Wir sind alle kleine Sünderlein

Nach dem Liechtensteiner Steuerskandal wird der Verlust der Vorbildfunktion deutscher Manager beklagt. Doch an welchem Vorbild sollen sich die Manager eigentlich orientieren? von rainer trampert

Der Stoff taugt für einen neuen »James Bond«: Mister X bietet dem deutschen Geheimdienst brisantes Material über Schwarzgeld an. Er will fünf Millionen für die CD-Rom, sonst bekäme sie der Russe! »Pullach« beauftragt Agent 007. Er soll sich mit dem Datenräuber im Zimmer 317 des Genfer Hotels Beau Rivage treffen, ihn in der Badewanne ertränken und das Material vernichten, um Schaden von der deutschen Elite abzuwen­den, denn wenn sie ihre Vorbildfunktion einbüßte, könnte »der Casino-Kapitalismus den Sozialis­mus auferstehen« lassen (Stern). Es geht also um alles. Aber Mister X hinterlegte in weiser Vorahnung eine Kopie in einem Schließfach. Das ret­tete ihm das Leben. Ungewiss bleibt, ob er die Gangstersyndikate, die hinter seinem Geldkoffer her sind, überleben wird. Am Kamin grübelt Erbprinz Alois von und zu Liechtenstein, warum das, was 100 Jahre anstandslos über die Bühne gegangen ist, plötzlich falsch sein soll. Die CDU hatte zur Tarnung ihres Geldes in Liechtenstein sogar tote Juden aus Chile als Spender deklariert, und Helmut Kohl verweigert die Amtshilfe genau­so wie er. Doch der Fürst begreift: Seine feudale Existenz ist gefährdet, wenn der Datenklau Schule macht, und spricht von »einem Angriff auf mein Land«. Angela Merkel droht »bilaterale Abwehrmaßnahmen« an, wenn die Liechtensteiner weiter »zur Steuerflucht einladen«. Sie weiß aus dem Nibelungenlied, dass Siegfried ohne die ausgekochten Liechtensteiner nie zum Betrug fähig wäre.

Eine spannende Geschichte mit Fürsten, Raub, Verwicklungen, Siegfried und Mime, selbst Uwe Barschel ließe sich unterbringen. Jedenfalls ist sie nicht so langweilig wie die gleiche Geschichte in Großbritannien, wo es im Vorjahr 60 000 Selbst­anzeigen von Steuerbetrügern gab, ohne dass da­rüber viel Aufhebens gemacht wurde. Mag sein, dass unser Fall in Wahrheit auch nicht spannend ist. Die Schweiz und Liechtenstein sollen dem Schengen-Abkommen beitreten. Dann gäbe es zwischen Deutschland und den beiden Staaten keine Grenzkontrollen mehr. Deutschland macht nun – wie man hört – die Ratifizierung davon abhängig, dass die »Steueroase« sich Euro-Gepflo­genheiten unterwirft oder trockengelegt wird. Will man mit der Enthüllung demonstrieren: Wir können auch anders? Im Schatten der Affäre schieben Reiche nun ihr Geld nach Panama, Singapur oder wieder zurück nach Deutschland. Nur die Dümmsten brächten ihr Geld ins Ausland, meinte ein »Experte« bei »Kerner«. Jeder wisse, dass deutsche Finanzämter die Steuererklärungen der über 15 000 Einkommensmillionäre nur »durchwinken« würden.

Ob die Geschichte nun zu einem »James Bond« taugt oder nur schnöde Euro-Finanzpolitik ist, sie wird einem gründlich vergällt durch die sie be­gleitende Propaganda. Allen voran der pausenlose Vortrag, läppische Steuerbetrüger, die sich überhöhte Hotelrechnungen ausstellen lassen, Restaurant-Quittungen anderer Gäste einsammeln und im sabbernden Alter noch auf Firmenwagen pochen, seien unsere Vorbilder, sogar unsere Elite, wenngleich vorübergehend eine »Elite ohne Moral« (Stern), weil sie sich einen zu viel hinter die Binde gekippt hat. Halt! Elite könnte zu­treffen. Elite ist keine ethische, sondern eine so­ziologische Kategorie. Wer nach oben gekommen ist, gehört dazu. Doch zum Vorbild taugt sie auch dann nicht, wenn sie ihre Steuern korrekt abführt, weil der Weg nach oben hässlich macht. Sigmund Freud wies auf die »Anpassung des Triebapparates an die sozialökonomische Situation« hin. Karl Marx sprach von den »ökonomischen Charaktermasken« als »Personifikation der ökonomischen Verhältnisse« und über die »Sisyphusarbeit« des »Schatzbildners«, der »dem Goldfetisch seine Flei­scheslust« opfere. Wer will das schon?

Man mag darüber streiten, ob es gelingen kann, die Charaktermaske in der Berufssphäre aufzusetzen und außerhalb wieder abzustreifen; die Manager können das nicht. Bei ihnen sind die Charaktermaske und das, was darunter ist, miteinander verschmolzen. Ihre Würde berechnet sich nach der Kapitalmasse, über die sie verfügen, und ihr Vergnügen ist ebenso verdinglicht. Klaus Zumwinkel gönnte sich vom Geld aus dem Verkauf seines Erbes, Anteile des Handelsimperiums Rewe, eine Ritterburg am Gardasee. Nach jahrelanger Renovierung ließ er zur Eröffnung den örtlichen Bergsteigerchor »La Montanara« singen. Im Übrigen liebt er sein Bundesverdienstkreuz und Bambi-Verleihungen.

Dass die herrschende Klasse sich aus dem von den Massen geschaffenen Wert ohne Unrechtsbewusstsein bedient, rührt von ihrer Macht und der gelebten Straffreiheit her. Ihnen droht grund­sätzlich kein Gefängnis. Dafür soll die Strafe für Steuerbetrug nominell um fünf auf 15 Jahre Gefängnis angehoben werden. Hier gilt die Politik des reziproken Wertes. Bei einem Strafmaß von 30 Jahren kann man sicher sein, dass gar nicht mehr ermittelt wird. Wie beim Klimaschutz. In dem Maße, wie die Emissionen steigen, verkürzt sich die Zeit, in der sie halbiert werden sollen. Dass VW-Betriebsrat Klaus Volkert wegen »Anstif­tung zur Untreue« fast drei Jahre hinter Gitter soll, liegt nicht an der Klassenjustiz. Er wird für seine Lustreisen bestraft. Hätte er die drei Mil­lionen, die er verbrauste, unter adäquatem Triebverzicht in Liechtenstein verdoppelt, wäre er davongekommen. Wie im Gleichnis mit den fünf Talern im Matthäus-Evangelium. Der Herr sagte zum Knecht, der die Taler verdoppelt hatte: »Du tüchtiger und treuer Knecht.« Den anderen, der ihm brav dieselbe Summe zurückgab, nannte er böse und faul. Er hätte zu den Wechslern gehen sollen, dann, so Gott: »hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen«.

Genauso abschreckend ist die spezifische Verblö­dung, die mit der Karriere synchron läuft. Nach Meinung von Tony Blair gipfelt sie in dem Katechismus: »Wir wollen nicht klüger sein als der Markt!« Also verkaufen und kaufen! Dieselbe Regression widerfährt der wissenschaftlichen Elite – nicht nur Professor Sinn, der neben »Lohn­senkung« nichts mehr denken kann. Der Leiter der bayerischen Eliteakademie, Dieter Frey, resümierte: »Den Betrug haben die Menschen im Blut. Da sind die Armen um keinen Deut besser als die Reichen.« Aber »für Menschen, die an den Erfolg gewöhnt sind«, sei »es aus psychologischer Sicht besonders hart«, Steuern zu zahlen. In der Fernsehsendung »Hart aber fair« mit dem Titel »Die Elite verrät das Volk! – Ruiniert die Gier unsere Gesellschaft?« durften zuerst Ethiker wie Ulrich Wickert darüber jammern, dass ein Teil der Elite sich ihrer Vorbildfunktion durch Gier entledige, dann rechnete Frank Plasberg vor, dass die Armen den Staat um 15 Milliarden, die Reichen ihn aber nur um 12 Milliarden betrügen würden, und so fragte er sich: »Sind wir nicht alle kleine Zumwinkels?« Auf demselben philosophischen Niveau sang Willy Millowitsch zu Lebzeiten: »Wir sind alle kleine Sünderlein, ’s war immer so!«

Die Gleichsetzung aller Schwarzgelder ist das wirk­liche Verbrechen. Was haben Millionendepots und Ritterburgen mit der Not vieler Menschen zu tun, die ohne ein paar Euro aus der Schwarz­arbeit, ohne Diebstähle, Familienhilfen oder Sup­penküchen nicht über die Runden kämen? An dieser Stelle ist das Verhalten der SPD, die gegen die »neuen Asozialen« wettert, verdächtig. Die Sozialdemokratie hatte – als Relikt des kantisch-preußischen Imperativs, der den Karnevalisten der CDU, CSU und FDP bisweilen abgeht – die Reichen um 30 Milliarden im Jahr bereichert, den Armen aber soziale Versorgungen genommen und in deren Wohnzimmern nach Rasierpinseln, Bett­mulden und Wäsche wühlen lassen, wie es die Stasi gemacht haben soll. Während die Grünen sich von der Steuerersparnis eine Solaranlage zu­legen, muss die SPD wegen ihrer Konkurrenz zur Linken darauf hoffen, dass die Reichen ihr die Zuwendung irgendwie danken. Aber das tun die nicht, und selbst wenn sie ihre Steuern pünktlich zahlen würden, bekämen Arme nichts. Der usbekische Diktator wurde hierzulande medizinisch versorgt, aber arme Familien bekamen zu Weihnachten keine zwei Euro, obwohl die Steuereinnahmen um 25 Milliarden gestiegen waren.

Natürlich fehlt in der Propaganda nicht die Ansicht, dass früher alles besser war. Bei »Kerner« machte der »Geheimdienst-Experte« Dagobert Lindlau treuherzig die »Demokratie« für die Gier verantwortlich, weil sie alle gleich mache und in ihr die Geldvermehrung »der einzige Wettbewerb« sei, »um sich auszuzeichnen«. Vielleicht gibt es in Diktaturen mehr unentgeltliche Ehrungen. Heinrich Himmler sagte zu den Soldaten der Waffen-SS: »Ihr wisst, was es heißt, wenn 1 000 Leichen beisammen liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein, ist ein Ruhmesblatt für Deutschland.« Diese Auszeichnung unterscheidet sich offensichtlich von der Geldvermehrung. Aber in der Kategorie »früher war alles besser« glauben die meisten – so wie Professor Dr. Hans Ruh, ein Sozialethiker der Universität Zürich – daran, dass Manager vor der Globalisierung noch einen besseren Charakter hatten. Aus diesem Grund habe die Symbiose aus »ökonomischem Nutzen und Moral bis vor 15 Jahren noch funktioniert«.

Für die Antithese berufe ich mich auf meinen Lieblingsunternehmer Edzard Reuter – wegen sei­ner freimütigen Autobiografie »Schein und Wirklichkeit«. Er war gerade Chef bei Daimler, als plötz­lich die Wiedervereinigung geschah. Edzard be­orderte sofort alle Spitzenmanager »zu einem Wo­chenendausflug nach Dresden«, damit sie »den anderen Teil des Vaterlandes kennen lernen«. Als er jedoch im patriotischen Überschwang das Deutschland-Lied blasen ließ, drohten »Alkohol und Partygeschwätz die Würde des Anlasses in den Hintergrund zu drängen … es bedurfte meines mehr als energischen und von einigem erstaunten Geraune begleiteten Eingreifens, um sicherzustellen, dass die Nationalhymne, das Deutschlandlied, Gehör finden konnte, um die ich den Trompeter gebeten hatte«. Wie haltlos war die Elite doch vor der Globalisierung!