Ein Freund, ein guter Freund

Die Vorschläge des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan zur Integration türkischstämmiger Migranten ­haben für Diskussionen gesorgt. Sein Image als »Brückenbauer« hat jedoch keinen Schaden genommen. Das ist weder für den Laizismus in der Türkei noch für die Integration der Einwanderer in Deutsch­land von Vorteil. von aycan demirel

Lob erhielt Erdogan für seine »beruhigenden Worte« nach der immer noch nicht aufgeklärten Brandkatastrophe in Ludwigshafen und seine Aufforderung zum Erwerb der deutschen Sprache und zur Integration. Manche wie Claudia Roth gingen sogar so weit, zu behaupten, er sei der ers­te, der klar gesagt habe: »Integriert euch, lernt Deutsch!«

So wichtig Sprachkenntnisse sind, so problematisch ist diese Aufforderung. Denn immer wieder wird Migrantinnen und Migranten unterstellt, dass sie die deutsche Sprache nicht lernen wollten. Die Erziehungswissenschaftlerin Schahrzad Farrokhzad von der Fachhochschule Köln sieht in der Debatte um die Sprachkompetenz etwas grundsätzlich Verkehrtes. Denn in der endlosen Diskussion über den angeblichen Unwillen, Deutsch zu lernen, wird die Schuld an der derzeitigen Bildungsmisere Migrantinnen und Migranten zugewiesen: Der Staat und die Mehrheitsgesellschaft schieben ihre Verantwortung auf Benachteiligte ab. So erreicht man keine Chancengleichheit für Kinder mit Migrationshintergrund. »Was wir dafür brauchen, ist vor allem flächendeckende, frühkindliche Sprachförderung«, sagt Farrokhzad.

Ablehnende Reaktionen auf Erdogans Rede waren aber ebenfalls zu vernehmen. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), warf Erdogan vor, »Ängste zu schü­ren« und »emotionalen Zwiespalt« zu verursachen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warn­te vor möglichen Loyalitätskonflikten bei denjenigen, die die starke Bindung an die »alte Heimat« aufrecht erhielten. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck, sprach von der Gefahr von Parallelgesellschaften und der CSU-Vorsitzende Erwin Huber stellte die Tauglichkeit der Türkei für eine EU-Mitgliedschaft in Frage. Erdogan schüre türkischen Nationalismus in Deutschland und fördere Parallelgesellschaften. Auch wenn der Be­griff der »Parallelgesellschaft« zum festen Kampf­vokabular derjenigen Kreise gehört, die nach Mög­lichkeit jegliche Einwanderung verhindern möch­ten – der Kritikpunkt ist tatsächlich ernst zu neh­men.

Was Erdogan sich unter Integration vorstellt, lässt sich auf der kulturellen Ebene ahnen. Ende des vergangenen Monats hielt Erdogan vor etwa 1 000 Studenten eine Rede, die mit staatlichen Stipendien Universitäten im Ausland besuchen werden. Erdogan sagte: »Wir haben aus dem Westen statt Wissenschaft und Kunst unseren Werten fremde Unanständigkeiten geholt.« Was mit den Unanständigkeiten gemeint sein könnte, erklärt Burhan Senatalar, Professor an der Bilgi Üniversität in Istanbul: Der grundlegende Unterschied zwischen islamischen Ländern und westlichen Demokra­tien sei die Stellung der Frau im gesellschaftlichen Leben. Senatalar kritisiert Erdogans Äußerung und vermutet, der Premierminister könne eine selbstbestimmte Lebensweise der Frauen nicht mit seinen Moralvorstellungen vereinbaren.

In den deutschen Medien gab es unterschied­liche Deutungen und Interpretationen von Erdogans Äußerungen. Unter anderem wurde gemutmaßt, es handele sich um »eine Botschaft an die Radikalen in seiner eigenen Partei« und um »Agi­tation für die Wahlkampfmobilisierung«. Das ist jedoch falsch. Derzeit hat Erdogan die Par­tei unter Kontrolle. Die AKP braucht nicht mehr die Stimmen der türkischen Migrantinnen und Migranten. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Islamisten in Europa ihre Anhänger mobilisierten und die im Ausland lebenden Türkinnen und Türken als Wahlvolk sogar mit Flugzeugen in das Land einflogen. Die türkischen Migrantinnen und Migranten werden mittlerweile anders instru­mentalisiert. Berivan Aymaz vom Bonner Zentrum für kurdische Studien Navend weist auf die strategisch geführte Politik Erdogans hin. Der Premierminister sehe in den in europäischen Län­dern lebenden türkischen Einwanderern ein mögliches Druckmittel gegen die EU. Drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund sollen beeinflusst werden und ihre Meinung kundtun, wenn die türkische Politik in die Kritik gerät, so z.B. in der Kurden-Frage.

Der Stimmenanteil von etwa 50 Prozent bei den türkischen Parlamentswahlen, der beinahe zwei Dritteln der Sitze entspricht, die konfrontativ durchgesetzte Wahl Abdullah Güls zum Präsidenten, die Aufhebung des Kopftuchverbots in den Universitäten durch die Verfassungsänderung – all diese Erfolge hat die AKP zu einer Allmachts­haltung verleitet. Das seit über 40 Jahren bestehende Ziel des politischen Islam rückt Krise um Krise, Wahl um Wahl immer näher. Der Chefredak­teur der Hürriyet, Ertugrul Özkök, fühlte sich von der Stimmungslage in der Fraktionssitzung der AKP nach der Verfassungsänderung bedroht und sagte: »Ich habe große Angst bekommen.« Bei den nächsten Kommunalwahlen 2009 möchte die AKP die letzten zwei Bastionen der Opposition erobern: Izmir als Symbol der laizistischen Türkei und Diyarbakir als Symbol der kurdischen Na­tionalbewegung. Die Partei will ihren Stimmenanteil um bis zu 70 Prozent steigern. Viele Kritiker sprechen schon von einer »Diktatur der Mehrheit«.

Für Erdogans Aufstieg haben die globalpolitische Entwicklung und die Unterstützung aus dem Westen, insbesondere aus Europa, eine wichtige Rolle gespielt. Die Regierungspartei AKP war ein Testfall für die Demokratietauglichkeit isla­mi­scher Parteien. Nach den Wahlen hob die Süddeutsche Zeitung hervor: »Die Türkei zählt sich selbst zum Westen, aber auch zur islamischen Welt. Mit einer Regierung, die ihre Wurzeln in der islamischen Kultur nicht verleugnet, aber auch an die Demokratie glaubt, geht das laizistische Land nun ein bislang einmaliges Experiment ein. Gelingt die Synthese, dann ist dies ein Signal für andere Länder mit islamischer Tradition. Die Türkei würde damit beweisen, dass ihr modernes und dynamisches Gesellschaftsmodell erfolgreicher ist als jeder Gottesstaat. Das wäre dann auch eine Wegmarke für den Westen, der von einer solchen Türkei nur profitieren kann.«

Die Herausforderung wurde von der AKP angenommen, ab diesem Zeitpunkt setzte die Partei immer stärker auf das »muslimisch-demokratische Ticket«. Bei seinem Besuch in Deutschland im September 2007 sagte Erdogan auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Türkei könne Modellcharakter für eineinhalb Milliar­den Menschen haben: »Wir wären ein Vorbild für die muslimische Welt.«

Erdogan ist die Hauptperson in der so genannten interreligiösen und interkulturellen Verständigung. Besondere Unterstützung genießt der Premierminister bis heute bei den deutschen Grü­nen. Auf der Pressekonferenz in der schwierigen Phase der EU-Beitrittsdiskussionen im Dezember 2004 in Istanbul äußerte sich Daniel Cohn-Bendit: »Meinem Freund Tayyip habe ich gesagt, dass die AKP-Abgeordneten im europäischen Parlament bei der grünen Fraktion besser aufgehoben sind.« 2004 wurde Erdogan auch die Quadriga verliehen. Bundeskanzler Schröder hielt damals die Lau­datio mit dem Titel »Brücken des Respekts«. Mit dem im Geiste der Aufklärung vergebenen Preis ehrte das prominent besetzte Kuratorium Erdogan als »Brückenbauer zwischen Orient und Okzident«. Diese Selbst- und Fremdwahrnehmung als »Brückenbauer« herrscht vor, Erdogan wird in Deutschland weithin als toleranter und demokratischer Vertreter des Islam wahrgenommen. Das Bild hat man sich hierzulande freilich nach eigenem Wunsch gemacht. Erdogan wird so zwar internationale Anerkennung zuteil, mit der Zeit wird sich dieses Image aber der Realität annähern. Bis dahin könnte es allerdings für den türkischen Laizismus wie für die Integration der türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu spät sein.