Einheimische Exoten

Sozialdemokraten erklären Klaus Zumwinkel zum »neuen Asozialen« und Liechtenstein zum »Schurkenstaat«. Dabei ist die SPD kein Feind der Großindustrie, sondern hält weiter an ihrer Lebenslüge fest, dass ein sozialer Betriebskapitalismus machbar sei. von felix klopotek

Verliert die SPD mit Klaus Zumwinkel einen »Hoff­nungsträger«? Das klingt zwar abwegig, ganz von der Hand zu weisen ist es aber nicht. Denn in der sozialdemokratischen Partei hegt man schon sehr lange große Sympathien für die Industrie. Volkswagen galt lange Zeit als de facto sozialdemokratisch geführter Betrieb, Wolfgang Clement ist Energielobbyist und Gerhard Schröder Zuarbeiter von Gazprom. Die große Industrie gilt der sozialdemokratischen Ideologie als beherrschbar, da sich die Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit dort am besten institutionalisieren und festigen lassen. Hier herrschen beste Voraussetzungen für einen korporatistischen Betriebsfrieden, denn dem mächtigen Kapital steht auf Augenhöhe eine gewerkschaftlich formierte Stammbelegschaft gegenüber. Für Sozialdemokraten, die einst vom »staatsmonopolistischen Kapitalismus« oder »organisierten Kapitalismus« redeten, war die Verflechtung von Kapital, Staat und Gewerkschaft bereits der Übergang zum Sozialismus. Diese Vorstellung reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück, als Sozialdemokraten in der reibungslosen Effizienz von Eisenbahn und Post ein Anzeichen der neuen Zeit erblickten.

Klaus Zumwinkel war so ein Industriekapitän sozialdemokratischen Zuschnitts. Ein bieder und seriös auftretender Manager, der mit der Einführung von Mindestlöhnen das Monopol der privatisierten Post gegenüber nationalen Konkurrenten abzusichern vermochte und sein Unternehmen international zu einem führenden Logistikkonzern ausbaute. Unter seiner Führung verschlechterten sich durch Outsourcing zwar die Arbeitsbedingungen vieler Angestellter, aber es gab es keine Massenentlassungen. Und der Erhalt von Arbeitsplätzen gilt Sozialdemokraten bekanntlich als der Gipfel arbeiterfreundlicher Politik. Zumwinkel hätte bei der nächsten Wahl des Bundespräsidenten der sozialdemokratische Gegenspieler Horst Köhlers sein können.

Gemessen an seinem Einsatz für den nationalen Standort ist das Ausmaß seiner Steuerhinterziehung nachgerade lächerlich. Der Mann war sich absolut sicher, mehr für sein Land zu tun als alle Steuerfahnder zusammen. Wieso also gerät jemand wie er derart in die Kritik, wo er doch den Laden zusammengehalten und vorangebracht hat? Das Geschrei der SPD, dass dieser Freund des Mindestlohns der »neue Asoziale« par exellence sei, kann man sich nur so erklären, dass die Genossen noch Großes mit ihm vorhatten. Die Enttäuschung sitzt tief.

So wie Zumwinkel dürften auch die Liechtensteiner über die Angriffe aus Deutschland irritiert sein. Lässt es sich doch nur schwer vorstellen, dass ein Land, das nicht einmal halb so groß wie Köln ist, durch sein Banken- und Stiftungswesen den sozialen Frieden Deutschlands bedroht. Das Drama Liechtensteins liegt in seiner formalen Souveränität. Es wäre ein Akt der Selbst­aufgabe, wenn der Fürst eingestehen würde, dass sein Land als Anbieter hoch verfeinerter Finanzprodukte nur ein Produkt anderer Nationen ist. Richard Murphy, Experte für Steuerflucht und Geldwäsche, erklärt im Interview mit der Zeit den Mechanismus: »Auch einige Staaten haben die Offshore-Finanzzentren für ihre Zwecke benutzt, das ist ein offenes Geheimnis. Die Franzosen haben darüber Ölgeschäfte unterstützt, die CIA hat verdeckte Operationen in Mittelamerika finanziert und vieles mehr. Die britische Regierung hat sogar vielen ihrer abhängigen Gebiete vorgeschlagen, Offshore-Finanzzentren einzurichten, als Einnahmequelle. Die Hälfte aller Steueroasen sind heute britische Hoheitsgebiete!« Es sei einzig eine Frage des politischen Willens, die Computer abzuschalten, »die diese Zentren mit unseren Finanzplätzen verbinden«.

Da also ist Liechtenstein, seit Jahr und Tag ein gehegter und gepflegter Parkplatz für die Milliarden des internationalen Establishments. Die 16 Banken verwalten derzeit 114 000 Kundendepots mit einem Gesamtvolumen von 161 Milliarden Schweizer Franken. Und auf einmal stehen die Liechtensteiner als Raubritter da, die mit den »Asozialen« Deutschlands verbotene Geschäfte machen.

Diese bizarre Verkehrung in der öffentlichen Wahrnehmung hat mit der Lebenslüge des »organisierten Kapitalismus« zu tun. Ihr liegt das Ideal eines sozialen Betriebskapitalismus zugrunde, die Vorstellung, dass man die Arbeiter durch Mitbestimmung, Betriebspatriotismus und Anerkennung ihrer Forderungen, sofern sie sich auf den Betrieb beschränken und keine politischen Flausen sind, zu besseren Leistungen motivieren könne. Diese Ideologie, dass Arbeiter und Unternehmer doch am gleichen Strang ziehen, besteht in ausgereifter Form seit etwa 100 Jahren. In Italien nannten sich die Nationalisten »Bourgeois der Arbeit«, in Amerika war es Henry Ford, der den Hass auf Spekulation und »schnelle Gewinne« pflegte, und in Deutschland wurde über seine Autobiographie Mitte der zwanziger Jahre von Sozialdemokraten lebhaft diskutiert.

Die verlogene Vorstellung des sozialen Betriebskapitalismus entspricht der verlogenen Unterscheidung von »schaffendem« und »raffendem Kapital«. Selbstverständlich war Ford auch schon vor 100 Jahren ein durchkapitalisiertes Unternehmen, und die »Bourgeois der Arbeit« waren wenig später jene Faschisten, die nicht zögerten, streikende Arbeiter zusammenzuschießen.

Die Frage, warum sich diese Betriebsideologie bis heute halten konnte, lässt sich auf die Schnelle nur damit beantworten, dass die Störfaktoren exterritorialisiert worden sind: Steuerparadiese sind per se exotisch und irgendwie weit weg. Das Verhalten von Zumwinkel ist, wenn man so will, ebenfalls exotisch: Wieso muss ein Mann, der bereits über einen märchenhaften Reichtum verfügt, auch noch Steuern hinterziehen? Das kann nur reine Exzentrik sein!

Sowohl »Liechtenstein« als auch »die Gier« Zumwinkels liegen jenseits der Mauern des Betriebs und jenseits des Paktes, den Sozialdemokraten und Monopolisten im gegenseitigen Interesse besiegelt haben. Dieser Betriebskapitalismus funktioniert ganz und gar symmetrisch. So wie das Kapital hin und wieder irritiert auf widerspenstige Arbeiter starrt, die sich dem Ordnungs­ruf ihrer Gewerkschaft nicht sofort unterwerfen, so zeigen »die da unten« völlig entsetzt auf Geldwäscher und Steuerflüchtlinge, die sich der Solidargemeinschaft entziehen. Beide Formen des Ausreißens, nach unten (der wilde Streik) wie nach oben (die wilde Spekulation), werden nicht geduldet. Sie gelten als Verfehlung, als gemeinschaftsfremd und betriebsschädigend.

Weder konnte Zumwinkel verhindern, dass das abhängige Liechtenstein zu einer quasidiabolischen Macht erklärt und damit dessen Parkplatzfunktion nicht mehr länger geduldet wird, noch kann die Linke aus der akuten Empörung politischen Gewinn schlagen. Es ist der Staat, der souverän gehandelt hat und dadurch den moralischen Maßstab vorgibt. Und das ganz nach Art eines Souveräns: Den Rechtsbruch, den die Weitergabe der DVD mit den Daten der Steuersünder vom Bundesnachrichtendienst an die Steuerfahndung möglicherweise darstellt, nimmt er entspannt in Kauf.

Es ist der Staat, der den Konsens des Betriebskapitalismus garantiert, und das bedeutet, dass der Druck, der jetzt auf das Establishment ausgeübt wird, auch nach unten weitergegeben wird. Steuerhinterziehung, die von der Mehrzahl der Deutschen praktiziert wird, ist kein Kavaliersdelikt. Frank Plasbergs rhetorische Frage »Sind wir nicht alle kleine Zumwinkels?« ist eine Warnung: Arbeiter, spart euch die Häme, euer Liechtenstein finden wir auch noch.