Das letzte Stück Belgien

In Belgien wird der Regionalismus immer stärker. Was auf den ersten Blick als Sprachenstreit erscheint, birgt handfeste Inter­essen. Schon wird über das Ende des bilingualen Staats spekuliert.

Es passiert nicht selten, dass sich alle acht Plätze füllen, die für Zuhörer reserviert werden, wenn der Gemeinderat von Drogenbos, einem kleinen Vorort von Brüssel, tagt. 16 Mitglieder zählt die Vertretung, die von den Bürgern des Ortes gewählt wird. Normalerweise eine gemütliche Abend­veranstaltung, nachbarschaftlich sei der Ton für gewöhnlich, versichert ein älterer Herr. Er hört öfter zu, wenn über die Dinge vor Ort entschieden wird, etwa die neue Sporthalle für die Grund­schule. Dass diese Sitzung anders verlaufen könnte, verraten vielleicht schon die zusätzlichen Bänke, die angesichts des großen Interesses hereingeschoben werden. »Punkt 13: Resolutionen«, heißt es knapp in der Tagesordnung. Doch im Saal ist klar, dass der freundliche Ton, mit dem der Abend begonnen hat, spätestens bei diesem Punkt sein Ende finden wird. »Anwendung von Sprachen in der Gemeindeverwaltung« heißt der Text, den die Front der Frankophonen (FDF) vorlegt hat. Dass sich die Stimmung ändert, liegt aber zunächst einmal nicht daran, was die Sprecherin der FDF vorträgt – sondern wie. Als Corinne Francois anfängt, französisch zu reden, wird es unruhig im Saal. Der Abgeordnete des Vlaams Be­lang, der flämischen Separatisten, versucht, die Rede zu übertönen, andere murren merklich, bis der Sitzungsleiter unterbricht. »Sie müssen Ihr Anliegen zuerst auf Niederländisch vortragen«, ermahnt er die Rednerin.

Es ist ein kleines Stück belgische Politik, das hier aufgeführt wird. Und die Gemeindevertreter haben verstanden, mitzuspielen. Wie soll es weitergehen mit dem Staat, der seit Jahren zunehmend unter der Spannung zwischen der niederländisch­sprachigen Bevölkerung im Norden und den fran­kophonen Bewohnern im Süden steht? Wegen ge­nau dieser Frage hat das Land seit länger als einem halben Jahr keine handlungsfähige Regierung. Die politische Krise entspannte sich Mitte Dezember ein wenig mit der Bildung einer Übergangsregierung unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt. Wie es im März weitergehen soll, wenn der Sieger der Parlaments­wahl vom vergangenen Juni, der flämische Christ­demokrat Yves Leterme, ihn ablösen wird, bleibt bislang offen. Denn Leterme hat bereits ein halbes Jahr lang vergeblich versucht, eine Regierung zu bilden.

In Drogenbos spiegelt sich eine nationale Krise, und in dem Sitzungssaal, in den sich sonst bestenfalls ein Lokaljournalist verirrt, drängen sich jetzt die Kamerateams der nationalen Programme. Bürgermeister Alexis Calmeyn ist sichtlich be­müht, die richtigen Worte zu finden. Denn er weiß genau, dass Gemeinden wie seine mehr denn je ein Gradmesser dafür sind, ob Flamen und Wallo­nen weiterhin zusammenleben wollen. Denn hier, an der Sprachgrenze, treffen die beiden Gruppen direkt aufeinander.

Eigentlich versteht man einander in dem Vorort mit 6 000 Einwohnern, vor allem, weil die Flamen seit jeher gewohnt sind, die Sprache der »Anderen« zu lernen. Die »Anderen« sind die fran­zösischsprachigen Belgier aus Brüssel oder Wallonien, die es immer mehr aus der Innenstadt weg gezogen hat, in die Idylle der Einfamilienhäuschen am Stadtrand. Luc Verdonck, ein älterer Herr, der auf der Besucherbank sitzt, versichert: kein Bäcker, der nicht auf Französisch bedienen, kein Arzt, in dessen Praxis nur Niederländisch gesprochen würde. Doch mittlerweile beginnt er auch zu zweifeln. »Einander verstehen ist etwas anderes als Verständnis«, sagt der 64jährige. Und genau das fehle zunehmend, nach drei gescheiterten Versuchen, eine Regierung zu bilden, nach all den gegenseitigen Vorwürfen, die jetzt auch seine Gemeinde erreicht haben. »Jedes Problem wird mittlerweile reduziert auf den Konflikt zwischen Flamen und Wallonen. Wenn in Flandern ein Schlagloch in der Straße ist, liegt es gleich daran, dass zuviel Geld ins strukturschwache Wal­lonien geht«, sagt er.

Dass es nicht gut geht in der Staatsehe aus Wal­lonen und Flamen ist spätestens seit dem heftigen Sprachenstreit der sechziger Jahre offensicht­lich. Damals forderten die niederländischsprechenden Belgier, was ihnen seit der Staatsgründung 1830 weitgehend verwehrt wurde: im öf­fent­lichen Leben die eigene Sprache gleichberech­tigt zu verwenden. Der Ton wurde immer schärfer – und aus der Bewegung gegen die frankopho­ne Dominanz wurde der flämische Nationalismus, der heute dem rechtsextremen Vlaams Belang Wahlergebnisse von knapp 30 Prozent einbringt. »Wallonen raus«, lautete 1968 der Schlachtruf der Studenten an der Universität von Leuven, in dem Jahr, in dem in anderen Ländern gegen den Vietnam-Krieg protestiert wurde. Drei große Verfassungsreformen haben seitdem wenig übrig gelassen von dem einstmals französisch domi­nierten Einheitsstaat. Das Wenige wollen nahezu alle flämischen Parteien nun weiter reduzieren, zum Beispiel das bisher noch national organisierte Sozialversicherungssystem. Denn hier fließen jedes Jahr rund zehn Milliarden Euro vom reichen Norden Richtung Süden.

»De Rand« nennen die Flamen den Speckgürtel, der sich um die zweisprachige Hauptstadt zieht – und den sie als ihr Territorium reklamieren. Das Gesetz gibt ihnen Recht – von wenigen Ausnahmen abgesehen, schreibt die Sprachgrenze, die 1963 gezogen wurde, den alleinigen Gebrauch von Niederländisch vor. Die Realität sieht aber angesichts des ständigen Zuzugs frankophoner Belgier vielerorts seit Jahren anders aus. Im Umland von Brüssel sind französischsprachige Bürger längst keine Minderheit mehr, in Drogenbos stellen sie drei Viertel der Bevölkerung.

Ende November, während die nationale Politik bereits im fünften Monat der Krise war, setzte der Innenminister der flämischen Regionalregierung ein klares Zeichen. Drei Bürgermeister von Randgemeinden, die ihren französischsprachigen Lands­leuten mehr Rechte gewährten, wurden abgesetzt. »Mittlerweile geht es vielen Flamen doch nur noch darum, uns das Leben schwer zu machen«, klagt Corinne Francois. »Wir wollen lediglich die gleichen Rechte haben wie in der Haupt­stadt Brüssel.« Im offiziell bilingualen, nur wenige Kilometer entfernten Brüssel leben gerade einmal 20 Prozent Flamen, »und dennoch sind beide Sprachen vollkommen gleichberechtigt. Jedes Straßenschild, jede Metro-Station trägt zwei Namen. Warum kann die Region Brüssel mit ihrem bilingualen Status nicht einfach erweitert werden?« fragt sich die Anwältin.

Die Tram-Linie 32 führt in die Realität, die sich Bewohner wie Corinne Francois auch für Drogen­bos und die anderen Randgemeinden wünschen. 25 Minuten rattert die alte Straßenbahn über ausgefahrene Schienen von Drogenbos Kastell bis zum Brüsseler Hauptbahnhof Gare du Midi – oder Zuidstation, wie die Flamen sagen. Nicht nur hier in der Hauptstadt, sondern auch in Antwerpen, im Herzen Flanderns und im wallonischen Charleroi gammelt die öffentliche Infrastruktur vor sich hin. »Wir Belgier leben nach hinten raus«, sagt Luc Verdonck und zeigt auf die grauen, heruntergekommenen Fassaden, an denen die Tram vorbeizieht. »Klingeln Sie, und schauen Sie in die Häuser und Gärten. Sie werden sich wundern, wie schön und wohlhabend es drinnen ist.« Der Pensionär ist auf dem Weg in sein altes Viertel, die Marollen, im Zentrum von Brüssel. Dort hat er fast 40 Jahre lang gelebt, bis es ihm zu eng wurde in den kleinen Gassen des volkstümlichen Viertels. Jetzt kommt er einmal die Woche, um mit alten Bekannten Kaffee zu trinken. Bevor er in seinem Stammcafé ankommt, will der ehe­ma­lige Ingenieur noch ein paar Gedanken über sein Land loswerden. »Belgiens Zustand mag so schlecht erscheinen wie die Fassaden dieser Häu­ser«, sagt er. Doch dahinter habe es eigentlich immer ganz gut ausgesehen. »Es gibt Vorurteile, ja, auch manchmal Ärger gerade über die sprach­liche Ignoranz der Wallonen, die schlicht und ein­fach nicht niederländisch lernen wollen.« So wür­den es seine flämischen Freunde sagen. Und die wallonischen unter ihnen mögen sich über die Schlamperei ihrer nördlichen Nachbarn grämen, »die heute über die Milliarden-Transferleistungen gen Süden klagen, während sie noch bis in die siebziger Jahre bestens von der nun krisengeschüttelten Kohle- und Schwerindustrie der Wallonen lebten.« Wenn die Menschen aufeinander treffen, habe es eigentlich nie ernsthafte Spannungen gegeben, versichert Verdonck. Doch lang­sam wächst auch bei ihm die Sorge, dass die po­litische Hängepartie seit den Parlamentswahlen nicht ohne Folgen geblieben ist: Was, wenn es doch besser wäre, getrennte Wege zu gehen? Wenn sich Belgien im 179. Jahr seines Bestehens einfach nicht mehr zusammenraufen will? »Es ist nichts Neues, dass Flamen und Wallonen Schwierigkeiten miteinander haben«, sagt Verdonck. »Aber jetzt haben wir vielleicht einfach schon zu häufig darüber geredet. Das kriegt man nicht mehr so einfach aus der Welt.«

Maarten Geeraerts hat nie in Brüssel gewohnt – und doch ist er fast jeden Tag hier. Morgens, wenn Hunderttausende Autos die Einfallsschneisen füllen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die einstmals engen Straßenzüge von Brüssel geschlagen wurden, ist er dabei. Der Po­litologe gehört zu den fast 400 000 Pendlern, die sich jeden Tag im Berufsverkehr Richtung Hauptstadt aufmachen. Dann, wenn spätestens um 10 Uhr der Takt des Arbeitstages losgeht, ist Brüssel voll­ständig. So sieht es zumindest Geeraerts. Er kommt aus Gent und ist Flame – wie ein Großteil der täglichen Besucher, die der Hauptstadt tags­über die »belgische Mischung« verleihen. Über Nacht und am Wochenende, sagt der 32jährige, sei Brüssel französisch. Bars, Restaurants, selbst der eigentlich bilinguale Polizeinotruf. Das weiß er, seitdem einmal spät­abends sein Auto im Zentrum aufgebrochen wurde. »Wer überfallen wird, sollte besser französisch sprechen, sonst stirbt er in der Warteschleife.«

Darüber, was schief läuft zwischen Flamen und Wallonen, sei in den vergangenen Wochen so viel geredet werden. Der Konflikt wegen der Sprachen­frage ist für ihn eine alltägliche Erfahrung. Er findet es beispielsweise ungerecht, dass bei Meetings in seiner Beratungsfirma sechs Flamen französisch sprechen müssen, sobald nur ein Franko­phoner mit am Tisch sitzt. »Unsere französischsprachigen Kollegen finden das praktisch, schließ­lich können wir alle Französisch. Doch sie verstehen nicht, dass es schlicht ein Signal der Wert­schätzung wäre, unsere Sprache genauso selbstverständlich zu lernen«, erklärt Geeraerts. Die Statistiken des Landes bestätigen, was die Bevölke­rungsmehrheit im Norden als Demütigung emp­findet. Zwei Drittel der Flamen sprechen die Spra­che des anderen Landesteils. Bei den Frankophonen ist es gerade mal ein Fünftel, das sich auf Niederländisch verständigen kann.

»Die Fassade des belgischen Staats bröckelt, weil der gegenseitige Respekt fehlt«, glaubt Maarten Geeraerts. »Und die Gründe, weiterhin in einem gemeinsamen Staat zu leben, werden immer weniger.« Auf die Frage, was belgisch sei, habe es früher immer drei Antworten gegeben, erzählt er: »Die Fußballnationalmannschaft, der Franc und der König. Unsere Währung ist jetzt europäisch, unser Fußball eine Katastrophe, nur den König, den haben wir noch.« Seine Firma arbeitet oft im EU-Viertel – und ihm mag vielleicht dort der Gedanke gekommen sein, die eigene Zukunft einmal ohne einen belgischen Staat zu denken – »aber anders als die Separatisten und Büchsspanner vom Vlaams Belang«, das ist ihm wichtig. »Wenn heute ohnehin schon 60 bis 70 Prozent der nationalen politischen Entscheidungen von der EU getroffen werden, auf der anderen Seite die Re­gionen immer mehr Kompetenzen bekommen, wofür brauchen wir denn dann noch Belgien?« Vielleicht, sagt er, könnten wir uns einfach eine Entscheidungsebene sparen – und da wäre es doch sinnvoll, die zu nehmen, bei der es ohnehin ohne Ende hakt. Und Brüssel, die letzte Gemeinsamkeit? Geeraerts erzählt von einer Idee, die offenbar unter den Eurokraten Brüssels kursiert: eine europäische Hauptstadt mit besonderem Sta­tus, eine Art Brüssel D.C.

An der Place du Jeu-de-Balle, im Marollen-Viertel, breitet sich der tägliche Trödelmarkt aus. Neben den Händlern, die vom Comic bis zum Fahr­rad alles verkaufen, was auf flämischen wie wallonischen Dachböden zu finden ist, und ihren treu­en Kunden sind es vor allem die Touristen, die ihren Reiseführern in dieses »originale Stück Brüs­sel« folgen. Am Rande des Platzes ist die Stammkneipe von Luc Verdonck. Was er am schlimms­ten finde an der derzeitigen Lage im Land? Dass man immer häufiger in die Situation komme, sich selbst als Flame oder Wallone zuordnen zu müssen. Im leidigen Identitätsstreit des kleinen Landes bleibt da für jemanden wie ihn kaum Platz. »Ich bin weder das Eine noch das Andere«, sagt er, und ein bisschen Freude schwingt mit, zu einer kleinen überschaubaren Gruppe zu gehören. Echter Bruxellois sei er, aufgewachsen mit zwei Sprachen – oder doch eher einer. »C’était au temps où Bruxelles brusselait«, sang einst Jacques Brel als Hommage an diese Mischung aus Französisch und Niederländisch, die sich an der Sprachgrenze zusammengebraut hatte. Als einer der wenigen beherrscht Verdonck das »Brüsselieren« noch. »So haben es die Menschen damals eben gemacht«, sagt er, »wenn zwei Sprachen und Kulturen aufeinander stießen.«