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Als Beginn der bislang letzten Phase einer globalen Radikalisierung ist die 68er-Bewegung zu bedeutsam, um sie als Gegenstand der Nostalgie oder der Empörung zu betrachten. von jörn schulz

Vielleicht hat Paul Kantner ja recht. »Wenn du dich an die Sechziger erinnern kannst, warst du nicht wirklich dabei«, meint der damalige Gitarrist von Jefferson Airplane. Historiker können sich allerdings nicht mit der Erklärung zufriedengeben, dass drogeninduzierte Erinnerungslücken eine zuverlässige Geschichtsschreibung unmöglich machen. Schon gar nicht in Deutschland, wo es 1968 etwas nüchterner zuging, jedenfalls in den Kreisen, die für die Beurteilung dieser Zeit als relevant erachtet werden.

Wer sich mit oral history beschäftigt, weiß, dass der Zeitzeuge, auch der abstinente, ein unzuverlässiger Geselle ist. Spricht ein 68er über die gute alte Zeit, wird er meist bemüht sein, seine damaligen Aktivitäten zu lobpreisen und als bedeutenden Beitrag zum Fortschritt darzustellen. Wenn die Vergangenheit auf diese Weise der Gegenwart zugeordnet wird, müssen die eigentlichen Ziele der damaligen Bewegung der Haltung entsprochen oder sie vorbereitet haben, die der Erzähler heute einnimmt.

Am deutlichsten wird dies bei der Beurteilung Rudi Dutschkes. Für Walter Jens, Gewinner des Predigtpreises des Verlags für die Deutsche Wirtschaft AG, ist Dutschke »ein friedlicher, zutiefst jesuanischer Mensch« und »einer der großen Nach­kriegsdeutschen«. Ohne Dutschke und die 68er »wäre diese Republik nicht so stabil, wie sie heute ist«, sagt der Sozialdemokrat Oskar Negt und versteht das als Lob. Jutta Ditfurth sieht das ganz anders, Dutschke lasse sich nicht »für Regierungs­interessen vereinnahmen«, vielmehr könne die »junge antiautoritäre antikapitalistische Linke« ihn »neu entdecken«.

Eine Ausnahme sind jene, die 1968 oder in den Nachfolgeorganisationen der Bewegung, den K-Gruppen, aktiv waren, dann aber eine Wieder­geburt als Liberale erlebten. »1968 war ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus – und besonders des deutschen«, meint Götz Aly. Die Bahamas urteilt: »Dutschke war zeitlebens ein Na­tionalrevolutionär.«

Die Geschichtsschreibung wird von Interessen geprägt und sagt häufig mehr über die Gegenwart aus als über die Epoche, die sie zu behandeln vorgibt. Auch in diesem Text sind die geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen nur ein Vorwand für die Verbreitung einseitiger Thesen. Par­teiisch zu sein muss jedoch nicht bedeuten, die Fakten und die Fortschritte in der Geschichtswissenschaft zu ignorieren.

Weiterhin sind es die »großen Männer«, die Ge­schichte machen. In Deutschland ist es vor allem ein Mann: Rudi Dutschke. In Nebenrollen dürfen noch Daniel Cohn-Bendit, Rainer Langhans und einige andere auftreten, ausschließlich Studenten. Ein Prolet muss schon, wie Bommi Baumann, Stadtguerillero gewesen sein, um hin und wieder Gehör zu finden. Frauen tauchen vornehmlich als Pin-up auf, wie Uschi Obermaier oder die namenlosen Hippie-Mädchen.

Die globale Radikalisierung der sechziger Jahre, die in unterschiedlichen Formen fast alle west­li­chen Staaten, aber auch Länder in Ost­europa und der »Dritten Welt« erfasste, wird so zurechtgestutzt, dass sie in den deutschen Vorgarten passt. Wer die Entwicklung in Deutschland verstehen will, muss jedoch zumindest ihr Vorbild in den USA untersuchen. Dort begann the movement eini­ge Jahre früher, bereits 1965 demons­trier­ten Zehn­tausende gegen den Vietnamkrieg, die ersten Ein­berufungsbefehle wurden verbrannt. Übernommen wurden in der BRD nicht nur die Aktionsfor­men (sit-in, teach-in, smoke-in) und die Themen (Vietnam, der Kampf gegen die Autorität der Eltern), sondern die gesamte counter culture, nicht zuletzt die »Negermusik«, die damals in öffentlich-rechtlichen Medien nicht gespielt wurde.

Feindseligkeit gegenüber dem Amerika des Establishments, das gerade erst die Apartheid im Süden abgeschafft hatte, mit Richard Nixon ab 1969 noch einmal einen rassistischen und antisemitischen Präsidenten stellte und in Südvietnam ein Regime unterhielt, dessen Vizepräsident Nguyen Cao Ky sich offen zu seinem Vorbild Hitler bekannte, ist kein Antiamerikanismus. Vielmehr brachte die 68er-Bewegung große Fortschritte bei der Amerikanisierung der westdeutschen Kultur. Gruppen wie Bommi Baumanns »umherschweifende Haschrebellen« eigneten sich zwar einige Versatzstücke des Maoismus an, ähnelten aber eher den Yippies, der radikalen US-Jugendbewegung. In China wären sie während der »Kulturrevolution« umgehend wegen bourgeoiser Dekadenz erschossen worden. Puritanismus und Proletkult waren eine Erscheinung der siebziger Jahre, als die K-Gruppen Spielmannszüge aufmar­schieren ließen und ihren Mitgliedern zum Teil sogar untersagten, Rockmusik zu hören.

Führend in der Amerikanisierung waren die eher hedonistisch orientierten proletarischen und subproletarischen Gruppen. Auch die meisten Studenten hatten Probleme zu kapieren, was Dutschke und Krahl eigentlich meinten. Zum Glück war das aber auch gar nicht nötig, um sich an der Revolte zu beteiligen. Die Botschaften von MC5 oder »Easy Rider« verstand jeder.

Dass viele Studenten glaubten, die Proletarier bei der Hand nehmen und zur Revolution führen zu müssen, bedeutet nicht, dass diese darauf warteten. Im Oktober 1968 störten Lehrlinge die Freisprechungsfeier, die Zeugnisvergabe in der Hamburger Handelskammer, einen Monat später fand in Hamburg die erste Lehrlingsdemonstra­tion statt, wo am 1. Mai 1969 Willy Brandt und die versammelten Gewerkschaftsbürokraten entsetzt zur Kenntnis nehmen mussten, dass nicht die üblichen Verdächtigen, die Studenten, sondern Lehrlinge und junge Arbeiter ihre Reden stör­ten. Ihre Rebellion war nicht zuletzt ein Aufstand gegen die alte Garde des Proletariats, gegen prügelnde Meister und reaktionäre Vorarbeiter, die meist Gewerkschaftsmitglieder waren. Die Kontak­te zur Studentenbewegung knüpften sie, als sie eine eigene Politik bereits entwickelt hatten.

Auch die Frauen brauchten nicht allzu lange, um sich gegen spezifisch männliche Vorstellungen von sexueller Freiheit, den »sozialistischen Bums­zwang«, wie es der 1968 gegründete Weiberrat nannte, zu wehren, eigene Interessen zu formulieren und eigene Organisationsformen zu finden. Im September 1968 ahndete Sigrid Rüger die ignorante Reaktion Hans-Jürgen Krahls und anderer SDS-Größen auf die Rede Helke Sanders, die für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen sprach, mit einem Tomatenwurf.

Diese Entwicklungen, die Revolte innerhalb der Revolte und die Rebellion gegen die etablierten Vertreter der Arbeiterbewegung, gehören zu den interessantesten Aspekten der 68er-Bewegung. Sie lässt sich weder allein in den klassischen Kategorien des Klassenkampfs fassen, es handelte sich aber auch nicht um einen reinen »Kulturkampf« für mehr Sex, andere Drogen und bessere Musik.

Die Revolte hatte materielle Voraussetzungen, den Ausbau des Bildungssektors, die damit einhergehende beginnende Proletarisierung der Intellektuellen und den gewachsenen Wohlstand, der es Frauen und Jugendlichen erleichterte, selb­ständig zu leben. Entscheidend war jedoch der subjektive Faktor, andernfalls müsste derzeit die Revolte noch weit heftiger toben als 1968. Es ist schwer erklärlich, warum so viele Menschen damals so viel höhere Ansprüche an das Leben stell­ten. »Auf der Fahrt zu dieser Baustelle ist mir plötzlich klar geworden, das machst du jetzt 50 Jahre. Es gibt kein Entkommen«, schildert Baumann seinen Eintritt ins Arbeitsleben. Er wurde deshalb Haschrebell und Stadtguerillero, derzeit würden die meisten Jugendlichen einem Unternehmer, der ihnen eine 50jährige Anstellung verspricht, die Füße küssen.

Im Westen wird der alte christliche Obrigkeitsstaat nach einer Phase der Liberalität durch den neopuritanischen Kontrollstaat ersetzt. Warum gibt es kaum Ansätze einer Revolte gegen ein Ver­wertungsregime, das immer extremere Anpassung im Arbeitsleben verlangt und mehr und mehr in den Privatbereich eingreift? In autoritären Gesellschaften, insbesondere, aber nicht nur in der islamischen Welt, wäre eine nachholende 68er-Revolte dringend notwendig. Was erleichtert den Import zersetzender Ideen und subversiver Aktionsformen? Wie können im 21. Jahrhundert auf globaler Ebene Klassenkampf und gesellschaft­liche Emanzipation neu verknüpft werden? Als letzte Phase einer globalen Radikalisierung ist die Bewegung der sixties mit ihren bis in die achtziger Jahre wirkenden Folgen ein unerlässlicher Be­zugspunkt, und sei es, um zunächst einmal nur die richtigen Fragen zu stellen und zu erkennen, dass Rebellion möglich ist.