Musik für Arme

Zu Unrecht vergessene Musik, Teil sieben: stefan ripplinger über »Colossal Youth« von den Young Marble Giants

Es gibt Vorläufer. Ich denke an »The Marble Index« (1969) von Nico, nicht nur des Titels wegen, kalter, schöner Marmor, auch wegen der kalten, schönen Arrangements von John Cale. Oder »Outside the Dream Syndicate« (1973) von Tony Conrad, ein Monument des Minimalismus. Einige Stücke von Tuxedomoon oder Suicide kombinieren bereits wie sie Schönheit, Kühle, Einfachheit mit dem nötigen Quäntchen Bosheit. Und Epigonen gibt es gleich im Dutzend. Dennoch, »Colossal Youth« (1980) von den Young Marble Giants ist eine Musik sui generis, eine Platte, die ein eigenes Genre begründet, dessen einziges Beispiel sie ist.

Auch den drei Musikern selbst ist es danach nie wieder gelungen, etwas Vergleichbares hervorzubringen. »Colossal Youth« bleibt ihre einzige gemeinsame Platte. So geht es mit den ganz einfachen Rezepten, gerade sie verlangen, dass jede Kleinigkeit stimmt. In der einen Woche, in der »Colossal Youth« eingespielt worden ist, hat alles gestimmt. Es stimmte die Besetzung mit der Sängerin Alison Statton, mit Philip Moxham am Bass und seinem Bruder Stuart an der E-Gitarre, der Schweineorgel und am Casio. Es stimmte die Abmischung, dieser seltsame Kontrast der trockenen, monotonen, manchmal skurrilen Instrumente im Vordergrund mit der im Raum schwebenden Stimme. Es stimmte vor allem der Zeitpunkt.

Die Endsiebziger waren eine Zeit, in der die Schönheit nur in der Depression entstehen konnte. Ich erinnere mich an den Film »Eraserhead« von David Lynch, an Pere Ubus düsteres Album »Dub Housing«. Aber das ist alles noch viel zu laut. Bei Depression ist der Lärm nicht gut zu ertragen. So ist »Colossal Youth« auch dann, wenn die Riffs nervöser werden, von großer Stille. Sie geht aus dieser schwerelosen Stim­me, diesen volksliedhaften Melodien hervor. Die Endsiebziger waren eine Zeit, in der der Hun­ger nach Realismus unersättlich wurde. In der sozialdemokratischen Dekade kamen einem selbst Müll und Grausamkeit des Kapitalismus wie eine Offenbarung vor. Punk war der Sturm, der die Luft reinigte. Danach trat endlich eine Phase der Klarheit und Nüchternheit ein, bevor mit Gothic und Casinosoul wieder Bombast und Beliebigkeit regierten.

»Colossal Youth« bietet den distanzierten und ruhigen Blick eines ganz und gar Resignierten, dem die Depression Hoffnung, Mitgefühl, auch Selbstmitleid gründlich ausgebrannt hat. Darauf folgt immer große Gelassenheit, fast Heiterkeit. »La, la, la, la, the world is not you.« Und natürlich auch der in diesem Zustand übliche schmallippige Sarkasmus, von dem bereits Titel und Bandname zeugen. Hier ist ja nichts kolossal oder gar gigantisch.

Ich brauche deine Liebe nicht, ich brauche deinen Körper nicht, du langweilst mich nur, heißt es in »Music for Evenings«. Und um den Vorwurf vorwegzunehmen, den Verschmähte an dieser Stelle machen, heißt es gleich darauf, nein, ich bin nicht neurotisch oder narzisstisch, und die einzige Entschuldigung, die ich für mein Verhalten habe, ist: Alles entspringt dem Chaos. Dies nun aber in fast hymnischem Ton, mit der hellen, ungekünstelten Stimme von Statton, der wie eine Nähmaschine dahintuckernden Casio-Perkussion, den simplen Riffs und simplen Melodien. Arte ­povera, Musik für Arme in jeder Hinsicht. – Und von Armen, die Platte ist vermutlich eine der billigsten, die jemals produziert worden sind.

Ganz in Vergessenheit geraten ist diese Seltsamkeit nie. Ich höre, dass sie letztes Jahr bei Domino wiederveröffentlicht worden ist. Bereits 1994 hat das Label Crépuscule eine CD-Version herausgebracht. Es ist nicht anzunehmen, dass das Album »Colossal Youth« mehr Freunde gewinnen wird, als es bereits hat. Den meisten ist es zu eintönig, manchen kommt sein Stil wie eine Manier vor. Aber es bleibt ein ungewöhnlich klares Statement, das klüger ist als die Musiker und klüger als alle, die über diese Musik geschrieben haben, mich eingeschlossen.

Young Marble Giants: Colossal Youth (Rough Trade 1980)