An der Morbidität orientiert
Der Gesundheitsfonds hat treue Feinde. Im vergangenen Jahr aüßerten zahlreiche Kritiker unterschiedlichster Couleur vehement Kritik an der neuen Konstruktion. Neu entfacht wurde die Diskussion im Januar durch ein Gutachten des Münchner Instituts für Gesundheitsökonomik, beauftragt von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die von verschiedenen deutschen Unternehmen finanziert wird.
Die Wissenschaftler sagen vorher, dass der durchschnittliche Beitragssatz von derzeit 14,8 Prozent im kommenden Jahr auf 15,5 Prozent steigen werde. Rasch wurde der Fonds in der öffentlichen Debatte als Grund dafür ausgemacht. Auch wenn das Institut mittlerweile seine Vorhersage nach unten korrigieren musste, nutzen die Fondsgegner dankbar die Vorlage, um erneut eine Abschaffung des Fonds zu fordern.
Die FDP etwa hat eine aktuelle Stunde zu dem Thema im Parlament durchgesetzt, und auch die CSU sträubt sich. »Die Voraussetzungen für die Einführung eines Gesundheitsfonds sind derzeit nicht erfüllt«, sagt Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU). Begleitet wird das Ganze vom Protest vieler Kassen, auch Wirtschaftsverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) stimmen in seltener Einigkeit in die Kritik ein. Merkels Machtwort ist in dieser Debatte wirkungslos verhallt.
Der jüngste Streit um den Fonds ist allerdings noch harmlos im Vergleich zu dem, was die Große Koalition im Herbst erwartet. Dann nämlich muss die Regierung einen einheitlichen Beitragssatz für alle gesetzlichen Krankenkassen festlegen, damit der Fonds wie geplant im Januar eingeführt werden kann. Die Koalition hat sich selbst einen schlechten Dienst erwiesen, als sie das Selbstbestimmungsrecht über die Beitragssätze an sich riss. Denn steigt der Durchschnittsbeitrag, protestieren Unternehmen und Beschäftigte. Sinkt er, beschweren sich die Krankenkassen. Kommen diese mit den Zuweisungen aus dem Fonds nicht aus und müssen daher Zusatzbeiträge von ihren Mitgliedern kassieren, werden sie die Koalition dafür verantwortlich machen. Eine heikle Situation, insbesondere in Hinblick auf das Wahljahr 2009.
Die Große Koalition zahlt damit womöglich einen hohen Preis für einen politischen Kompromiss, denn nichts anderes ist der Fonds. Für die Union birgt er die Chance, die so genannte Gesundheitsprämie einzuführen, die Sozialdemokraten hoffen auf eine Bürgerversicherung.
Vorerst wird der Fonds jedoch in »neutraler Form« eingeführt. Das funktioniert so: Versicherte und Unternehmer zahlen künftig die Beiträge nicht mehr direkt an die Krankenkasse, sondern an den so genannten Nationalen Gesundheitsfonds. Auch Steuermittel kommen hinzu, im Jahr 2009 zahlt der Bund beispielsweise vier Milliarden Euro. Aus den Mitteln des Fonds erhält jede Kasse pro Versichertem eine pauschale Zuweisung mit gewissen Zu- und Abschlägen. Kommt eine Krankenkasse mit den Zuweisungen aus dem Fonds nicht aus, muss sie einen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben. Dagegen können Kassen mit Haushaltsüberschuss nicht benötigte Beiträge wieder an die Versicherten ausschütten.
Es sei nicht erkennbar, dass durch diese Konstruktion irgendwelche Probleme des Gesundheitswesens gelöst werden könnten, murrt der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach in den Medien. Die Fondsbefürworter hoffen jedoch auf mehr Wettbewerb zwischen den Kassen. Am Zusatzbeitrag oder an der Prämie könnten die Versicherten künftig sofort erkennen, ob ihre Kasse gut wirtschaftet oder nicht, wiederholt Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zu jeder Gelegenheit. Nur zu gut passt dieser Slogan in ihre immer gleiche Rede von der Transparenz im Gesundheitswesen. Die Realität aber sieht anders aus, denn Patienten und Versicherte haben kaum eine Chance, die verworrenen Mechanismen des Gesundheitssystems zu durchschauen. Daran ändert auch der Fonds nichts, im Gegenteil.
Zusammen mit dem Fonds wird nämlich der so genannte morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, kurz Morbi-RSA, eingeführt. Ein Wortungetüm, das normalerweise Fluchtreflexe auslöst, bei dem gesundheitspolitische Statistikfanatiker jedoch leuchtende Augen bekommen. Mit dem RSA soll verhindert werden, dass sich die gesetzlichen Krankenkassen ihre Lieblingsversicherten suchen (zum Beispiel jung und männlich), und Unterschiede in der Versichertenstruktur sollen ausgeglichen werden. Betriebskrankenkassen mit vielen jungen und gesunden Versicherten müssen in den RSA einzahlen, die Allgemeinen Ortskrankenkassen mit ihrer meist älteren und schlecht verdienenden Klientel bekommen Geld.
Bisher orientierte man sich dabei an recht groben Kriterien wie etwa Alter und Geschlecht. Doch bereits das war so kompliziert zu berechnen, dass der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU), der den Ausgleich einst eingeführt hatte, vermutete, dass nur drei Personen in Deutschland den RSA verstünden. »Und ich gehöre nicht dazu«, fügte er an.
Mit dem neu einzuführenden Morbi-RSA dürfte der Kreis der Erleuchteten noch weiter schrumpfen. Künftig bekommen Krankenkassen nämlich einen Ausgleich gezahlt für Versicherte, die an bestimmten Krankheiten leiden, deren Behandlung teuer ist. Der Beirat des Bundesversicherungsamts hat im Januar bereits ein Gutachten mit einer Liste von 80 Krankheiten vorgelegt. Berücksichtigt werden beispielsweise Herzinsuffizienz, Parkinson und verschiedene Krebserkrankungen. Rund ein Viertel aller Diagnosen betrifft neuropsychiatrische Krankheiten.
Eine brisante Liste, denn es geht dabei um sehr viel Geld. Der RSA verteilt jedes Jahr 16 Milliarden Euro um – Geld, das sich aufgrund der komplexen Regelungen einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entzieht. Die Krankenkassen werden sich daher in Zukunft bei ihrer Versorgungsstrategie an der Krankheitsliste orientieren. Schon jetzt machen sie sich daran, ihre Versichertenstruktur nach den 80 »Top-Diagnosen« zu analysieren.
Und auch erste Kritik wird bereits laut: Die Union will die Liste kürzen. Weder transparent noch manipulationssicher sei die Zusammenstellung, sagt ein Sprecher des Verbandes der Betriebskrankenkassen. Und mit der Deutschen Rheuma-Liga hat sich auch die erste Patientenorganisation zu Wort gemeldet, die beklagt, dass nur eine rheumatische Erkrankung auf der Liste stehe. Damit gehe ein falsches Signal an die Krankenkassen, »und es droht eine weitere Verschlechterung der Versorgung rheumakranker Menschen«, sagt Vizepräsidentin Helga Germakowski. Rheumakranke Patienten blieben unbeliebte Versicherte, da sie teuer seien, aber anscheinend nicht teuer genug, und weil sie keine Kosten in den »richtigen Bereichen« verursachten.
Der Streit um die Liste dürfte noch bis zum 1. Juli andauern. Dann nämlich wird das Bundesversicherungsamt die endgültige Liste für den Morbi-RSA festlegen. Kurz darauf, im Herbst, muss die Regierung den allgemeinen Beitragssatz für die Kassen festlegen, damit der Einführung des Fonds zu Beginn des neuen Jahres nichts mehr im Weg steht. Ein ehrgeiziger Zeitplan. Und wie so oft bei politischen Kompromissen gilt das Motto: Augen zu und durch.