettbewerb begeht. Dabei hat sich das Hau das Ziel gesetzt hat, die Reeducation zu dekonstruieren: »Die Slogans der Amerikaner wie ›You too can be like us‹ bringen einen heute zum Lachen – aber natürlich sind wir geworden wie sie. Das be­inhaltet Glück und Unglück im selben Moment. Das ›Re-Education‹-Programm durchzieht die Nachkriegsgeschichte und wirkt als Vorbild oder vermeintlich wiederholbare Geschichte bis zum unsäglichen Irak-Krieg. Grund genug, genauer hinzuschauen, wie dieser Umerzie­hungs­pro­zess vonstatten ging.« Nicht umsonst stehen Länder wie der Libanon und der Irak auf dem Programm. Die Parallelisierung fällt auf, weil ansonsten Vergleiche zwischen dem Islam und dem Nationalsozialismus immer empört abgewiesen werden. Solche Empörung aber scheint nicht mehr notwendig zu sein: »Wir« sind eben nicht wie die Amerikaner, diese Selbstvergewisserung kann man augenzwinkernd aussprechen, indem man das Gegenteil behauptet. »You too can be like us« ist vielmehr ein Angebot an die islamische Welt, sich die Deutschen und ihren ambivalenten Umgang mit dem großzügigen Angebot der Amerikaner zum Vorbild zu nehmen.

In diesem Fundamentalismus der Gegenaufklärung finden zurzeit deutsche Kulturschaffende unterschiedlicher Generationen zusammen. Ihr Programm ist altbekannt. Die im Namen des angeblich alles erfassenden Diskurses erfolgende Verhöhnung des künstlerischen Aus­drucks, der Autonomie beansprucht und sich nicht auf Aussage und Position einlassen will, ist die Folge des selbstverständlichen Zwangs zum Dokumentarischen und der Verteufelung des Hinter- und Abgründigen, der sich in der Produktion des immergleichen Oberflächlichen wiederholt. Kunst ist so nur noch als Konzept und Kontext denkbar, wie die letzte Documenta eindrucksvoll bewiesen hat. Nicht zuletzt in der Entsolidarisierung mit Künstlern, die sich dem Ornament verweigern, das sowohl der Maß­­stab der islamischen wie der postpostmodernen Kunst ist, zeigen sich die Elemente der neue­ren deutschen Ideologie sehr deutlich. Selbst der Kunstanspruch wurde vom Agitprop des Appease­ments eliminiert, sein antibürger­licher Furor ist das Vehikel der Regression.